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Mut und Liebe 422022 Wurzeln

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco). Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort. weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift ihrer Großmutter.

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco).
Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort.
weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus
Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift
ihrer Großmutter.

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MUT&LIEBE / THEMA /<br />

Scopa.Arrival City.<br />

Samstags trafen sich bei uns im Keller die italienischen<br />

Fre<strong>und</strong>e meines Vaters zum Scopa, ein Mix<br />

aus Spieleabend, politischem Salon <strong>und</strong> konspirativem<br />

Treff. Nicht selten tauchten neue Gesichter aus<br />

den Heimatdörfern auf. Irgendwann saßen auch die<br />

Töchter meines Onkels Policarpo in der Küche, um<br />

hier Arbeit zu finden. Mein Vater versuchte dann,<br />

Wohnung <strong>und</strong> Arbeit zu beschaffen. Einige brachte<br />

er bei der DB unter, andere wohnten eine Zeit lang<br />

bei uns in der Garage oder im Keller. Uns Kindern<br />

gefiel dieses Wimmelbild. Heute bew<strong>und</strong>ere ich diese<br />

Willkommenskultur. Goddelau war schon früh eine Art<br />

Arrival City mit italo-polnisch-jugoslawischen Netzwerken<br />

<strong>und</strong> viel Gründermut. Unsere Eltern haben<br />

uns davon einiges mitgegeben. Meine Geschwister<br />

<strong>und</strong> ich sind heute alle irgendwo sozialpolitisch aktiv.<br />

Konnten durch Bildung da ankommen, wo mein Vater<br />

<strong>und</strong> seine Kumpels gerne aktiver partizipiert hätten.<br />

Selbstversorger.<br />

Lottospielen.<br />

Meine Eltern schafften es, über eine Genossenschaft<br />

ein Haus zu bauen. Davor ziehe ich heute noch den<br />

Hut. Wer ein Haus baut, will bleiben. Unser Zuhause<br />

grenzte an offene Felder <strong>und</strong> Wiesen. Im Frühjahr<br />

<strong>und</strong> Herbst ging ich mit meinem Vater wilden Rucola<br />

für uns <strong>und</strong> Löwenzahn für die Hasen sammeln.<br />

Ich liebte diese grüne Schatzsuche. Auch das verband<br />

uns mit den anderen Gastarbeitern. Wir hielten<br />

Hühner, Enten <strong>und</strong> Hasen, es gab keinen Zentimeter,<br />

auf dem nicht Gemüse, Obst oder Weinreben angebaut<br />

wurden. Bei uns war oft mehr los als auf einer<br />

Jugendfreizeit. Nachbarskinder kamen gern zu uns,<br />

weil es einen Tick regelfreier zuging, wir rumtollen<br />

oder gegen das Garagentor ballern durften. Weil die<br />

frischgeschlüpften Küken warm durch unsere Hände<br />

wanderten, sich am Fischteich Schildkröten sonnten<br />

<strong>und</strong> es immer was zu essen gab. Wir selbst wurden<br />

von anderen Eltern oder Lehrern kritisch begutachtet,<br />

tendenziell als Problemfall oder Richtung Sonderschule<br />

eingeteilt. Auch dass wir sechs Kinder waren,<br />

war für einige „assi“. Unsere Eltern gaben uns hingegen<br />

das Gefühl, genau die Richtigen zu sein. Sie<br />

sagten Sachen wie: Wir brauchen kein Lotto zu spielen,<br />

wir haben schon 6 Richtige. Das zählte mehr.<br />

Letzte Reise<br />

Als mein Vater starb, kamen nicht nur seine Geschwister<br />

aus Italien, auch viele Weggefährten, Menschen,<br />

die ihn mochten, denen er mal auf dem Bau<br />

geholfen, die er bei der Bahn untergebracht, denen<br />

er das Auto geliehen hatte. Der gesamte Eisenbahnerchor<br />

kam in einem Bus angereist <strong>und</strong> sang am<br />

Grab. Beim Kondolieren nannten einige ihn Domenico,<br />

Mimmi oder Mimmo, andere Dominik oder Herrn<br />

Tedesco. Ein jugoslawischer Bekannter fragte, ob er<br />

unseren alten Betonmischer zurückbringen solle.<br />

Meine <strong>Mut</strong>ter <strong>und</strong> ich entschieden, dass er ihn behalten<br />

konnte. Er baute grade an seiner Garage an.<br />

(Der Artikel ist zuerst am 30.10.2021 in der<br />

Frankfurter R<strong>und</strong>schau erschienen.)<br />

ida todisco studierte Germanistik, Pädagogik <strong>und</strong><br />

Italianistik in Frankfurt am Main <strong>und</strong> Italien. Seit 16 Jahren<br />

lebt sie mit ihrer Familie in Offenbach. Ihre <strong>Liebe</strong> zur Stadt<br />

hat sie in zwei Bücher gepackt: „Offenbach, <strong>Liebe</strong> auf den<br />

zweiten Blick“ <strong>und</strong> „Offenbacher Nachtstücke“. Als freie<br />

Autorin schreibt sie Erzählungen, Porträts <strong>und</strong> Romane.<br />

Daneben ist sie im Bereich Ausbildung <strong>und</strong> Integration in<br />

Offenbach tätig, engagiert sich sozialpolitisch <strong>und</strong> organisiert<br />

Kulturveranstaltungen.<br />

MÄRZ / APRIL / MAI 2022<br />

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