Seltene Erkrankungen
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EINE UNABHÄNGIGE KAMPAGNE VON MEDIAPLANET<br />
Lesen Sie mehr auf www.seltenekrankheiten.de<br />
SELTENE Die Waisen der Medizin<br />
ERKRANKUNGEN<br />
„Ich war dem<br />
Tod näher<br />
als dem Leben“<br />
Dimitra leidet bereits seit ihrer Kindheit<br />
an eosinophiler Granulomatose<br />
mit Polyangiitis (EGPA).<br />
NICHT VERPASSEN:<br />
Amyloidose Wie die<br />
Multisystemerkrankung erkannt<br />
und therapiert werden kann<br />
Seite 8<br />
Hämophilie Wie Therapietreue<br />
bei Kindern und Jugendlichen<br />
gelingen kann<br />
Seite 12<br />
Pulmonale arterielle<br />
Hypertonie Prof. Hanno<br />
Leuchte über Risikogruppen<br />
und Behandlungsoptionen<br />
Seite 16
2 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
VERANTWORTLICH FÜR DEN<br />
INHALT IN DIESER AUSGABE<br />
Miriam Hähnel<br />
Die Forschung im<br />
Bereich der seltenen<br />
<strong>Erkrankungen</strong><br />
schreitet voran.<br />
Trotzdem ist noch viel<br />
zu tun: damit immer<br />
mehr Betroffene von<br />
einer individuellen<br />
Behandlung profitieren<br />
können.<br />
IN DIESER AUSGABE<br />
06<br />
Beta-Thalassämie<br />
Nicola De Nittis über sein langes<br />
Doppelleben mit der Erkrankung und den<br />
Mut, Klartext zu reden.<br />
Online<br />
Die Genmutation SCN8A<br />
Eine unter 400 – Unser Kind leidet an<br />
der seltenen Erkrankung de Novo. Eine<br />
Mutter im Interview.<br />
Industry Manager Health: Miriam Hähnel<br />
Geschäftsführung: Richard Båge (CEO), Philipp Colaço<br />
(Managing Director), Franziska Manske (Head of Editorial &<br />
Production), Henriette Schröder (Sales Director) Designer:<br />
Elias Karberg Mediaplanet-Kontakt: redaktion.de@<br />
mediaplanet.com Coverbild: Privat<br />
Artikel, die mit mit Unterstützung gekennzeichnet<br />
sind,sind keine neutrale Mediaplanet-Redaktion.<br />
facebook.com/<br />
MediaplanetStories<br />
@Mediaplanet_germany<br />
Please recycle<br />
Lisa Biehl<br />
Leiterin der ACHSE<br />
Selbsthilfegemeinschaft<br />
Wenn Kinder mit<br />
seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />
älter werden<br />
Es gibt etwa 8.000 <strong>Seltene</strong> <strong>Erkrankungen</strong>. Darunter sind Autoimmunerkrankungen,<br />
Knochen-, Augen- und Muskelerkrankungen oder neurologische<br />
<strong>Erkrankungen</strong>. Mal fehlt ein Enzym oder ein Botenstoff, dann<br />
werden Fette oder Zucker nicht abtransportiert, reichern sich in verschiedenen<br />
Organen an und zerstören sie. Die Krankheitsbilder und Ausprägungen<br />
sind so vielfältig und komplex wie die Ursachen.<br />
80%<br />
der <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> sind genetisch<br />
bedingt, treten oft schon früh auf und betreffen<br />
somit vor allem Kinder, die zu Hause<br />
umsorgt werden, oftmals mit umfassendem<br />
pflegerischem Aufwand. Es wird Schleim<br />
aus den Lungen gesaugt, Kanülen werden<br />
gewechselt, Medikamente verabreicht, es<br />
wird getragen, gelagert und gestützt. Um die<br />
medizinische Versorgung kümmert sich die<br />
Pädiatrie. Doch aus Kindern werden Jugendliche<br />
und Erwachsene, die weiterhin<br />
ihr Leben lang auf Unterstützung angewiesen<br />
sind: Wie steht es aber um die medizinische<br />
Versorgung chronisch kranker<br />
Menschen, die mit dem 18. Lebensjahr aus<br />
der pädiatrischen Versorgung herausfallen?<br />
Wie können sie in einer Erwachsenenmedizin<br />
behandelt werden, die auf sie nicht eingestellt<br />
ist und weder Kapazitäten noch<br />
Fachkenntnisse hat?<br />
In der ACHSE sind über 130 Selbsthilfeorganisationen<br />
vereint. Hier wird Wissen ausgetauscht<br />
und gebündelt. Viele Themen<br />
überschneiden sich krankheitsübergreifend.<br />
Diese packen wir gemeinsam an. Der<br />
Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenmedizin<br />
ist so ein Thema, das viele Eltern<br />
und Betroffene in der ACHSE bewegt.<br />
Deshalb haben wir eine Arbeitsgruppe<br />
V<br />
iele Menschen wissen nicht, was<br />
es bedeutet, mit einer <strong>Seltene</strong>n<br />
Erkrankung zu leben. Das möchte<br />
die Allianz der Chronischen<br />
<strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> (ACHSE) e.V. ändern.<br />
Der Anstoß für die Aktion „Selten allein“ kam<br />
von den universitären Zentren für <strong>Seltene</strong><br />
<strong>Erkrankungen</strong>. Verantwortlich für die Koordinierung<br />
sind der Verband der Universitätsklinika<br />
Deutschlands e.V. sowie die ACHSE e.V.<br />
als Dachorganisation von rund 130 Patientenorganisationen.<br />
Gastgeber und Unterstützer<br />
vor Ort sind die Einkaufsbahnhöfe.<br />
Die Kunstaktion "Selten allein"<br />
...zeigt 20 Selbstporträts, die Menschen<br />
mit <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> in den letzten<br />
Monaten gemalt, gezeichnet oder fotografiert<br />
haben. Diese Bilder sind zusammen mit einer<br />
kurzen Selbstauskunft zur Person und deren<br />
Erkrankung in ausgewählten Einkaufsbahnhöfen<br />
und Uniklinika in Deutschland zu<br />
sehen. Auf diese Weise machen Betroffene<br />
am 28. Februar 2022 auf den 15. weltweiten<br />
Transition gebildet. Damit wollen wir nicht<br />
nur den Finger in die Wunde legen, sondern<br />
die Bedarfe analysieren und gemeinsam<br />
Lösungen erarbeiten. Zugleich werden wir<br />
das Thema an die Politik adressieren. Wir<br />
wollen die allgemeine medizinische Versorgungssituation<br />
betrachten. Dabei gibt es<br />
eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten<br />
und Mängeln aufzudecken, die schon auf<br />
anderen Ebenen häufig adressiert wurden:<br />
Es fehlt an gebündelter Expertise, qualifizierten<br />
Fachkräften und Strukturen. Darunter<br />
leiden nicht nur chronisch kranke Menschen,<br />
diese jedoch besonders. Als Netzwerk<br />
und Dachverband von und für die Waisen<br />
der Medizin sind wir es gewohnt, dicke Bretter<br />
zu bohren und steinige Wege zu beschreiten.<br />
Wie können Sie helfen? Am 28. Februar ist<br />
Rare Disease Day. Betroffene Menschen und<br />
ihre Angehörigen machen weltweit auf <strong>Seltene</strong><br />
<strong>Erkrankungen</strong> aufmerksam. Sie rücken<br />
ihre Anliegen in den Fokus der Öffentlichkeit.<br />
Denn Menschen mit <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong><br />
benötigen Aufmerksamkeit, damit<br />
ihre Bedarfe vernommen werden – in Politik,<br />
Gesellschaft, Forschung, Medizin und<br />
Wissenschaft. Unterstützen Sie die vielfältigen<br />
Aktionen in den Sozialen Medien.<br />
Schauen Sie sich um: Auch in diesem Jahr<br />
erstrahlt die weltweite Lichterkette aus angeleuchteten<br />
Gebäuden in Pink, Grün, Lila<br />
und Blau. Vielleicht ja auch in Ihrer Nähe!<br />
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen<br />
Lisa Biehl<br />
Kunstaktion „Selten allein“<br />
– Ausstellung zum Tag der <strong>Seltene</strong>n<br />
<strong>Erkrankungen</strong> 2022<br />
Tag der <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> aufmerksam.<br />
Ausstellungsorte bundesweit<br />
In folgenden Einkaufsbahnhöfen wird die<br />
Ausstellung "Selten allein" ab 18. Februar 2022<br />
zwei Wochen lang gezeigt:<br />
Bahnhof Zoologischer Garten, Berlin<br />
Bahnhof Friedrichstraße, Berlin<br />
Hauptbahnhof Dresden<br />
Bahnhof Neustadt, Dresden<br />
Bahnhof Halle an der Saale<br />
Bahnhof Freiburg<br />
Bahnhof Heidelberg<br />
Bahnhof Tübingen<br />
Bahnhof Mainz<br />
Bahnhof Mannheim<br />
Vernetzung und Informationen online<br />
Die Website www.seltenallein.de zeigt nicht<br />
nur die Bilder der Ausstellung und weitere<br />
Kunstwerke von Betroffenen, sondern bietet<br />
Informationen zu <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong><br />
und eröffnet den direkt oder indirekt Betroffenen<br />
die Gelegenheit, sich zu vernetzen.
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
3<br />
Wenn durch medizinischen<br />
Fortschritt Licht ins<br />
Dunkel kommt<br />
Unter erblichen Netzhauterkrankungen<br />
wird eine Vielzahl seltener Augenkrankheiten<br />
zusammengefasst, bei denen<br />
die Funktion der Sinneszellen in der<br />
Netzhaut aufgrund genetischer Veränderungen<br />
gestört ist. Die Schwestern<br />
Vildana (V) und Emina (E) sind beide<br />
betroffen von Retinitis pigmentosa. Sie<br />
sprachen mit uns über ihren Weg bis zur<br />
Diagnose und über neue Hoffnung durch<br />
innovative Therapiemöglichkeiten.<br />
Text Miriam Barbara Rauh<br />
FOTO: SHUTTERSTOCK<br />
Vildana und Emina, Sie haben beide die Diagnose<br />
Retinitis pigmentosa erhalten.<br />
Wann traten die ersten Beschwerden bei<br />
Ihnen auf und wann wurde jeweils die Diagnose<br />
gestellt?<br />
V: Wir haben die Diagnosen ca. 2002 bekommen.<br />
Da war ich sieben und meine Schwester<br />
war vier oder fünf Jahre alt. Das erste Anzeichen,<br />
das wir beide bemerkten, war Nachtblindheit.<br />
Das trat auch etwa zu dieser Zeit auf.<br />
Bei der Retinitis pigmentosa sterben<br />
schrittweise Netzhautzellen ab, was die<br />
Sehfähigkeit zunehmend beeinträchtigt.<br />
Können Sie uns etwas mehr erzählen<br />
über Ihren Alltag mit Ihrer<br />
Erkrankung?<br />
E: Zunächst habe ich nur nachts einen<br />
Blindenstock gebraucht. Dass ich eine<br />
zunehmende Verschlechterung der Sehfähigkeit<br />
bemerkt habe, hat bei mir im Alter<br />
von 13 Jahren angefangen.<br />
V: Ich habe schon in der ersten Klasse<br />
starke Vergrößerungen gebraucht, um<br />
lesen zu können. Das hat sich im Laufe der<br />
Schulzeit verschlechtert, 2019 wurde es<br />
noch einmal deutlich schlimmer. Schrift<br />
kann ich seitdem nicht mehr ohne Hilfsmittel<br />
lesen. Die Nachtblindheit ist bei mir<br />
konstant, da hat sich auch nichts verbessert.<br />
Die Retinitis pigmentosa ist genetisch<br />
bedingt. Gab es in Ihrer Familie bereits<br />
vor Ihnen bestätigte Fälle oder Familienangehörige,<br />
die entsprechende<br />
Symptome gezeigt haben?<br />
V: Unsere Mutter und unser Vater haben<br />
beide den gleichen Gendefekt, und wir<br />
Geschwister, also meine Schwester, unser<br />
Bruder und ich, sind ebenfalls alle betroffen.<br />
Unsere Eltern haben, seit ich denken<br />
kann, sehr schlecht gesehen, wenn es dunkel<br />
wurde. Sie gingen dann nicht aus dem<br />
Haus. Im Laufe der Jahre hat sich das weiter<br />
verschlechtert. Unser Vater, der jetzt<br />
Anfang 50 ist, kann außer hell, dunkel<br />
oder Umrissen fast nichts mehr sehen.<br />
Davor konnte er sehr gut Fahrrad fahren<br />
und auch lesen, das ist jetzt nicht mehr<br />
möglich. Die Erkrankung ist sehr selten<br />
und unsere Eltern sind nicht miteinander<br />
verwandt. Es ist fast ein kosmischer<br />
Scherz, dass die beiden sich getroffen<br />
haben. Unsere Eltern wussten zwar, dass sie<br />
beide eine Augenerkrankung haben, aber<br />
nicht, welche es ist. Erst gegen 2002, als wir<br />
nach Tübingen kamen und sie an der Augenklinik<br />
untersucht wurden, wurde bei<br />
ihnen die Diagnose gestellt. Daraufhin wurden<br />
dann auch wir Kinder untersucht und<br />
diagnostiziert.<br />
Bis 2018 gab es keine zugelassene Therapie<br />
gegen Ihre Erkrankung. Was waren<br />
Ihre ersten Gedanken, als Sie erfuhren,<br />
dass Ihnen nun vielleicht mittels einer<br />
Gentherapie geholfen werden kann?<br />
E: Das war sehr aufregend! Wir wussten<br />
schon länger, dass an einer Therapie geforscht<br />
wird, und mussten im Vorfeld viele<br />
Tests machen, um zu sehen, ob wir geeignet<br />
sind. Als wir dann im Herbst 2019 das<br />
OK bekamen und die Therapie in Deutsch-<br />
land zugelassen wurde, habe ich mich sehr<br />
gefreut.<br />
Wie sieht Ihr Alltag nun nach erfolgter<br />
Behandlung aus?<br />
E: Nach der Therapie habe ich viel besser<br />
gesehen, auch nachts. Normalerweise brauche<br />
ich jetzt keinen Blindenstock mehr.<br />
Auch brauche ich nicht mehr so viel Licht,<br />
zum Beispiel beim Lesen.<br />
V: Bei mir war von vornherein klar, dass<br />
es nicht so große Veränderungen geben<br />
wird wie bei meiner Schwester. Die Grundvoraussetzung<br />
der vorhandenen Zellen<br />
ist unterschiedlich. Konkret verändert hat<br />
sich, dass ich viel besser Lichter sehen kann<br />
und Lichtquellen schneller identifizieren<br />
kann. Es ist ein großer Fortschritt, dass es<br />
diese Therapie gibt. Wer betroffen ist, sollte<br />
jedenfalls keine Angst vor der Behandlung<br />
haben und die Therapie in Anspruch nehmen.<br />
Vor allem wenn man jünger ist, ist<br />
sie wirklich eine gute Möglichkeit, die Lebensqualität<br />
zu erhalten.<br />
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Novartis Pharma GmbH entstanden.<br />
Der Gentest:<br />
Ein wichtiger Meilenstein bei der Diagnose<br />
von erblichen Netzhauterkrankungen<br />
In Deutschland sind Schätzungen zufolge insgesamt<br />
rund 75.000 Menschen von einer erblichen<br />
Netzhauterkrankung betroffen. [1] Sie<br />
treten häufig bereits bei Säuglingen und<br />
Kleinkindern auf, weshalb besonders (Groß-)Eltern<br />
auf Symptome, wie z.B. Nachtblindheit oder<br />
Verlust der Lichtempfindlichkeit bzw. Sehschärfe<br />
achten sollten. Weil diese Symptome unterschiedliche<br />
Ursachen haben können, ist eine genetische<br />
Testung für die gesicherte Diagnose<br />
einer erblichen Netzhauterkrankung unabdingbar.<br />
Ein Gentest: Der Weg zur Diagnose<br />
Mit einem Gentest kann mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
festgestellt werden, ob es bei einem Patienten<br />
genetische Veränderungen gibt. Ein<br />
Gentest umfasst die Untersuchung der DNA mittels<br />
Blut- oder Speichelprobe: So analysieren Humangenetiker<br />
die Ergebnisse und suchen nach<br />
Veränderungen (Mutationen). Liegt eine genetische<br />
Veränderung vor, lassen sich Rückschlüsse<br />
darauf ziehen, wie die Netzhauterkrankung in der<br />
Familie vererbt wird und wie der Verlauf der Erkrankung<br />
höchstwahrscheinlich verlaufen wird.<br />
Mithilfe der Gentestung kann zudem herausgefunden<br />
werden, ob der Patient gegebenenfalls für<br />
eine Therapie infrage kommt oder an einer klinischen<br />
Studie teilnehmen könnte. Sobald die Analyse<br />
vorliegt, sollten Betroffene oder ihre Eltern<br />
eine humangenetische Beratung zur Erläuterung<br />
der Ergebnisse in Anspruch nehmen.<br />
Wissenswertes rund um den Gentest<br />
■ Bei Verdacht auf eine erbliche Netzhauterkrankung<br />
wird in Abhängigkeit vom klinischen Erscheinungsbild<br />
und dem aufgrund der Stammbaumanalyse anzunehmenden<br />
Erbgang ein gewisses Panel (Gruppe)<br />
infrage kommender Gene ausgewählt.<br />
■ Gentestung bei Hinweis auf eine seltene Erkrankung<br />
ist eine Kassenleistung und kann von jedem<br />
Arzt bei jedem Patienten mit einem Überweisungsschein<br />
nach Muster 10 veranlasst werden.<br />
■ Während Privatpatienten eine Kostenübernahmebestätigung<br />
benötigen, ist ein solcher Antrag bei gesetzlich<br />
Versicherten nicht notwendig.<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.erbliche-netzhauterkrankungen.de<br />
[1]<br />
Hanany<br />
M, Rivolta C,<br />
Sharon D.<br />
Worldwide carrier<br />
frequency<br />
and genetic<br />
prevalence<br />
of autosomal<br />
recessive<br />
inherited retinal<br />
diseases.<br />
PNAS 2020;<br />
117(5) 2710-<br />
2716.
4 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
„Was bleibt, ist die Hoffnung“<br />
Die seltene erbliche Augenkrankheit Lebersche hereditäre Optikusneuropathie<br />
(LHON) soll Studien zufolge erstmals ursächlich behandelt werden können.<br />
Welche Hoffnungen damit geweckt werden und wie der Alltag mit LHON<br />
ist, darüber spricht Ines.<br />
B<br />
ei der Krankheit LHON handelt es sich um eine<br />
seltene Erbkrankheit, die immer von der Mutter<br />
übertragen wird. Bei meinem Sohn Lars brach die<br />
Krankheit aus und wir erfuhren durch die Diagnosestellung<br />
zum erstem Mal davon, dass unsere Familie von<br />
LHON betroffen ist. Ob vielleicht auch weitere Mitglieder<br />
unserer Familie betroffen waren oder sind, wissen wir nicht.<br />
Die Angst ist groß, dass auch noch sein Bruder und ich<br />
erkranken.<br />
Mein Sohn Lars (20) stand voll im Leben, absolvierte seine<br />
Ausbildung, fuhr leidenschaftlich gern Auto und genoss<br />
seine neue Freiheit als junger Erwachsener in vollen Zügen.<br />
Im September 2020 kam er nach Hause und erzählte von<br />
Sehproblemen. Auf dem einen Auge konnte er plötzlich<br />
nicht mehr richtig sehen. Das Sichtfeld war zu diesem Zeitpunkt<br />
bereits stark beeinträchtigt. Dieser Prozess geschah<br />
vollkommen schmerzfrei. Wir dachten uns alle nichts<br />
dabei, haben aber dennoch einen Termin beim Augenarzt<br />
gemacht, der am 1. Oktober stattfand. Als Lars danach nach<br />
Hause kam, war er ganz durcheinander, weil der Arzt ihm<br />
nahegelegt hatte, sofort in die Uniklinik zu gehen. Das<br />
haben wir dann auch getan. Ich bin immer noch davon ausgegangen,<br />
dass Lars vielleicht eine Brille braucht, war voller<br />
Optimismus. Als er dann auf der Neurologie aufgenommen<br />
wurde, schwand dieser schon ein bisschen – Verdachtsdiagnosen<br />
von MS bis hin zu Hirntumor standen im Raum.<br />
Es wurden dann sehr viele Untersuchungen gemacht. Nach<br />
einigen Tagen auf der Station verlor er sein Augenlicht fast<br />
komplett und war quasi von heute auf morgen stark<br />
auf Hilfe angewiesen, sein Sehvermögen hat sich stark<br />
verschlechtert. Das war eine sehr schwierige Zeit für ihn.<br />
Meinen Sohn so verzweifelt zu sehen, brach mir fast das<br />
Herz. Am 12. Oktober wurde er fast blind entlassen. LHON<br />
stand schon als Verdacht auf dem Arztbrief. Nach weiteren<br />
ambulanten Untersuchungen wurde die Diagnose dann<br />
auch gestellt, Lars bekam ein Medikament. Ich setzte mich<br />
kurz darauf mit PRO RETINA und Experten aus dem Bereich<br />
in Kontakt und baute mir ein Netzwerk aus Freunden<br />
und Experten auf. So kam Lars auch zum LMU Klinikum<br />
München (Friedrich-Baur-Institut an der Neurologischen<br />
Klinik und Augenklinik), und als der humangenetische<br />
Befund feststand, bekamen wir zeitnah einen Termin bei<br />
der LMU. Dort, am 15.01.21, erfuhren wir auch das erste Mal<br />
von der neuen Möglichkeit der Gentherapie. Lars entschied<br />
Das Leben sehend<br />
erleben dürfen.<br />
sich sofort, an der Therapie teilzunehmen. Doch durch<br />
Corona verzögert sich die Zulassung bis heute. Ich kämpfte<br />
wie eine Löwin, um Lars diese Therapie zu ermöglichen. Ich<br />
schrieb Krankenhäuser überall auf der Welt, in England, der<br />
Schweiz, in den USA, Paris, und auch das Uniklinikum Bonn<br />
an, um herauszufinden, ob die Therapie dort bereits zugelassen<br />
ist. Leider ohne Erfolg. Lars hofft jeden Tag auf den<br />
Anruf, dass es losgehen kann. Es ist seine größte Hoffnung<br />
auf ein wieder sehendes uneingeschränktes Leben.<br />
Ich kämpfe, wie auch oben bereits gesagt, wie eine<br />
Löwin, um Hilfe für Lars zu erhalten. Erst jetzt weiß ich,<br />
welche Stolpersteine Menschen mit Behinderung im Weg<br />
liegen und dass man wenig langfristige Begleitung und<br />
Hilfe erhält. Wir mussten uns tatsächlich jede Hilfe selbst<br />
erbitten. Auf dem Weg sind uns viele helfende Menschen<br />
begegnet, jedoch auch viel Ignoranz und Unverständnis.<br />
Letztendlich ist Lars derjenige, der tagtäglich mit großen<br />
Herausforderungen im Leben mit stark eingeschränktem<br />
Sichtfeld zurechtkommen muss und dafür wirklich wie ein<br />
Löwe kämpft, dass es auch bitte keiner sieht.<br />
Mittlerweile sind so viele Monate vergangen, dass Lars<br />
gelernt hat, mit seinem Handicap zu leben. Er macht<br />
gerade sein Abitur auf der Carl-Strehl-Schule. Ob er danach<br />
studiert oder wir einen Weg finden, dass er seine Ausbildung<br />
fortsetzen kann, wissen wir noch nicht. Alles Step by<br />
Step. Ich bin einfach unglaublich stolz auf meinen Sohn und<br />
wünsche ihm so sehr, dass sein allergrößter Wunsch, die<br />
Welt dank der Gentherapie wieder uneingeschränkt sehend<br />
zu erleben, wahr wird.<br />
5 Fakten zu LHON<br />
#1<br />
Die Lebersche hereditäre<br />
Optikusneuropathie<br />
ist eine erblich bedingte<br />
Erkrankung, bei der es durch eine<br />
mangelnde Energieversorgung in<br />
der Netzhaut zu einer Schädigung<br />
des Sehnervs kommt.<br />
#2<br />
In Deutschland sind ca.<br />
3.000 Menschen davon<br />
betroffen. Meistens sind dies junge<br />
Männer im Alter von 15 bis 30<br />
Jahren.<br />
#3<br />
Die ersten Symptome<br />
bleiben oft unbemerkt:<br />
ein plötzlicher einseitiger<br />
Sehverlust, der schmerzlos<br />
einhergeht. Das zweite Auge<br />
folgt innerhalb einiger Wochen.<br />
Betroffen ist hauptsächlich das<br />
zentrale Sehen, das für das Lesen<br />
und das Erkennen von Gesichtern<br />
verantwortlich ist.<br />
#4<br />
Eine vollständige Heilung<br />
der LHON ist<br />
momentan nicht möglich. Für die<br />
betroffenen Patienten bedeutet<br />
der rapide Verlust ihrer Sehfähigkeit<br />
eine hohe Beeinträchtigung<br />
der Lebensqualität. Eine Behandlung<br />
mit einem Medikament,<br />
welches zu einer Verbesserung<br />
der Sehschärfe führen kann, ist<br />
möglich. Eine Gentherapie zu<br />
LHON befindet sich momentan in<br />
der Zulassung.<br />
#5<br />
Um die Erkrankung<br />
besser zu verstehen,<br />
hat die Selbsthilfeorganisation<br />
PRO RETINA eine Verlaufsstudie<br />
zu LHON ins Leben gerufen.<br />
www.pro-retina.de<br />
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GENOMISCHE MEDIZIN<br />
BEI SELTENEN NETZHAUTERKRANKUNGEN<br />
GenSight Biologics, ein Biopharma-Unternehmen aus Frankreich, hat sich auf die Forschungsarbeit an schweren neurodegenerativen Augenerkrankungen<br />
und <strong>Erkrankungen</strong> des zentralen Nervensystems spezialisiert. Die innovativen Therapieansätze fokussieren sich dabei besonders auf<br />
Patientinnen und Patienten mit Leberscher hereditärer Optikusneuropathie (LHON) und Retinitis Pigmentosa.<br />
Am weitesten fortgeschritten ist eine Gentherapie, die aus der Forschung am Institut de la Vision in Paris hervorgeht und in einem klinischen<br />
Studienprogramm bei mehr als 200 Patientinnen und Patienten mit Leberscher Hereditärer Optikusneuropathie (LHON) entwickelt wird. Der<br />
gentherapiebasierte Ansatz ist so konzipiert, dass beide Augen mittels einer einzigen intravitrealen Injektion behandelt werden. Ziel ist es, den<br />
Patientinnen und Patienten eine nachhaltige Wiederherstellung des Sehvermögens und eine weitgehende Verbesserung der Lebensqualität zu<br />
ermöglichen. Damit wird ein großer medizinischer Bedarf in dieser sehr seltenen Erkrankung angegangen. Von der European Medicine Agency<br />
wird derzeit der Antrag auf Marktzulassung überprüft. Diese wird für 2023 erwartet.<br />
GenSight Biologics untersucht mit seinem zweiten Therapiekandidaten eine Behandlung zur Wiederherstellung des Sehvermögens bei Patienten,<br />
die an Retinitis pigmentosa im Spätstadium leiden. Der optogenetische Ansatz ist unabhängig von den spezifischen genetischen Mutationen<br />
und hat potenzielle Anwendungen bei anderen <strong>Erkrankungen</strong> der Netzhaut, wie der trockenen altersbedingten Makuladegeneration.
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
5<br />
CTX schon im Kindesalter erkennen!<br />
Dr. med. Simone Stolz, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Carl-Thiem-Klinikum<br />
Cottbus gGmbH, spricht im Interview über die cerebrotendinöse Xanthomatose, kurz CTX: eine<br />
schwerwiegende Erkrankung, die sich meist schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht.<br />
Dr. med. Simone<br />
Stolz<br />
Chefärztin für<br />
Kinder- und<br />
Jugendmedizin<br />
Carl-Thiem-Klinikum<br />
Cottbus gGmbH<br />
Text Benjamin Pank<br />
Die cerebrotendinöse Xanthomatose,<br />
kurz CTX, ist eine schwerwiegende Erkrankung,<br />
die sich meist schon im frühen<br />
Kindesalter bemerkbar macht. Wie<br />
lange dauert es durchschnittlich bis zur<br />
Diagnose und auf welche Symptome<br />
sollte geachtet werden?<br />
Leider dauert es immer noch viel zu<br />
lange, bis die Diagnose gestellt wird.<br />
Untersuchungen haben ergeben, dass<br />
die Latenz zwischen Erstsymptom und<br />
Diagnosesicherung bei durchschnittlich<br />
20 Jahren liegt.<br />
Also findet eine Diagnose häufig erst im<br />
Erwachsenenalter statt. Woran liegt<br />
das?<br />
Das ist im Wesentlichen so, weil die<br />
Symptome, die im Kindesalter auftreten,<br />
relativ unspezifisch sind und bei<br />
vielen Krankheitsbildern in dem Alter<br />
auftreten. Das sind Dinge wie verlängerte<br />
Gelbsucht in der Neugeborenenzeit,<br />
chronischer Durchfall oder auch<br />
eine spätere Entwicklungsabweichung.<br />
Können Sie uns an einem konkreten<br />
Fall erklären, was die Schwierigkeit bei<br />
der Diagnose und Therapie ist?<br />
Bei einem unserer CTX-Patienten, der<br />
jetzt bereits 14 Jahre alt ist, bestanden<br />
seit dem 8. Lebensmonat schwere<br />
Durchfälle. Die Eltern haben mir berichtet,<br />
wie schlimm das alles war. Es<br />
sind Dutzende Untersuchungen erfolgt<br />
wie Ultraschall, Stuhluntersuchungen,<br />
Proben wurden aus dem Darm entnommen,<br />
viele Diäten wurden versucht,<br />
doch die Durchfälle blieben. Die Eltern<br />
haben eine große Odyssee hinter sich<br />
und sind von einem Arzt zum anderen<br />
gereist – ohne Erfolg. Im Alter von fünf<br />
Jahren kam bei dem Patienten eine Linsentrübung<br />
(Katarakt) hinzu, was die<br />
Ärzte auch nicht auf die richtige Spur<br />
führte. Dann kam die Familie zu uns<br />
und im Alter von neun Jahren konnten<br />
wir die Diagnose stellen.<br />
Wie wird die Diagnose dann genau gestellt?<br />
Die Kombination von Durchfall, Katarakt<br />
und Entwicklungsabweichung ist<br />
sehr typisch für die CTX-Erkrankung im<br />
Kindesalter. Hat ein kleiner Patient<br />
diese Symptome, sollte jeder Arzt hellhörig<br />
werden und an einen bestimmten<br />
Laborwert denken: Cholestanol im Blut.<br />
Im Rahmen der Kindergastroenterologie<br />
versuchen wir, das so weit wie<br />
möglich zu streuen, sodass die Diagnosesicherung<br />
nicht 20 Jahre dauern<br />
muss. Denn je früher eine Diagnose gestellt<br />
werden kann, desto positiver ist<br />
der Therapieverlauf im späteren Leben.<br />
Bitte gehen Sie genau darauf ein.<br />
Therapieeffekte können anhand von Familienuntersuchungen<br />
herausgefunden<br />
werden. CTX ist ja eine Erbkrankheit.<br />
Gehen wir mal von unserem 14-jährigen<br />
Jungen aus. Würde er ein Geschwisterkind<br />
bekommen, könnte man bereits im<br />
Säuglingsalter die Diagnose stellen.<br />
Hier gibt es auch eine Reihe von Untersuchungen,<br />
die belegen, dass durch<br />
sehr frühe medikamentöse Therapiemaßnahmen<br />
Symptome wie Katarakt,<br />
Durchfälle, Entwicklungsverzögerungen<br />
verhindert werden können.<br />
Bringt eine Therapie im Erwachsenenalter<br />
nichts mehr?<br />
Eine Symptomverbesserung erreicht<br />
man, egal in welchem Alter die Diagnose<br />
erfolgt. Doch erfolgt die Diagnose<br />
sehr früh, kann ein normales Leben gewährleistet<br />
werden, was bei einer späten<br />
Diagnose in dem Umfang nicht<br />
mehr möglich ist. Aus diesem Grund<br />
bin ich auch ein großer Verfechter<br />
davon, dass man CTX ins Neugeborenenscreening<br />
mit aufnimmt.<br />
SPONSORED INFOGRAPHIC LEADIANT GMBH<br />
Die Symptome der cerebrotendinösen Xanthomatose (CTX)<br />
INFORMATION<br />
Die CTX zeigt sich durch sehr<br />
unspezifische Symptome.<br />
Typische Symptome: chronischer<br />
Durchfall, grauer Star; zudem können<br />
Schwierigkeiten in der Schule<br />
aufgrund verminderter Intelligenz oder<br />
Aufmerksamkeitsstörungen auftreten.<br />
ACHTUNG!<br />
Oftmals wird eine CTX zunächst mit<br />
einer multiplen Sklerose oder einer peripheren<br />
Neuropathie verwechselt. Wenn<br />
die Therapie keine Wirkung zeigt und<br />
zusätzlich weitere der hier aufgeführten<br />
Symptome auftreten, sollten unbedingt<br />
ein Bluttest und eine genetische<br />
Untersuchung stattfinden. So kann<br />
die Mutation des krankheitsauslösenden<br />
Gens nachgewiesen und die<br />
Diagnose gestellt werden.<br />
Allgemeine Symptome<br />
Im Säuglingsund<br />
Kindesalter:<br />
• Verlängerte<br />
Neugeborenengelbsucht<br />
• Chronischer Durchfall<br />
• Gallensteine<br />
• Beidseitiger grauer Star<br />
• Aktivitäts- und<br />
Aufmerksamkeitsstörung<br />
• Entwicklungsverzögerung<br />
• Epilepsie<br />
Im Erwachsenenalter:<br />
• Frühzeitige Arterienverkalkung<br />
• Xanthome (geschwulstartige<br />
Verdickungen im Bereich der<br />
Hände, Ellenbogen, Achillessehnen,<br />
Knie oder des Halses)<br />
• Osteoporose<br />
• Kardiovaskuläre Probleme<br />
• Neurologische und<br />
psychiatrische Auffälligkeiten<br />
• Bewegungsstörungen<br />
Weitere Informationen unter elaev.de/cerebrotendinoese-xanthomatose<br />
und auf www.se-atlas.de (Suchbegriff "Xanthomatose, zerebrotendinöse")
6 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
„Ein Wendepunkt kommt<br />
immer als Schicksalsschlag“<br />
Die Beta-Thalassämie ist eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung, bei der<br />
im Körper Betroffener zu geringe Mengen des roten Blutfarbstoffes Hämoglobin<br />
produziert werden. Die Folge ist eine chronische Blutarmut, die dazu führt,<br />
dass der Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Bleibt<br />
die Erkrankung unbehandelt, kann das lebensbedrohliche Folgen haben. Wir<br />
sprachen mit Nicola De Nittis, der selbst mit Beta-Thalassämie major lebt und<br />
Vorstandsvorsitzender der Patientenvereinigung DEGETHA e.V. ist.<br />
Text Miriam Barbara Rauh<br />
Nicola<br />
De Nittis<br />
Beta-Thalassämiemajor-Patient<br />
Herr De Nittis, seit Ihrer Geburt leben Sie mit<br />
Beta-Thalassämie major, Sie kennen also kein<br />
Leben ohne die Erkrankung. Wie hat sich die<br />
Erkrankung konkret bei Ihnen ausgewirkt?<br />
Ich habe schon sehr früh Auswirkungen gespürt, in<br />
allen Bereichen. Schon in der Grundschule. Wegen<br />
der Beta-Thalassämie muss ich regelmäßig in eine<br />
Klinik. Die anderen Kinder haben das mitbekommen,<br />
dann hieß es „der ist ansteckend“, oder<br />
„Vorsicht, der hat Aids“. Betroffene werden schnell<br />
ausgegrenzt. Inklusion ist meist nur vorgeblich da,<br />
sie wird nicht gelebt. Das ist fast noch schlimmer<br />
als die Tatsache, dass man mit Nichtbetroffenen<br />
nicht über seine Ängste reden kann. Es gibt noch<br />
immer viele Tabus, und Einsamkeit ist ein großes<br />
Problem.<br />
Die Ausgrenzung ist ein Schock. Hinzu kommt<br />
der Schock, wenn man gesagt bekommt, dass man<br />
mit dem Gendefekt nicht alt wird. Ich bekam die<br />
Prognose, dass ich vielleicht 18, 19 oder 20 werde.<br />
Das muss man erst mal verarbeiten. Und man<br />
muss raus aus der Isolation. Auf andere zu treffen,<br />
auch in Netzwerken wie der DEGETHA, ist ein<br />
wichtiger Schritt.<br />
Sie sagen, Sie haben lange ein Doppelleben<br />
geführt: Können Sie uns dazu mehr erzählen?<br />
Das Doppelleben fing im Berufsleben an. Ich hatte<br />
einen Fokus, ich wollte ein normales Leben und<br />
einen Job. Sie müssen sich vorstellen, meine Eltern<br />
bekamen gesagt, dass ich nicht alt werden würde.<br />
Deswegen kam ich auf die Hauptschule und sollte<br />
dann Frührente beantragen. Das wollte ich aber<br />
nicht. Ich habe Karriere in der IT gemacht, bei<br />
großen amerikanischen Firmen. So wie man sich<br />
das wünscht, mit Reisen in die ganze Welt. Ich bin<br />
Big-Data-Experte, Headhunter haben mich gejagt.<br />
Aber wenn man in diesem Job von seinem Gendefekt<br />
erzählt, ist es aus. Es heißt schnell „Der ist<br />
nicht billable“, „Der kann nicht on-site sein“… Also<br />
habe ich lieber nichts von meiner Erkrankung gesagt.<br />
Diese Belastung hat zu einer tiefen Depression<br />
und drei Hörstürzen geführt. Dennoch war<br />
das Doppelleben eine Zeit lang richtig. Bis zum<br />
Knall.<br />
Eine schwerwiegende Erkrankung wie die<br />
Ihre wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus.<br />
Wie haben Sie Alltag und Erkrankung mit der<br />
regelmäßig notwendigen Therapie unter einen<br />
Hut gebracht?<br />
Das war ein unglaublicher Stress. Ich muss alle<br />
zwei Wochen zur Transfusion in eine Klinik,<br />
musste aber auch arbeiten und auf Dienstreise<br />
gehen. Einmal war ich mehrere Wochen beruflich<br />
in den USA. Eine Transfusion hätte ich dort privat<br />
bezahlen müssen, das ist sehr teuer. Also habe ich<br />
mir zwei Tage freigenommen, bin an einem Tag<br />
nach Deutschland geflogen – mit schlechten Blutwerten,<br />
weil ich bis zum letzten Moment gewartet<br />
hatte, entsprechend ging es mir – und am nächsten<br />
Tag bin ich zurück in die USA.<br />
Die regelmäßigen Krankenhaus- und Arzttermine<br />
sind insgesamt ein Problem, wenn man ein<br />
normales Leben führen möchte. Termine sind in<br />
der Regel wochentags von 9 bis 15 Uhr. Ich habe<br />
zusammen mit meiner Krankenkasse bundesweit<br />
nach Praxen gesucht, die zu Randzeiten behandeln<br />
– ohne Erfolg. Schließlich klappte es doch,<br />
über Kontakte. Eine Ärztin hat mich samstags<br />
behandelt. Bevor ich sie gefunden hatte, musste<br />
ich immer Urlaubstage nehmen.<br />
Was war Ihr persönlicher Wendepunkt, der Sie<br />
dazu bewogen hat, offen mit Ihrer Erkrankung<br />
umzugehen?<br />
Ein Wendepunkt kommt nie in positiver Form,<br />
sondern als Schicksalsschlag. Sonst ändert man<br />
nichts. Meiner war der Hörsturz. Davor hatte ich<br />
zwei Jahre eine schwere Depression gehabt, bin<br />
aber danach wieder in das Doppelleben zurück.<br />
Dann kam der Hörsturz und das hat mich aufgerüttelt.<br />
Die Ärzte machten mir klar, so geht es<br />
nicht weiter. Danach hatte ich mein „Outing“, habe<br />
ein Buch geschrieben. Das war befreiend.<br />
Damit es einem gut geht, braucht es Mut. Mut<br />
heißt auf Italienisch „coraggio“, das kommt aus<br />
dem Lateinischen, von „cor habeo“, ein Herz<br />
haben. Mut hat mit dem Herzen zu tun – in<br />
Kombination mit dem Verstand unbesiegbar.<br />
Den Mut haben, sein Leben zu leben – das ist das<br />
Wichtigste.<br />
DEGETHA<br />
FRIENDS<br />
&<br />
DEGETHA &<br />
FRIENDS ist<br />
eine Patientenorganisation<br />
für<br />
Thalassämie und<br />
alle seltenen<br />
<strong>Erkrankungen</strong>. Dabei liegt ein<br />
besonderes Ziel darin, die psychische<br />
Gesundheit Betroffener<br />
zu stärken. Patientenkompetenz<br />
steigern – Informationen bereitstellen<br />
– Netzwerk fördern:<br />
Der Verein unterstützt dabei<br />
Betroffene, Familienmitglieder,<br />
Mediziner, Kliniken, Vereine,<br />
Organisationen und Forschungseinrichtungen.<br />
www.degetha.org<br />
Stella Pelteki<br />
Thalassämikerin,<br />
Brave Coach und<br />
Dozentin<br />
Dr. Mohamed El<br />
Missiry<br />
40-jähriger Thalassämie-Patient<br />
Im Verein bin ich tätig<br />
in der Patientenvertretung<br />
und Mitglied des<br />
Vorstands. Ich setze<br />
mich nicht nur für die<br />
Interessen der Patienten<br />
ein, sondern unterstütze<br />
sie und ihre Angehörigen<br />
dabei, mental<br />
gesund zu bleiben und<br />
ihre persönlichen Ressourcen<br />
zu mobilisieren.<br />
Die Vereinsarbeit ist eine<br />
Herzensangelegenheit<br />
für mich. Sie erfüllt mich<br />
und schenkt mir Hoffnung<br />
für eine bessere<br />
Zukunft. Meine Mission<br />
ist es, die Lebensqualität<br />
der Menschen mit<br />
seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />
zu fördern.<br />
Meine Aufgaben beim<br />
DEGETHA e. V. als medizinische<br />
Fachperson<br />
sind die medizinische<br />
Vertretung, Patientenberatung,<br />
medizinische<br />
Fragen zu beantworten<br />
und die medizinischen<br />
Inhalte unserer Website<br />
zu überprüfen. Zudem<br />
arbeiten wir daran, das<br />
erste spezialisierte<br />
Zentrum für <strong>Seltene</strong><br />
<strong>Erkrankungen</strong> (RADICE<br />
| RAreDIseaseCEnter)<br />
Deutschlands zu<br />
gründen.<br />
ANZEIGE<br />
– Der Patient im Fokus<br />
FOTO: SHUTTERSTOCK<br />
Wer wirksame Behandlungsoptionen für Menschen mit seltenen<br />
<strong>Erkrankungen</strong> entwickeln will, muss die Bedürfnisse der<br />
Betroffenen kennen und stets mit ihnen im Dialog bleiben.<br />
Daher ist der Fokus auf den Patienten ein essenzieller Teil der<br />
Unternehmensphilosophie des forschenden Pharma-Unternehmens<br />
Chiesi, das sich unter anderem auf die Erforschung<br />
seltener <strong>Erkrankungen</strong> spezialisiert hat. Um das zu bewerkstelligen,<br />
hält Chiesi engen Kontakt zu den behandelnden Ärzten<br />
und Fachzentren sowie zu Patientenorganisationen.<br />
Dr. med. Raimund Hövelmann, Direktor der Business Unit Rare<br />
Diseases bei Chiesi, bringt es folgendermaßen auf den Punkt:<br />
„Patientenzentrierung bedeutet bei uns nicht zu schauen,<br />
was wir haben und wie wir es verkaufen können, sondern im<br />
Gegenteil zuerst zu schauen, was den Patienten fehlt und was<br />
sie benötigen. Danach richten wir unser Handeln aus.“<br />
Allein auf dieser Basis können in Zusammenarbeit mit Betroffenen,<br />
den behandelnden Ärzten und spezialisierten Zentren<br />
die Aufmerksamkeit für seltene Krankheitsbilder erhöht und<br />
Forschungsaktivitäten vorangetrieben werden, um das Leben<br />
von Menschen mit seltenen <strong>Erkrankungen</strong> nachhaltig zu verbessern.<br />
Derzeit liegt der Schwerpunkt auf lysosomalen Speicherkrankheiten,<br />
seltenen Augenerkrankungen und seltenen hämatologischen<br />
<strong>Erkrankungen</strong> (z.B. Thalassämien). Das erklärte Ziel ist<br />
es dabei immer, die ungedeckten Bedürfnisse von Menschen<br />
mit seltenen <strong>Erkrankungen</strong> besser zu verstehen und zu erfüllen<br />
– im engen Austausch mit den Betroffenen selbst.<br />
Weitere Informationen unter: www.chiesi.de
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
7<br />
Farbe bekennen zum<br />
Rare Disease Day 2022<br />
Text Bianca Paslak-Leptien<br />
ACHSE e. V. ruft auf:<br />
Farbe bekennen und so<br />
ein Zeichen für Menschen<br />
mit <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong><br />
setzen – denn „Selten<br />
sind Viele"; vielfältige<br />
Aktionen rund um den<br />
internationalen Aktionstag<br />
Ende Februar laden<br />
zum Mitmachen ein.<br />
Am 28. Februar 2022 ist der 15. Rare Disease<br />
Day, der internationale Tag der <strong>Seltene</strong>n<br />
<strong>Erkrankungen</strong>. Sie sind selbst betroffen oder<br />
möchten den Aktionstag unterstützen? Die<br />
Allianz Chronischer <strong>Seltene</strong>r <strong>Erkrankungen</strong><br />
(ACHSE) e.V., Dachverband und Stimme der<br />
4 Millionen betroffenen Menschen und deren<br />
Angehörigen in Deutschland, ruft wie jedes<br />
Jahr dazu auf: Machen Sie mit! Denn „Selten<br />
sind Viele", und das wollen wir zeigen. Das<br />
Motto 2022 lautet: Bekennen Sie Farbe. Ob<br />
beleuchtete Gebäude in Pink, Blau, Grün, Lila,<br />
die Ausstellung „Selten allein" in Bahnhöfen<br />
bundesweit und online, Fachveranstaltungen<br />
oder Social-Media-Kampagnen – die Beteiligungsmöglichkeiten<br />
sind vielfältig. Unterstützt<br />
wird der Aktionstag jedes Jahr von Eva<br />
Luise Köhler, Schirmherrin der ACHSE, und<br />
weiteren Persönlichkeiten aus Politik, Medizin<br />
und Gesellschaft.<br />
Beleuchtungsaktion<br />
„Global Chain of Lights"<br />
Über zwanzig Standorte in Deutschland haben<br />
sich bisher angemeldet. Darunter die Bay-<br />
Arena in Leverkusen, die Bahnhöfe in Stuttgart,<br />
Mannheim, Dresden, die Neckarfront<br />
Tübingen, das Marburger Schloss, das Rathaus<br />
Dessau, die Marienkirche Neubrandenburg<br />
uvm. Eine Liste der Gebäude bundesweit sowie<br />
Fotos vom vergangenen Jahr finden Sie auf der<br />
Website der ACHSE e. V.<br />
Sie alle sind Teil der weltweiten Lichterkette,<br />
bei der Sehenswürdigkeiten, Monumente, sonstige<br />
Bauten in Blau, Grün, Pink und/oder lila,<br />
den Farben des offiziellen Rare-Disease-<br />
Day-Logos, von innen oder außen strahlen und<br />
so ein sichtbares Zeichen in Zeiten von Corona<br />
setzen werden. Viele Bauten werden schon<br />
vor dem 28.02. leuchten und einige sogar bis<br />
zu einem Monat angestrahlt bleiben. Außerdem<br />
werden am 28.02.2022 auf der Weltkarte,<br />
in der alle angemeldeten Orte markiert sind,<br />
die Lämpchen der interaktiven Lichterkette<br />
nach und nach angeknipst:<br />
www.rarediseaseday.org<br />
Hintergrund Rare Disease Day<br />
Weltweit leben rund 300 Millionen Menschen<br />
mit chronischen seltenen <strong>Erkrankungen</strong>.<br />
Jedes Jahr am und um den letzten<br />
Tag im Februar machen sie gemeinsam auf<br />
ihre Anliegen aufmerksam. Sie wünschen<br />
sich mehr Forschung, mehr Therapien und<br />
Behandlungsmöglichkeiten sowie die Chance<br />
auf ein besseres, längeres Leben. Zudem geht<br />
es ihnen um gesellschaftliche Anerkennung<br />
und Teilhabe. Denn viele der etwa 8.000 als<br />
„selten" eingestuften <strong>Erkrankungen</strong> gehen<br />
mit zum Teil schwerwiegenden körperlichen<br />
und geistigen Einschränkungen einher. Als<br />
deutsche Allianz im internationalen Verbund<br />
koordiniert die ACHSE den Tag der <strong>Seltene</strong>n<br />
<strong>Erkrankungen</strong> seit 2008 in Deutschland.<br />
Weitere<br />
Informationen:<br />
www.achseonline.de<br />
ANZEIGE<br />
Wissen verbinden,<br />
Perspektiven schaffen<br />
PATIENT – Selbstbestimmung versus<br />
Fremdbestimmung bei der Versorgung<br />
von Patienten mit seltenen Krankheiten<br />
• Was wünschen sich Patientinnen und Patienten mit einer<br />
seltenen Krankheit?<br />
• Was brauchen sie, und wie stellen wir sicher, dass die<br />
Lösungen, die wir entwickeln, auch tatsächlich einen Nutzen<br />
für sie stiften?<br />
Seien Sie live dabei, wenn wir am 30. März 2022 die Perspektiven<br />
der Experten verbinden und das Thema „PATIENT –<br />
Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung“ diskutieren.<br />
RECHT<br />
Prof. Dr. Dr. Christian Dierks<br />
Rechtsanwalt, Managing Partner<br />
Dierks+Company, Berlin<br />
COMMUNITY +<br />
DIGITALISIERUNG<br />
Dr. Tobias Gantner<br />
Gründer und Managing Partner<br />
HealthCare Futurists<br />
MEDIZINISCHE<br />
WISSENSCHAFT<br />
Prof. Dr. Andreas Meisel<br />
Facharzt für Neurologie,<br />
Charité – Universitätsmedizin Berlin<br />
Leiter Myasthenie-Ambulanz<br />
PATIENTEN-<br />
VERTRETUNG<br />
Claas Röhl<br />
PATIENTEN-<br />
ORGANISATION<br />
Mirjam Mann<br />
Geschäftsführerin ACHSE e.V. –<br />
Allianz Chronischer <strong>Seltene</strong>r <strong>Erkrankungen</strong>,<br />
Berlin<br />
EINLADUNG<br />
ZUM VIRTUELLEN<br />
ROUND TABLE<br />
JAHRE<br />
30.<br />
März<br />
16:30 - 18:00 Uhr<br />
JETZT ANMELDEN<br />
AN DER SEITE<br />
DER PATIENTEN<br />
change4rare.com/event<br />
Eine Initiative der Alexion Pharma Germany GmbH<br />
PATIENTEN-<br />
PARTIZIPATION<br />
PD Dr. Jens Ulrich Rüffer<br />
Member of the IMI<br />
Scientific Committee,<br />
President NF Kinder<br />
Geschäftsführer SHARE TO CARE,<br />
TAKEPART Media + Science,<br />
1. Vorsitzender der Deutschen<br />
Fatigue Gesellschaft e.V.<br />
POLITIK<br />
Martina Stamm-Fibich<br />
Mitglied des Bundestages,<br />
Patientenbeauftragte der SPD,<br />
Mitglied des Ausschusses für Gesundheit<br />
des Deutschen Bundestages
8 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
Nicht so schnell zu fassen –<br />
Die Multisystemerkrankung ATTR-Amyloidose<br />
Text Doreen Brumme<br />
Dr. Sarah Bernsen<br />
Fachärztin für<br />
Neurologie und<br />
Intensivmedizin am<br />
Universitätsklinikum<br />
Bonn<br />
Manuel F. da Silva<br />
Amyloidose-Patient<br />
und Mitbegründer<br />
des Patientenverbandes<br />
FAP e.V.<br />
Die ATTR-Amyloidose hat<br />
viele Gesichter. Bei der<br />
seltenen Erbkrankheit<br />
lagern sich Eiweiße als<br />
Amyloid überall im Körper<br />
ab. Je nach genetischer<br />
Ausprägung werden dabei<br />
unterschiedliche Organe nachhaltig geschädigt:<br />
oft das Herz, das periphere Nervensystem,<br />
also die Nerven außerhalb von Gehirn<br />
und Rückenmark, und der Verdauungstrakt,<br />
seltener die Augen. Unbehandelt ist die<br />
ATTR-Amyloidose lebensbedrohlich. Im<br />
Interview berichten Dr. Sarah Bernsen vom<br />
Universitätsklinikum Bonn und ihr Patient<br />
Manuel F. da Silva, Mitgründer des Amyloidose-Patientenverbandes,<br />
von schwierigen<br />
Diagnosen und hoffnungsstiftenden Behandlungen.<br />
Herr da Silva, wie machte sich Ihre<br />
ATTR-Amyloidose bemerkbar und wie<br />
kam es zur Diagnose?<br />
Ich war Anfang 30, als im Jahr 2004 erste<br />
Taubheitsgefühle aufkamen. Zum Glück bin<br />
ich an einen Arzt geraten, der die Erkrankung<br />
kannte, da er ein Praktikum in Portugal<br />
absolviert hatte. Ich habe portugiesische<br />
Wurzeln, was insofern von Bedeutung ist, als<br />
die ATTR-Amyloidose dort endemisch ist.<br />
Das heißt, es gibt in Nordportugal deutlich<br />
mehr Betroffene als hierzulande, wo die<br />
Krankheit mit nur 300 bis 400 Fällen (bei<br />
sicher hoher Dunkelziffer) sehr selten ist.<br />
Dank meiner Aktivität im Patientenverband<br />
weiß ich, dass die meisten Patient*innen drei<br />
bis vier Jahre unterwegs sind, bis sie ihre<br />
Diagnose bekommen. Was tragisch ist, da die<br />
Organschäden irreparabel sind und einige<br />
versterben, noch bevor sie eine Diagnose<br />
bekommen.<br />
Dr. Bernsen, was passiert genau im Körper<br />
der Betroffenen und wie verläuft die<br />
Erkrankung?<br />
Die ATTR-Amyloidose entsteht infolge<br />
vererbter Genveränderungen (Mutationen)<br />
im TTR-Gen. Mehr als 130 Mutationen sind<br />
bis heute bekannt. Bei allen kommt es zu<br />
einer Destabilisierung des Transporteiweißes<br />
Transthyretin, das zu 90 Prozent in der<br />
Leber und zu zehn Prozent im Nervensystem<br />
produziert wird. Es zerfällt und lagert sich an<br />
verschiedenen Organen im Körper als Amyloid<br />
ab. Deshalb wird die ATTR-Amyloidose<br />
auch als Multisystemerkrankung bezeichnet.<br />
Je nachdem welche Mutation vorliegt,<br />
schädigen die Ablagerungen einzelne Organe<br />
besonders stark. Am häufigsten sind das<br />
periphere Nervensystem und das Herz betroffen.<br />
Unbehandelt liegt die mittlere Überlebenszeit<br />
der Betroffenen, die zum Zeitpunkt, an dem<br />
die ersten Symptome auftreten, typischerweise<br />
30 Jahre und älter sind, zwischen zwei<br />
bis zehn Jahren. Wobei schon nach der Hälfte<br />
der Zeit mit einem Verlust der Gehfähigkeit<br />
und im weiteren Verlauf mit einer Rundum-<br />
Pflegebedürftigkeit zu rechnen ist.<br />
Herr da Silva, wie wurden Sie therapiert?<br />
Zu der Zeit, in die meine Diagnose fiel, war<br />
eine Lebertransplantation noch die Therapie<br />
der ersten Wahl. Man entfernte die Leber,<br />
die einen Defekt hatte. Ich entschied mich<br />
aus Angst vor einem Leben im Rollstuhl und<br />
einem frühen Tod dafür und ließ mir 2005 in<br />
Münster eine gesunde Leber transplantieren.<br />
Meine kranke habe ich einem Krebspatienten<br />
gespendet, der damit noch sieben Lebensjahre<br />
geschenkt bekam. Das nennt man<br />
Domino-Transplantation, eine in Portugal<br />
übliche Vorgehensweise, in Münster war ich<br />
damit der erste Fall.<br />
Dr. Bernsen, was macht die Diagnose so<br />
schwierig?<br />
Der unspezifische Symptombeginn und<br />
die Seltenheit der Erkrankung erschweren<br />
die Diagnose. Denn Herzprobleme, von<br />
Rhythmusstörungen bis hin zur Insuffizienz,<br />
Nervenprobleme wie Missempfinden,<br />
Taubheitsgefühle und Lähmungen, Erektionsstörungen,<br />
Magen-Darm-Probleme wie<br />
Durchfall, Appetitlosigkeit und infolgedessen<br />
Gewichtsverlust könnten für sich genommen<br />
auch Zeichen einer anderen Erkrankung<br />
sein. Erst die Kombination mehrerer dieser<br />
Symptome bringt uns Ärzte auf die Spur<br />
der ATTR-Amyloidose. Vorausgesetzt, wir<br />
schauen über den Tellerrand hinaus und<br />
sehen als Kardiologe nicht nur aufs Herz,<br />
als Neurologe nicht nur auf die Nerven, als<br />
Internist oder Gastroenterologe nicht nur<br />
auf den Magen-Darm-Trakt. Die Diagnose<br />
der ATTR-Amyloidose ist fachübergreifend –<br />
ebenso wie ihre Therapie.<br />
Herr da Silva, wie ging Ihr Leben nach der<br />
Lebertransplantation weiter?<br />
Mir ging es lange gut. Nach etwa sieben<br />
Jahren jedoch zeigten sich wieder Symptome<br />
der Erkrankung. Zum Beispiel litt ich an<br />
einem unkontrollierbaren Durchfall, bekam<br />
Probleme mit dem Wasserlassen. Heute<br />
wache ich jeden Morgen mit Taubheitsgefühlen<br />
im Gesicht auf.<br />
Dr. Bernsen, ist das typisch, dass die<br />
Krankheit trotz neuer Leber wiederkommt?<br />
Ja, das kommt bei einem Teil der organtransplantierten<br />
Patienten vor. Es spielen<br />
offensichtlich weitere Faktoren eine Rolle.<br />
Und auch die oben erwähnten Prozentanteile<br />
Transthyretin, die nicht in der<br />
Leber produziert werden, können zu einem<br />
Fortschreiten der Erkrankung im zentralen<br />
Nervensystem führen.<br />
Herr da Silva, welche Therapie<br />
bekommen Sie jetzt?<br />
Ich erhalte derzeit Infusionen, die den<br />
Krankheitsverlauf bremsen sollen.<br />
Dr. Bernsen, wie bewerten Sie die<br />
verfügbaren Therapien?<br />
Die Lebertransplantation ist nicht mehr<br />
Therapie der ersten Wahl. Seit 2011 gibt<br />
es ein Medikament, das – oral verabreicht<br />
– das Transthyretin stabilisiert. In den<br />
letzten Jahren kamen – und das ist durchaus<br />
ungewöhnlich für eine derart seltene<br />
Erkrankung – zwei weitere Medikamente<br />
hinzu, die teils als Infusion verabreicht,<br />
die Produktion des Eiweißes in der Leber<br />
mindern. Gentherapien, die nicht nur die<br />
Erkrankung verlangsamen, sondern die<br />
Krankheitsursache angehen, sind noch Zukunftsmusik.<br />
Ich wünsche mir aufgeweckte Kolleg*innen,<br />
die über ihren Fachbereich hinausschauen<br />
und interdisziplinär denken. Hat jemand eine<br />
unklare Kardiomyopathie und leidet zugleich an<br />
einem Karpaltunnelsyndrom, dann sollten die<br />
Alarmglocken klingeln. Ich erhoffe mir, dass die<br />
ATTR-Amyloidose bekannter wird, da eine frühe<br />
Diagnosestellung wichtig für eine erfolgreiche<br />
Therapie ist.<br />
Dr. Sarah Bernsen<br />
Was wünschen Sie sich für die Versorgung<br />
Betroffener?<br />
Ganz klar: schnellere Diagnosen. Das<br />
braucht auf beiden Seiten, der der<br />
Betroffenen und der der Medizin, mehr<br />
Achtsamkeit für die typischen Symptomkombis.<br />
Außerdem wünsche ich mir, dass<br />
die Therapien überall verfügbar sind. In<br />
Portugal beispielsweise ist meine Art der<br />
Infusiontherapie aus finanziellen Gründen<br />
nicht erhältlich. Es kann nicht sein, dass<br />
eine Therapiemöglichkeit abhängig von dem<br />
Land ist, in dem man lebt. Hier gibt es noch<br />
Handlungsbedarf.<br />
Über den Patientenverband für ATTR-Amyloidose<br />
Der Patientenverband für ATTR-Amyloidose, den Manuel F. da Silva mitgegründet hat, ist unter dieser<br />
Internetadresse zu erreichen: http://patientenverband-fap.de. Dort finden insbesondere Betroffene<br />
und Angehörige Informationen, Anlaufstellen zu Beratung, Behandlung und ganz wichtig: eine Plattform<br />
zum Austausch.
Gen-Stilllegung mit RNA<br />
ANZEIGE<br />
Die Ursache der meisten „<strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong>“ liegt im Erbgut. Mit konventionellen Behandlungsmethoden<br />
lassen sich häufig nur die Symptome lindern. Einen innovativen Ansatz<br />
bietet eine neue Klasse von Arzneimitteln auf RNA-Basis. Das Prinzip der RNA-Interferenz<br />
ermöglicht es, die Aktivität einzelner Gene gezielt zu regulieren. Genetisch bedingte <strong>Erkrankungen</strong><br />
können so ursächlich therapiert werden – ohne dabei das Erbgut zu verändern.<br />
IMAGE: ALNYLAM PHARMACEUTICALS<br />
Ein kurzer RNA-Strang (orange) führt einen speziellen Protein-Komplex (weiß) präzise zu jener mRNA (grün), die abgebaut werden soll. Sobald der Protein-<br />
Komplex an die mRNA bindet, zerschneidet er diese. Das Protein, für das die mRNA den Bauplan trägt, wird dadurch nicht mehr bzw. in geringerem Maße<br />
hergestellt.<br />
Im vergangenen Jahr hat eine neue Klasse von Impfstoffen auf<br />
Basis von Boten-Ribonukleinsäuren (messenger-RNA, mRNA)<br />
ihren Durchbruch erlebt und die weltweite Aufmerksamkeit auf das<br />
noch junge Gebiet der RNA-Medizin gelenkt. Durch das Einbringen<br />
von mRNA erhalten die Zellen den Bauplan für ein bestimmtes<br />
Virus-Protein, das sie dann selbstständig herstellen. Gegen diese<br />
Proteine erzeugt das Immunsystem anschließend eine Immunantwort.<br />
mRNA gibt es in nahezu allen Zellen in Hülle und Fülle. Ihre<br />
biologische Funktion ist es, die in den Genen gespeicherten Protein-„Baupläne“<br />
an die Protein-„Fabriken“, die Ribosomen, zu übermitteln.<br />
Diese Transportfunktion macht die mRNA zu einem Ziel für<br />
neue therapeutische Ansätze – weit über Impfstoffe hinaus.<br />
Die Ursachen für die meisten der sogenannten „<strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong>“<br />
gehen zurück auf Mutationen im Erbgut. Dadurch können<br />
etwa die Baupläne für wichtige Proteine fehlerhaft sein. Diese „defekten“<br />
Proteine können zu schweren Komplikationen im Stoffwechsel<br />
führen, zum Beispiel wenn sie toxisch wirken, wie bei der akuten<br />
hepatischen Porphyrie, wo es zu Krampfanfällen bis hin zu Atemlähmungen<br />
kommen kann. Andere Genmutationen verändern die<br />
Struktur von Proteinen, wodurch die Proteine „verklumpen“ und<br />
Ablagerungen (Amyloid) bilden, die wiederum die Funktionsfähigkeit<br />
der Organe beeinträchtigen können, zum Beispiel bei der AT-<br />
TRv-Amyloidose.<br />
RNAi-Medizin: Eine neue Klasse von Arzneimitteln<br />
Vor gut 20 Jahren entdeckten Forschende einen natürlichen biologischen<br />
Mechanismus, mit dem Zellen die Aktivität einzelner Gene<br />
steuern können. Dieser Mechanismus wird als RNA-Interferenz<br />
(RNAi) bezeichnet und existiert seit Jahrmillionen in nahezu allen<br />
Zellen von Pflanzen, Tieren und Menschen. Für ihre Entdeckung<br />
erhielten die US-Wissenschaftler Andrew Z. Fire und Craig C. Mello<br />
im Jahr 2006 den Medizin-Nobelpreis. Mit ihrer Forschung legten<br />
sie den Grundstein für eine völlig neue Klasse von Arzneimitteln,<br />
den RNAi-Therapeutika.<br />
Die Grundidee ist simpel. Die Aktivität eines für eine Erkrankung<br />
ursächlichen Gens lässt sich herunterregulieren, das Gen gewissermaßen<br />
„stilllegen“. Im Ergebnis wird das entsprechende Protein<br />
nicht mehr oder in einer deutlich geringeren Menge hergestellt.<br />
Dies funktioniert, indem der Informationsträger des Protein-Bauplans<br />
– die mRNA – auf dem Weg vom Zellkern zu den Ribosomen<br />
„abgefangen“ und abgebaut wird, bevor das entsprechende Protein<br />
gebildet wird. Mittels des zelleigenen Mechanismus der RNA-<br />
Interferenz lässt sich präzise genau jene mRNA erkennen und<br />
deaktivieren, die den fehlerhaften Bauplan überträgt. Um diesen<br />
Prozess zu aktivieren, wird eine kurze RNA-Sequenz in die Zellen<br />
eingebracht. Diese sogenannte siRNA (small interfering RNA) ist<br />
spiegelbildlich zur Ziel-mRNA und lenkt einen speziellen Proteinkomplex<br />
präzise zu jener mRNA, die abgebaut werden soll. Sobald<br />
die Ziel-mRNA gefunden ist, wird sie zerschnitten und abgebaut<br />
bevor sie das Ribosom erreicht und ein Protein hergestellt wird. Im<br />
Ergebnis wird die Produktion der krankheitsverursachenden Proteine<br />
erheblich reduziert. Ein Vorteil der RNA-Interferenz: Im Gegensatz<br />
zu einer Gentherapie wird nicht in das Erbgut eingegriffen.<br />
Setzt man die Behandlung aus, erreicht die mRNA wieder die Ribosomen<br />
und das betreffende Protein wird wieder hergestellt.<br />
Das Potenzial der RNAi zum Wohle von Patienten nutzbar machen<br />
– mit dieser Vision wurde 2002 das biopharmazeutische Unternehmen<br />
Alnylam Pharmaceuticals gegründet. Seither hat Alnylam<br />
mehr als sechs Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von RNAi-<br />
Therapeutika investiert. Seit 2018 wurden bereits drei RNAi-Therapeutika<br />
zur Behandlung seltener, genetisch bedingter <strong>Erkrankungen</strong><br />
in Europa zugelassen. Zahlreiche weitere sind in der Entwicklung<br />
und Erprobung. Perspektivisch lassen sich mit RNAi-Therapeutika<br />
nicht nur genetische <strong>Erkrankungen</strong> behandeln, sondern potenziell<br />
auch Herz- und Stoffwechselkrankheiten, Infektionskrankheiten<br />
und <strong>Erkrankungen</strong> des zentralen Nervensystems, zum Beispiel<br />
auch die Alzheimer-Demenz. Erste klinische Studien hierzu sollen<br />
noch in diesem Jahr starten. Dies ist ein gutes Beispiel, wie von der<br />
Forschung an Therapien für seltene <strong>Erkrankungen</strong> mittelfristig auch<br />
viele weitere Patienten profitieren können.<br />
Erfahren Sie mehr über<br />
RNAi-Therapeutika und die<br />
Forschung von Alnylam<br />
unter alnylam.de.<br />
FREIGABENUMMER: RNAI-DEU-00001
10 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
Rheumatische <strong>Erkrankungen</strong><br />
– dabei denken viele<br />
zunächst an entzündete<br />
und geschwollene Gelenke,<br />
an eine Volkskrankheit, die<br />
eine Vielzahl an Menschen<br />
betrifft. Dabei gibt es auch<br />
eine beträchtliche Anzahl<br />
an seltenen rheumatischen<br />
<strong>Erkrankungen</strong>, zu denen<br />
auch die sogenannten Vaskulitiden<br />
gehören, die durch eine<br />
Entzündung der Blutgefäße<br />
charakterisiert sind. Zu diesen<br />
gehört auch die eosinophile<br />
Granulomatose mit Polyangiitis<br />
(kurz EGPA), an der<br />
Dimitra bereits seit ihrer Kindheit<br />
leidet. Dass sie vor acht<br />
Jahren fast gestorben wäre,<br />
sieht heute niemand mehr. Im<br />
Interview spricht sie über ihre<br />
Erkrankung und den Kampf<br />
zurück ins Leben.<br />
Text Franziska Manske<br />
„Ich war dem Tod<br />
näher als dem<br />
Leben“
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
11<br />
Dimitra, du bist 21 Jahre alt und lebst<br />
nun seit elf Jahren mit der seltenen<br />
Erkrankung EGPA. Wie hat sich die Erkrankung<br />
bei dir bemerkbar gemacht?<br />
Als ich neun Jahre alt war, habe ich aus<br />
dem Nichts heraus plötzlich schweres<br />
Asthma bekommen und niemand konnte<br />
sich erklären, woher das kam. Anfangs<br />
wurde eine Allergie vermutet, aber auch<br />
mit verschiedenen Therapien wurde es<br />
nicht besser.<br />
Wie ging es dann weiter?<br />
Nach dem Asthma bekam ich 2011 meine<br />
erste Perikarditis, also eine Entzündung<br />
des Herzbeutels. Da ging dann gar nichts<br />
mehr. Ich konnte weder laufen noch<br />
richtig atmen und hatte am ganzen Körper<br />
starke Schmerzen. Das wurde mit Kortison<br />
behandelt. Dadurch wurde das besser,<br />
dann kam jedoch 2012 eine Darmentzündung<br />
hinzu und Anfang 2013 eine Lungenentzündung<br />
und erneut eine Perikarditis<br />
– da war ich dann gesundheitlich komplett<br />
am Ende.<br />
EGPA wirkt sich auf verschiedene<br />
Organe aus. Wie sah bzw. sieht das bei<br />
dir genau aus, welche Organsysteme<br />
waren/sind bei dir speziell betroffen?<br />
Betroffen waren Lunge, Herz, Darm und<br />
die Nerven.<br />
Du warst jahrelang kerngesund.<br />
Plötzlich kommt ein gesundheitlicher<br />
Tiefschlag nach dem anderen. Wie bist<br />
du damit umgegangen?<br />
Mir ging es krankheitsbedingt so schlecht,<br />
dass ich nicht mehr viel davon weiß. Ich<br />
habe diese Zeit wie im Delirium erlebt.<br />
Meine Mutter musste damals sogar das<br />
Als ich 2013 ins künstliche Koma versetzt wurde, hatten<br />
mich die Ärzte abgeschrieben.<br />
Sprechen für mich übernehmen und mich<br />
füttern. Selbstständig konnte ich fast gar<br />
nichts mehr. Was ich weiß, ist, dass ich<br />
immer ängstlicher und unsicherer wurde.<br />
... und verzweifelt?<br />
Absolut. Besonders, wenn man die<br />
Verzweiflung von den Eltern erlebt. Meine<br />
Familie war teilweise am Ende. Als ich<br />
dann im Koma lag, war es komplett vorbei.<br />
Sie hatten einfach nur Angst, mich zu<br />
verlieren.<br />
Hattest du Angst zu sterben?<br />
Ja, solche Momente gab es. Doch ich habe<br />
sie dann immer wieder verdrängt, denn<br />
zu sterben war keine Option – ich wollte<br />
leben. Teilweise war ich dem Tod näher als<br />
dem Leben.<br />
Erzähle uns bitte mehr davon.<br />
Als ich 2013 ins künstliche Koma versetzt<br />
wurde, hatten mich die Ärzte abgeschrieben.<br />
Sie sagten, dass sie nichts mehr<br />
machen könnten. Zehn Tage verbrachte<br />
ich in diesem Zustand, davon acht an der<br />
Herz-Lungen-Maschine, bevor ich zurückkam.<br />
Wie hast du dich zurück ins Leben<br />
gekämpft?<br />
Als ich aus dem Koma erwacht bin, war ich<br />
blind, weil meine Sehnerven geschädigt<br />
waren. Obwohl ich nichts sah, war ich total<br />
positiv gestimmt. Es gab in dem Moment<br />
nichts Negatives für mich. Ich habe die<br />
ganze Zeit nur gegrinst. Ich habe gespürt,<br />
wie überglücklich meine Familie in diesem<br />
Moment war, sodass dies einfach auf mich<br />
übergangen ist. Kurz darauf kam dann<br />
auch die Diagnose und aus dem jahrelangen<br />
Leid wurde endlich wieder Leben.<br />
Wie wurdest du nach der Diagnose<br />
behandelt?<br />
Leider habe ich einiges nicht vertragen<br />
und auf vieles habe ich allergisch reagiert.<br />
Bis 2016 war es ein ständiges Auf und Ab.<br />
Nun bekommst du seit geraumer Zeit<br />
eine individuelle Therapie. Wie geht es<br />
dir heute und wie sieht dein Alltag aus?<br />
Ich bekomme ein Biologikum, das mein<br />
Freund mir einmal im Monat spritzt. Das<br />
hat mir mein Leben zurückgegeben. Ich<br />
bin komplett beschwerdefrei und kann ein<br />
völlig normales Leben führen – dafür bin<br />
ich jeden Tag dankbar. Wenn man dem<br />
Tod so nahe war wie ich, weiß man erst,<br />
wie wertvoll Gesundheit und das Leben<br />
sind.<br />
Deine Erkrankung ist selten und daher<br />
auch für erfahrene Mediziner nicht<br />
leicht zu erkennen und demnach zu<br />
behandeln. Gibt es etwas, was du dir<br />
an Verbesserungen für Betroffene<br />
wünschen würdest?<br />
Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass<br />
die Ärzte mehr auf meine Mutter gehört<br />
hätten. Sie hat beispielsweise schon<br />
relativ früh erkannt, dass ich auf Antibiotika<br />
allergisch reagiere und dadurch die<br />
Eosinophilen hochgehen, was meinen<br />
Gesundheitszustand stark verschlechtert<br />
hat. Erst als meine Neurologin gesehen<br />
hat, dass ich nach Gabe eines Präparates<br />
lila angelaufen bin, hat sie meiner Mutter<br />
geglaubt. Grundsätzlich darf man Ärzten<br />
aber nie einen Vorwurf machen. Alle wollen<br />
helfen, manchmal sind die <strong>Erkrankungen</strong><br />
– wie meine – aber so selten, dass sie<br />
es einfach nicht besser wissen.<br />
Was möchtest du anderen Betroffenen<br />
mit auf den Weg geben?<br />
Durch das ganze Leid, das ich in den<br />
Krankenhäusern gesehen habe, ist mir<br />
bewusst geworden, dass es vielen noch<br />
viel schlechter geht. Das Gute ist, dass<br />
EGPA immer bekannter wird, es sehr gute<br />
Therapien gibt und man ein normales<br />
Leben mit der Erkrankung führen kann.<br />
Mein Tipp: Gebt niemals auf, bleibt positiv<br />
und hört niemals auf zu kämpfen – es<br />
lohnt sich!<br />
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Eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA)<br />
Selten gesehen, häufig übersehen<br />
Eosinophile gehören zu den weißen Blutkörperchen, die eine wichtige Rolle in unserer Immunabwehr spielen. Bei Menschen<br />
mit eosinophiler Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA) steigt die Anzahl der Eosinophilen aus bisher ungeklärter Ursache<br />
stark an. Dadurch kommt es zu entzündlichen Veränderungen an kleinen und mittelgroßen Blutgefäßen, einer Vaskulitis, was<br />
zur Schädigung verschiedenster Organsysteme führt. Bei besonders schweren Verläufen kann die Erkrankung tödlich sein.<br />
Pro Jahr treten nur etwa 11 bis 18 Fälle pro eine Million Menschen auf, was EGPA zu einer seltenen Erkrankung macht.<br />
Prof. Dr. Jens<br />
Dieter Thiel<br />
Klinik für Rheumatologie<br />
und<br />
Klinische Immunologie<br />
am<br />
Universitätsklinikum<br />
Freiburg,<br />
Deutschland,<br />
und Leiter der<br />
Klinischen<br />
Abteilung für<br />
Rheumatologie<br />
und Klinische<br />
Immunologie am<br />
medizinischen<br />
Klinikum Graz,<br />
Österreich.<br />
Welche Behandlungsmöglichkeiten<br />
gibt es heute für die Betroffenen?<br />
Generell richtet sich die Behandlung nach der<br />
individuellen Symptomatik, den Organbeteiligungen<br />
sowie dem Schweregrad der Erkrankung.<br />
In der Regel wird mit der Gabe von<br />
Glukokortikoiden („Kortison“) gestartet, um die<br />
Entzündung, die als Folge der überschießenden<br />
Immunreaktion entsteht, rasch in den Griff zu<br />
bekommen. Häufig werden zusätzlich Immunsuppressiva<br />
notwendig. Diese Ansätze zielen<br />
sehr breit auf die überschießende Immunreaktion<br />
ab. Es können auch Biologika in der Therapie<br />
der EGPA eingesetzt werden, die<br />
zielgerichtet in den Krankheitsprozess eingreifen<br />
und die Behandlungsoptionen des Arztes erweitern.<br />
NP-DE-MPL-AD-<br />
VR-220003; 02/2022<br />
Prof. Thiel, Sie betreuen seit vielen<br />
Jahren Patient*innen mit EGPA.<br />
Worin besteht die besondere Herausforderung<br />
bei dieser Erkrankung?<br />
Bei vielen entzündlich-rheumatologischen <strong>Erkrankungen</strong><br />
liegt zwischen erstmaligem Auftreten<br />
und der Diagnosestellung eine gewisse Zeit.<br />
Aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes,<br />
ist diese Latenzzeit bei EGPA besonders ausgeprägt.<br />
Die Betroffenen haben häufig schon<br />
einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie zu<br />
uns kommen. Oft ist es durch die Vaskulitis dann<br />
schon zu irreparablen Organschäden beispielsweise<br />
der Lunge, der Haut, des Herzens, der<br />
Nieren oder des Nervensystems gekommen.<br />
Wieso wird die EGPA häufig erst so<br />
spät diagnostiziert? Und wie fällt sie<br />
dann letztlich auf?<br />
In der ersten Phase der Erkrankung, tritt meist<br />
eine Asthma-Symptomatik auf, mit der die Patientinnen<br />
und Patienten beim Lungenfacharzt<br />
vorstellig werden. Dieser behandelt dann das<br />
Asthma. Die klassische Asthmatherapie ist aber<br />
nicht in der Lage, den Krankheitsverlauf der zugrunde<br />
liegenden EGPA zu unterbrechen. Die<br />
Entzündungsreaktion und eine Eosinophilie bleiben<br />
oft bestehen und bereiten den Weg für den<br />
Übergang in die zweite Phase, in der die Gefäßentzündungen<br />
stärker werden und beginnen,<br />
Die Betroffenen haben häufig schon einen langen<br />
Leidensweg hinter sich, bis sie zu uns kommen.<br />
Organe zu schädigen. Oft wird dann ein weiterer<br />
Facharzt aufgesucht. Bis erkannt wird, dass<br />
die unterschiedlichen Manifestationen miteinander<br />
in Verbindung stehen, dauert es häufig einige<br />
Zeit. Das ist der Grund, warum Zentren wie<br />
unseres stark an einem engen interdisziplinären<br />
Austausch mit den regionalen Arztpraxen interessiert<br />
sind. Mit Pneumologen hätten wir als<br />
Rheumatologen von Haus aus eher weniger<br />
Kontakt, doch bei der EGPA ist Asthma ein Kardinalsyndrom,<br />
das in Verbindung mit bestimmten<br />
Biomarkern im Blutbild, ggf. auch<br />
Beteiligung der oberen Atemwege z. B. in Form<br />
von Nasenpolypen die Alarmglocken läuten lassen<br />
sollte.<br />
Wenn die Patienten zu uns kommen, sind sie<br />
meist bereits in der zweiten oder dritten Phase<br />
der Erkrankung, die geprägt ist von der Vaskulitis.<br />
Je nach betroffenem Gewebe führt diese zu<br />
vielfältigen Symptomen, die von entzündlichen<br />
Hautveränderungen, kardio-vaskulären Symptomen,<br />
bis hin zu neurologischen Auffälligkeiten<br />
mit Muskelschmerzen und Taubheitsgefühlen<br />
in Armen und Beinen reicht. Begleitend<br />
bestehen häufig eine deutliche Abgeschlagenheit<br />
und Leistungsminderung.
12 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
Hämophilie-<br />
Betroffene werden<br />
von Beginn an ihrem<br />
Alter entsprechend<br />
in die Therapie einbezogen.<br />
Je älter<br />
die Patienten<br />
werden, umso<br />
mehr Verantwortung<br />
können sie<br />
für den eigenen<br />
Therapieerfolg<br />
übernehmen.<br />
FOTO: SHUTTERSTOCK<br />
Hämophilie-Therapie im Kindes- und Jugendalter –<br />
Motivation zur Eigenverantwortung<br />
Hämophilie, in ihren verschiedenen Ausprägungen, zählt zu den seltenen hämatologischen<br />
<strong>Erkrankungen</strong> und ist bisher nicht heilbar. Allerdings ist die Erkrankung, bei der Betroffenen<br />
Gerinnungsfaktoren im Blut fehlen, mittlerweile gut behandelbar, sodass ein weitgehend normales Leben<br />
möglich ist. Dabei ist es natürlich wichtig, dass die Therapie regelmäßig und gewissenhaft durchgeführt<br />
wird. Und genau das kann im jugendlichen Alter manchmal schwierig werden. Ein Gespräch mit Tobias<br />
Becker, Hämophilie-A-Patient und Vorstandsmitglied der IGH e.V., und Dr. Dr. med. Christoph Königs,<br />
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Hämostaseologe am Universitätsklinikum Frankfurt am<br />
Main, über mögliche Stolpersteine und die Motivation jugendlicher Patienten zur Eigenverantwortung.<br />
Text Hanna Sinnecker<br />
Tobias Becker<br />
Hämophilie-A-<br />
Patient und Mitglied<br />
des Vorstandes der<br />
IGH e. V.<br />
Herr Becker, Sie leben mit einer schweren<br />
Hämophilie A. Wann wurden Sie diagnostiziert<br />
und wie ging es Ihren Eltern damit?<br />
Die Hämophilie wurde innerhalb meines ersten<br />
Lebenshalbjahres festgestellt. Wie viele andere<br />
Hämophilie-Betroffene hatte ich viele blaue<br />
Flecken am Körper, direkt nach der Geburt<br />
hatte ich einen größeren Bluterguss am Kopf,<br />
der nicht ganz leicht zu behandeln war. Bei mir<br />
kam es aber nie zum Worst-Case-Szenario, das<br />
viele Eltern betroffener Kinder erleben: dass bei<br />
den blauen Flecken fälschlicherweise zunächst<br />
an Kindesmisshandlungen gedacht wird. Meine<br />
Eltern wurden direkt zu einem Hämophilie-<br />
Zentrum geschickt, da die Ärzte bereits die<br />
richtige Vermutung hatten. Dort wurde die<br />
Diagnose gestellt. Für meine Eltern, die beide<br />
Ärzte sind, war das ein Schock. Denn damals,<br />
wie heute, war auch unter Ärzten das Wissen<br />
über die Hämophilie noch nicht sehr verbreitet.<br />
Die Hämophilie ist Ihr lebenslanger Begleiter.<br />
Wie war das für Sie als Jugendlicher?<br />
Mit welchen Herausforderungen sahen Sie<br />
sich konfrontiert?<br />
TB: Ich kam mit der Hämophilie grundsätzlich<br />
immer recht gut klar. Ich bin sehr behütet aufgewachsen,<br />
meine Eltern haben mich immer<br />
optimal unterstützt. Aber es gab natürlich<br />
Einschränkungen. Ich wusste, dass ich mich<br />
regelmäßig spritzen muss, daher hieß es an<br />
drei Tagen der Woche, früher aufzustehen,<br />
damit das vor der Schule noch erledigt werden<br />
konnte. Und es gab manche Dinge, die ich eher<br />
nicht tun sollte. Ich wollte zum Beispiel immer<br />
gern mit meinen Freunden im Verein Fußball<br />
spielen, aber das Verletzungsrisiko und somit<br />
die Gefahr von Blutungen ist da recht hoch.<br />
Ich habe dann angefangen, im gleichen Verein<br />
Tennis zu spielen. So konnte ich wenigstens das<br />
gleiche Trikot wie meine Freunde tragen und<br />
mich dort aufhalten, wo meine Freunde waren.<br />
Für meine Freunde war meine Hämophilie aber<br />
nie ein Problem, im Gegenteil: Sie waren eher<br />
interessiert und haben sich schützend vor mich<br />
gestellt, wenn es nötig war.<br />
Ich glaube, meine Eltern hatten damals die<br />
größeren Herausforderungen zu bewältigen.<br />
Zusätzlich zur ständig präsenten Sorge um<br />
mich mussten sie sich mit Erzieher*innen,<br />
Lehrer*innen und Rektor*innen verständigen.<br />
Vor jeder Klassenfahrt mussten sie alles regeln,<br />
damit die verantwortlichen Personen Bescheid<br />
wussten, dass ich mit Hämophilie A lebe, was<br />
bezüglich der Medikamente zu tun ist und wie<br />
man sich im Ernstfall verhalten muss.<br />
Herr Dr. Dr. Königs, Sie behandeln Kinder<br />
und Jugendliche mit Hämophilie: Deckt<br />
sich das mit Ihren Erfahrungen, dass sowohl<br />
Kinder als auch Eltern verschiedene<br />
Herausforderungen haben?<br />
Natürlich spielt beides eine Rolle. Ein kleines<br />
Kind, das erst ein paar Monate alt ist, findet es<br />
sicher nicht schön, regelmäßig im Rahmen der<br />
Therapie gestochen zu werden. Aber natürlich<br />
liegt die Belastung hier erst mal eher bei den<br />
Eltern. Das verlagert sich mit zunehmendem<br />
Alter immer mehr auf den Betroffenen selbst.<br />
Bei uns im Zentrum bemühen wir uns daher<br />
aktiv darum, bereits die kleineren Kinder ihrem<br />
Alter entsprechend mit einzubeziehen. Sie<br />
können mithelfen, das Spritzen erlernen, bis sie<br />
es irgendwann selbst übernehmen können. Mit<br />
zunehmendem Alter der Betroffenen versuche<br />
ich auch, die Eltern öfter einmal auszuklammern,<br />
damit meinen Patienten klar wird: Das<br />
ist deine Hämophilie, nicht die deiner Mutter<br />
oder deines Vaters.<br />
Man kann mit einer Hämophilie heute gut<br />
leben, aber der Preis ist hoch. Allein, dass<br />
morgens, bevor es zur Schule geht, gespritzt<br />
werden muss oder dass bei sportlichen Aktivitäten<br />
berücksichtigt werden muss, dass der<br />
Faktorspiegel dafür passen sollte: Das sind alles<br />
Dinge, die zum Leben eines Hämophilie-Betroffenen<br />
dazugehören. Wir sehen unsere Aufgabe<br />
im Hämophilie-Zentrum daher besonders dort,<br />
die Kinder und ihre Eltern dabei zu unterstützen,<br />
damit zurechtzukommen.
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
13<br />
Warum ist Therapietreue denn so wichtig,<br />
gerade mit Blick auf die Zukunft?<br />
CK: In erster Linie damit Betroffene gesund bleiben.<br />
Denn der Schaden, der heute gesetzt wird,<br />
zum Beispiel durch eine Gelenkblutung, wird<br />
sich später bemerkbar machen. Die Gelenke<br />
sind das Gedächtnis der Hämophilie-Therapie.<br />
Heißt: Die Blutung, die im Kindesalter entsteht,<br />
sorgt für einen Schaden, der auch dauerhaft<br />
bestehen bleiben kann. Das sehen wir<br />
heute deutlich bei jungen Erwachsenen, die<br />
erst spät mit einer Prophylaxetherapie angefangen<br />
haben, da sie einen deutlich schlechteren<br />
Gelenkstatus aufweisen als Betroffene,<br />
die bereits früh und suffizient prophylaktisch<br />
behandelt wurden und gute Medikamentenspiegel<br />
erreichen.<br />
TB: Das ist tatsächlich auch etwas, was mich<br />
beunruhigt: Es gibt Studien, die darauf hindeuten,<br />
dass es z.B. Mikroblutungen geben kann,<br />
die man gar nicht bemerkt, die aber trotzdem<br />
Schaden anrichten und den Gelenkstatus<br />
langfristig negativ beeinflussen. Wenn ich<br />
daran denke, mit welchen Faktor-Leveln ich<br />
manchmal auf dem Tennisplatz aktiv war, sind<br />
diese im Vergleich zu dem, was heute in der<br />
Prophylaxe angestrebt wird, grauenvoll gewesen.<br />
Das zeigt aber umso mehr, dass man die<br />
heute verfügbaren Möglichkeiten ausschöpfen<br />
sollte, um später keine böse Überraschung zu<br />
erleben.<br />
Aus Ihrer Erfahrung: Wie können Eltern betroffener<br />
Kinder/Jugendlicher und Behandler<br />
optimal zusammenarbeiten?<br />
CK: Wichtig ist erst einmal zu betonen, dass<br />
wir in einem umfassenden Behandlungsteam<br />
arbeiten, das aus Hämophilieassistent*innen,<br />
Sozialarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen,<br />
Ärzt*innen etc. besteht. Das Wichtigste ist<br />
dann für alle Beteiligten, offen und ehrlich zu<br />
kommunizieren. Man muss Probleme benennen<br />
und darüber sprechen, was nicht funktioniert,<br />
Scham ist hier absolut fehl am Platz. Man muss<br />
den graduellen Übergang in die Eigenverantwortlichkeit<br />
der Betroffenen schaffen. Das ist<br />
Teamwork. Es ist ja heutzutage nicht mehr so,<br />
dass das Behandlungsteam sagt, was gemacht<br />
wird und die Eltern das dann durchsetzen. Der<br />
Patient wird altersentsprechend und früh mit<br />
eingebunden im Hinblick auf seine Ideen, Ziele,<br />
Therapieplanung und -durchführung.<br />
Wie kann man jugendliche Patienten motivieren,<br />
Eigenverantwortung für den Erfolg<br />
ihrer Therapie zu übernehmen, ohne als<br />
Arzt oder Eltern zu viel Druck auszuüben?<br />
CK: Hier gehen zwei Dinge Hand in Hand:<br />
Der Betroffene muss irgendwann “aus dem<br />
Nest hüpfen” und selbst Verantwortung<br />
übernehmen. Wenn die Mutter eines 22 Jahre<br />
alten Patienten anruft, um sein Faktorpräparat<br />
zu bestellen, dann ist dieser Sprung aus dem<br />
Nest deutlich überfällig. Auf der anderen<br />
Seite müssen die Eltern die Verantwortung<br />
irgendwann auch abgeben, heißt: Selbstständigkeit<br />
unterstützen und loslassen, wo es nötig<br />
ist. Und hier kommt Motivation durch positive<br />
Erfahrung ins Spiel: Wenn die Betroffenen<br />
selbst merken, dass sie durch Therapietreue<br />
mehr Möglichkeiten und Freiheiten und<br />
keine Blutungen und Schmerzen bekommen,<br />
dann ist das die ideale Motivation, um<br />
weiterzumachen und selbst Verantwortung zu<br />
übernehmen.<br />
Ein Beispiel: Einer meiner Patienten, etwa zehn<br />
Jahre alt, bisher lief alles unkompliziert, dann<br />
haderte er sehr mit seiner Hämophilie, da seine<br />
Eltern ihn stets zur Vorsicht mahnten und<br />
gewisse Dinge nicht erlaubten, zum Beispiel<br />
Übernachtungen bei Freunden. Wir haben<br />
dann gemeinsam besprochen, dass er weiß,<br />
wie er Eltern und das Hämophilie-Zentrum<br />
im Notfall erreicht. Und er kann auch schon<br />
selbst sein Medikament spritzen. Wir haben<br />
also gemeinsam den Weg frei gemacht für den<br />
Übernachtungsbesuch. Das hat ihm einen<br />
unheimlichen Motivationsschub verpasst und<br />
gleichzeitig die Eltern aufgefangen.<br />
Was hätten Sie sich als Jugendlicher an<br />
Hilfe und Unterstützung gewünscht und<br />
was möchten Sie anderen Betroffenen mit<br />
auf den Weg geben?<br />
TB: Ich habe mich tatsächlich immer sehr<br />
gut versorgt gefühlt. Sicher hätten die Dinge<br />
komfortabler sein können, aber manchmal<br />
brauchen die Dinge eben einfach Zeit,<br />
besonders wenn es um die Entwicklung besserer<br />
Medikamente geht, die nicht mehr so häufig<br />
gespritzt werden müssen. Auch die Herangehensweise<br />
an den Alltag hat sich verändert. Bei<br />
mir hieß es noch oft: Das geht nicht, das darfst<br />
du nicht. Das sieht heute aber schon anders<br />
aus: Hier wird jetzt eher geschaut, was individuell<br />
für Betroffene möglich ist, ohne direkt<br />
nur mit Verboten zu arbeiten.<br />
Beim Übergang in die Erwachsenenmedizin<br />
wäre es sicher gut gewesen, wenn ich etwas<br />
strukturierter herangegangen wäre, in der<br />
Hinsicht, dass ich Termine vor- und nachbereite<br />
und Themen konkret anspreche, die für<br />
mich in der jeweiligen Lebensphase relevant<br />
gewesen sind.<br />
CK: Hier haben wir in der Medizin noch einiges<br />
zu lernen. Das Feld der Transitionsmedizin,<br />
also des Übergangs von der Kinder- in die<br />
Erwachsenenmedizin, ist in Deutschland noch<br />
relativ jung. Und dann muss man auch dazu<br />
wissen, dass es bei chronischen <strong>Erkrankungen</strong><br />
immer eine Herausforderung ist, das Behandlungsteam<br />
zu wechseln. Hier können strukturierte<br />
Programme und integrierte Zentren<br />
helfen.<br />
Dr. Dr. med.<br />
Christoph Königs<br />
Facharzt für Kinderund<br />
Jugendmedizin<br />
und Hämostaseologe<br />
am Universitätsklinikum<br />
Frankfurt<br />
am Main<br />
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Das Portal rund ums Thema Hämophilie<br />
haemcare.de ist ein umfassendes Portal für<br />
Menschen mit Hämophilie und ihre Angehörigen.<br />
Hier findet man alles Wichtige über<br />
Blutgerinnungsstörungen und wie ein möglichst<br />
normaler Alltag mit der Erkrankung gelingen<br />
kann.<br />
Umfassendes Wissen ist der Schlüssel<br />
Die eigene Erkrankung zu verstehen ist der<br />
Schlüssel, um eine optimistische Einstellung<br />
zu behalten und die Therapie so in den Alltag<br />
zu integrieren, dass sie die bestmöglichen<br />
individuellen Ergebnisse erzielen kann.<br />
Daher finden Hämophilie-Betroffene auf<br />
haemcare.de umfassende Informationen zur<br />
Erkrankung, zur Therapie und zu begleitenden<br />
Behandlungsoptionen. Aber auch zu<br />
Themen wie Fitness, Ernährung, Alternativmedizin<br />
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und Covid-Schutzimpfung oder zum GSAV<br />
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HaemExperten updaten in Form von kurzen<br />
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Damit die Integration der verschiedenen Aspekte<br />
der Hämophilie in den Alltag ganz einfach<br />
gelingt, können sich Betroffene die<br />
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eigene Smartphone zum Therapiebegleiter<br />
und Patienten können einen wichtigen Teil<br />
ihrer Behandlung selbst in die Hand nehmen!<br />
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Speziell für die Reisezeit können sich Betroffene<br />
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so weiß man Bescheid, welche Dokumente<br />
im Urlaub mit dabei sein müssen, ob man<br />
den Faktor ungekühlt mitnehmen kann, oder<br />
wo sich im Zielland das nächste Hämophiliezentrum<br />
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um miteinander ins Gespräch zu kommen,<br />
zum Beispiel durch den „Talk am<br />
Mittwoch“ in Zusammenarbeit mit der IGH<br />
e.V.. Das Portal informiert außerdem über die<br />
verschiedenen Patientenorganisationen, an die<br />
sich Betroffene und ihre Eltern wenden können.<br />
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Hilfestellungen für Betroffene und ihre Eltern.<br />
Aber auch Physiotherapeuten, die eine tragende<br />
Rolle in der Behandlung von Hämophiliepatienten<br />
spielen, finden in Form der<br />
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durch das HaemAcademy-Team, bestehend<br />
aus einem interdisziplinären Team von Hämostaseologen,<br />
Orthopäden und Physiotherapeuten:<br />
Dr. Günter Auerswald, Martina<br />
Bürhlen, Susan Halimeh, Björn Habermann<br />
und Marc Rosenthal und Bianca Wiese. Physiotherapeuten<br />
können hier direkt zu spannenden<br />
Weiterbildungen angemeldet<br />
werden.<br />
Über Novo Nordisk<br />
Deutschland<br />
Novo Nordisk ist ein weltweit führendes<br />
Unternehmen im Gesundheitswesen, das<br />
1923 gegründet wurde und seinen Hauptsitz<br />
in Dänemark hat. Unser Anspruch ist es,<br />
Veränderungen voranzutreiben, um Diabetes<br />
und andere schwerwiegende chronische<br />
Krankheiten wie Adipositas und seltene<br />
Blut- und Stoffwechselerkrankungen zu besiegen.<br />
Dafür arbeiten wir an wissenschaftlichen<br />
Innovationen bis hin zur Heilung von<br />
Krankheiten. Wir fördern den Zugang zu unseren<br />
Produkten für Patientinnen und Patienten<br />
weltweit und engagieren uns aktiv für<br />
Prävention. Novo Nordisk beschäftigt circa<br />
47.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in<br />
80 Ländern und vermarktet seine Produkte<br />
in rund 170 Ländern. Am deutschen Hauptsitz<br />
in Mainz sind rund 480 Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter tätig.<br />
V5 — Final<br />
www.novonordisk.de<br />
DE22CH00015
14 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
FOTO: SHUTTERSTOCK<br />
„Junge Betroffene brauchen persönliche<br />
Ziele, für die sich die Anstrengung lohnt“<br />
Die Mukoviszidose ist eine seltene, erblich bedingte Stoffwechselerkrankung, bei welcher der<br />
Wasser-Salz-Haushalt der Zellen gestört ist. In der Folge produzieren die innersekretorischen Drüsen<br />
des Körpers z.B. in der Lunge oder in der Bauchspeicheldrüse nur zähflüssige Sekrete, wodurch<br />
fortschreitend die Funktion verschiedener Organe einschränkt wird. Die Ursache ist ein defektes<br />
oder fehlendes CFTR-Protein als Folge bestimmter Mutationen im CFTR-Gen 1 . Die Erkrankung ist bis<br />
heute nicht heilbar, die mediane Lebenserwartung Betroffener liegt aber weltweit mittlerweile bei über<br />
50 Jahren 2 . Seit 2012 stehen zusätzlich zur rein symptomatischen Therapie zunehmend moderne<br />
medikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung, die näher an der Krankheitsursache angreifen und mit<br />
der rund 80% der Betroffenen behandelt werden können. Diese Medikamente können das Fortschreiten<br />
der Erkrankung verlangsamen, was die Lebensqualität und Lebenserwartung deutlich verbessern kann.<br />
Wir sprachen mit der Diplom-Psychologin Christine Lehmann, die am Mukoviszidose-Zentrum der<br />
Charité Berlin Mukoviszidose-Patient*innen betreut.<br />
Text Hanna Sinnecker<br />
Christine<br />
Lehmann<br />
Diplom-Psychologin<br />
am Mukoviszidose-Zentrum<br />
der<br />
Charité Berlin<br />
Frau Lehmann, Sie sind spezialisiert auf die<br />
psychosoziale Betreuung von Mukoviszidose-Patient*innen.<br />
Warum ist ein früher Therapiebeginn,<br />
möglichst direkt nach Diagnosestellung,<br />
so wichtig?<br />
Das Mukoviszidosescreening ist seit 2016<br />
Bestandteil des Neugeborenenscreenings. Vor<br />
diesem Zeitpunkt hatten die betroffenen Kinder<br />
und Eltern sehr häufig einen langen Leidensweg<br />
hinter sich, bis die Diagnose Mukoviszidose gestellt<br />
und die richtige Therapie eingeleitet wurde.<br />
Demgegenüber bietet die frühe Diagnosestellung<br />
den Vorteil, von Anfang an zu wissen, womit man<br />
es zu tun hat, um frühzeitig in das Krankheitsgeschehen<br />
eingreifen und es medizinisch-therapeutisch<br />
positiv beeinflussen zu können.<br />
Wie geht es aber den Eltern mit der frühen<br />
Diagnosestellung?<br />
Die durch das Neugeborenenscreening diagnostizierten<br />
Kinder haben in den meisten Fällen<br />
noch keine für die Eltern wahrnehmbaren<br />
Krankheitssymptome, d.h. es ist für die Eltern<br />
nicht gleich erkennbar, dass ihrem Kind „etwas<br />
fehlt“. Sie empfinden ihr neugeborenes Kind als<br />
„gefühlt gesund“ und erleben die Diagnosestellung<br />
daher oft mit Fassungslosigkeit und Irritation,<br />
manche auch mit einer vorübergehenden<br />
Verunsicherung in der Bindung zum Kind.<br />
Diese emotionalen Erschütterungen auszuhalten<br />
und zu überwinden, die Diagnose nach<br />
und nach zu akzeptieren, ist eine besondere<br />
Anpassungsleistung, die in den Mukoviszidose-<br />
Ambulanzen durch die Behandler der verschiedenen<br />
Berufsgruppen kompetent begleitet<br />
werden kann.<br />
Mit welchen Herausforderungen sehen sich<br />
besonders Eltern betroffener Kinder konfrontiert?<br />
Besonders bedeutsam auf der Elternseite sind<br />
zwei Bereiche: die Bewältigung von eigener<br />
emotionaler Belastung sowie die besonderen<br />
Erziehungsaufgaben, die sich durch die chronische<br />
Erkrankung des Kindes ergeben.<br />
Eine besondere emotionale Belastung für Eltern<br />
liegt darin, sich mit der drohenden Progredienz<br />
und der immer noch eingeschränkten<br />
Lebenserwartung bei Mukoviszidose auseinanderzusetzen.<br />
Schuldgefühle, Befürchtungen,<br />
Verlustängste – wie ein Damoklesschwert<br />
schwebt die ständige Sorge um das Kind über<br />
der Familie. Es liegt ja in der Verantwortung<br />
der Eltern als „Co-Therapeuten“, die komplexe<br />
und zeitaufwendige Therapie täglich im Alltag<br />
umzusetzen. Auf der einen Seite ist es ganz<br />
zentral, dass Eltern durch ihr Therapiehandeln
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
15<br />
Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen können,<br />
auf der anderen Seite entstehen nicht selten<br />
Therapiestress und Versagensängste, dies alles<br />
zu schaffen. Trotz verbesserter Therapiemöglichkeiten<br />
und positiverer Zukunftsperspektiven<br />
bleibt in den meisten Fällen die Progredienzangst<br />
bestehen, die aktivieren, aber auch lähmen kann.<br />
Gleichzeitig ist es den Eltern wichtig, ihr Kind<br />
mit Mukoviszidose in seiner psychosozialen<br />
Entwicklung zu unterstützen und für sein Leben<br />
mit Besonderheiten und Einschränkungen zu<br />
stärken. Mit ihren Bemühungen, ein möglichst<br />
„normales“ Leben zu ermöglichen, sind die<br />
meisten Familien erfolgreich. Auch haben sich<br />
die Bedingungen für Inklusion und Nachteilsausgleiche<br />
in Kita, Schule und Ausbildung sehr<br />
verbessert, sodass auch dem Kind die Gestaltung<br />
seiner„besonderen Normalität“ meist gut gelingt.<br />
Das Vorgehen in den Mukoviszidose-Ambulanzen, in der<br />
Sprechstunde die Jugendlichen als Hauptansprechpartner<br />
zunehmend selbst zu Wort kommen zu lassen, soll den<br />
Transitionsprozess unterstützen.<br />
Aufgrund der neuen Therapieoptionen ist<br />
die Lebenserwartung von Mukoviszidose-Patient*innen<br />
in den letzten Jahren kontinuierlich<br />
gestiegen, wenn Patient*innen<br />
die Therapie gewissenhaft durchführen.<br />
Welche Herausforderungen sehen Sie<br />
speziell beim Übergang vom Kindes- zum<br />
Erwachsenenalter?<br />
Der Prozess der Transition, also des<br />
Hineinwachsens in die zunehmende Selbstverantwortung<br />
für die Therapie, begleitet die<br />
Pubertät. Wie auch in anderen Bereichen des<br />
Lebens eines Jugendlichen gibt es Phasen des<br />
„Verpeilt-Seins“, des "Null-Bock-Habens" und<br />
der Opposition gegenüber (Therapie-)Regeln,<br />
die von Erwachsenen gemacht scheinen.<br />
Nicht wenige Jugendliche benötigen für die<br />
Einsicht in die Therapienotwendigkeit auch<br />
einmal die Erfahrung am eigenen Körper, dass<br />
das Weglassen von Therapie tatsächlich zur<br />
Verschlechterung führt, z.B. zu mehr Husten,<br />
unangenehmen Bauchschmerzen oder reduzierten<br />
Lungenfunktionswerten. Zusätzlich<br />
ist wichtig, dass Eltern loslassen lernen und<br />
den Jugendlichen die Verantwortung nach<br />
und nach zutrauen. Dies sollte im Idealfall<br />
schrittweise und angepasst an die Reife des/der<br />
Jugendlichen und seiner/ihrer Motiviertheit<br />
und Selbstkompetenz geschehen. Im Alltag<br />
ergeben sich erfahrungsgemäß hieraus jedoch<br />
häufig Konflikte in der Familie.<br />
Das Vorgehen in den Mukoviszidose-Ambulanzen,<br />
in der Sprechstunde die Jugendlichen<br />
als Hauptansprechpartner zunehmend selbst<br />
zu Wort kommen zu lassen, soll den Transitionsprozess<br />
unterstützen.<br />
Welche Hilfs- und Unterstützungsangebote<br />
brauchen Jugendliche und junge Erwachsene<br />
aus Ihrer Sicht, um an der Therapie<br />
dranzubleiben?<br />
Wenn Eltern mehr und mehr in die Rolle eines<br />
„Coaches“ rücken, braucht es für Jugendliche<br />
und junge Erwachsene relevante Rollenmodelle<br />
aus der Gleichaltrigengruppe. Zu hören,<br />
wie andere ihr Leben mit Mukoviszidose<br />
gestalten oder die Therapieumsetzung in<br />
den Alltag schaffen, sich auszutauschen, wie<br />
man krankheitsassoziierte Schwierigkeiten<br />
erlebt, und gemeinsam Problemlösungen zu<br />
diskutieren– dies sind hilfreiche Schritte auf<br />
dem Weg in das Erwachsenwerden. Wesentlich<br />
aus psychologischer Sicht ist ebenso für diese<br />
Altersgruppe, kurzfristige wie langfristige<br />
persönliche Ziele zu entwickeln, für deren<br />
Erreichen sich Einsatz und Anstrengung<br />
lohnen – und eben auch der tägliche Therapieaufwand.<br />
Digitale Möglichkeiten wie soziale Netzwerke<br />
oder Online-Veranstaltungen und virtuelle<br />
Treffen sind heutzutage gute Möglichkeiten,<br />
die genannten Bewältigungsstrategien<br />
umsetzen zu können.<br />
1<br />
Cystic Fibrosis Foundation.<br />
Basics of The<br />
CFTR Protein. Online<br />
verfügbar unter: www.<br />
cff.org/Research/<br />
Research-Into-the-<br />
Disease/Restore-<br />
CFTR-Function/<br />
Basics-of-the-CFTR-<br />
Protein/" www.cff.org/<br />
Research/Research-<br />
Into-the-Disease/<br />
Restore-CFTR-<br />
Function/Basics-ofthe-CFTR-Protein/.<br />
Letzter Zugriff: Oktober<br />
2021.<br />
2<br />
Cystic Fibrosis Foundation.<br />
CFF Patient<br />
Registry, Annual Data<br />
Report 2020<br />
Der Mukoviszidose e. V. – Bundesverband Cystische Fibrose (CF)<br />
Der Mukoviszidose e.V. setzt sich seit über 50 Jahren für die Belange von Menschen mit Mukoviszidose und ihren Angehörigen<br />
ein und vernetzt seither die Patienten, ihre Angehörigen, Ärzte, Therapeuten und Forscher. Er leistet mit seinen vielfältigen Angeboten<br />
Hilfe zur Selbsthilfe, bietet Unterstützung in Notsituationen und ist ein kompetenter Ansprechpartner für Betroffene<br />
und ihre Familien. Das Ziel: jedem Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben mit Mukoviszidose zu ermöglichen. Mit<br />
seiner Forschungsförderung leistet der Verein einen wichtigen Beitrag, um die Krankheit eines Tages heilen zu können. Auch<br />
die Aus- und Fortbildung von in der Mukoviszidose-Behandlung Tätigen ist ein wichtiges Anliegen des Mukoviszidose e.V. Darüber<br />
hinaus setzt er sich für die Belange der Betroffenen gegenüber Entscheidungsträgern in Politik, dem Gesundheitswesen<br />
und der Wirtschaft ein. Der Verein finanziert sich fast ausschließlich aus Spenden.<br />
www.muko.info<br />
ANZEIGE<br />
Die digitale Plattform<br />
mit Informationen und<br />
Services rund um CF.<br />
www.CFSource.de<br />
AT-32-2200005
16 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
Pulmonale Arterielle<br />
Hypertonie (PAH) –<br />
Wenn (zu) hoher Blutdruck in der<br />
Lunge den Atem nimmt<br />
Text Doreen Brumme<br />
Prof. Dr. med.<br />
Hanno Leuchte<br />
Chefarzt für Innere<br />
Medizin II und<br />
Ärztlicher Direktor<br />
am Krankenhaus<br />
Neuwittelsbach,<br />
Klinik der Barmherzigen<br />
Schwestern<br />
München<br />
D<br />
ie Pulmonale Arterielle Hypertonie<br />
(PAH) ist eine seltene Erkrankung,<br />
die den Blutdruck in den Lungenadern<br />
erhöht, was kurzatmig<br />
macht und das Herz belastet. Unbehandelt<br />
ist die PAH lebensbedrohlich. Prof. Dr. med.<br />
Hanno Leuchte, Chefarzt für Innere Medizin<br />
II und Ärztlicher Direktor am Krankenhaus<br />
Neuwittelsbach, zeigt im Interview Warnsignale<br />
und Risikogruppen für eine PAH auf<br />
und erklärt bewährte Behandlungen.<br />
Womit bekommen es Patienten zu tun, die<br />
an PAH leiden?<br />
Die sich meist auf leisen Sohlen einschleichende<br />
Blutdruckerhöhung in den<br />
Lungenadern beeinträchtigt den Blutfluss<br />
in den Lungengefäßen. Das führt zu einer<br />
Mehrbelastung des rechten Herzens. Es gilt:<br />
Je weiter die Erkrankung an den Lungenadern<br />
fortschreitet, desto mehr leidet das<br />
Herz. Unbehandelt führt die PAHinnerhalb<br />
weniger Jahre zu erheblichen körperlichen<br />
Beeinträchtigungen und letztlich zum Tod.<br />
Erfreulicherweise gibt es mittlerweile gute<br />
Behandlungsoptionen.<br />
Wie zeigt sich die PAH?<br />
PAH-Patienten berichten von eingeschränkter<br />
Leistungsfähigkeit und Kurzatmigkeit.<br />
Das sind beides Beschwerden, die sich in<br />
Ruhemomenten oft noch gut ausgleichen<br />
lassen. Eine körperliche Belastung jedoch,<br />
zum Beispiel das Treppensteigen, wird der<br />
Lunge im Zusammenspiel mit dem Herzen<br />
schnell zu viel. Typisch ist, dass die Kurzatmigkeit<br />
nicht trainierbar ist und sich in der<br />
Regel verstärkt, wenn auch langsam. Zunehmende<br />
Wassereinlagerungen in den Beinen<br />
(Ödeme) und/oder starkes Herzklopfen unter<br />
Belastung, oft gefolgt von einer größeren<br />
Erschöpfung, gehören ebenfalls zu den<br />
Symptomen. Bei manchen Patienten färben<br />
sich auch die Lippen oder Fingerspitzen blau<br />
(Zyanose).<br />
Wie viele Betroffene gibt es in<br />
Deutschland?<br />
Man geht hierzulande von zwei- bis fünftausend<br />
Fällen aus, wobei eine Dunkelziffer<br />
zu befürchten ist. Dazu muss man wissen,<br />
dass auch in Deutschland nicht selten<br />
mehrere Jahre vom Auftreten klassischer<br />
Symptome bis zur sicheren Diagnose vergehen.<br />
Wen trifft die PAH?<br />
Während die PAH früher im Wesentlichen als<br />
eine Erkrankung junger Frauen galt, wissen<br />
wir heute, dass sie Menschen jeden Alters<br />
trifft. Das mittlere Erkrankungsalter liegt in<br />
Deutschland bei etwa 65 Jahren.<br />
Gibt es Risikogruppen?<br />
Ein Risiko besteht für Patienten<br />
mit Bindegewebserkrankungen, insbesondere<br />
der Systemsklerose und der Sonderform<br />
CREST-Syndrom,<br />
mit angeborenem Herzfehler, auch wenn<br />
dieser bereits korrigiert wurde,<br />
mit Lebererkrankungen,<br />
mit diversen Infektionskrankheiten.<br />
Zudem können verschiedene Medikamente<br />
und Stimulanzien die Entwicklung einer<br />
PAH fördern, falls eine Anfälligkeit vorliegt.<br />
Wie wird die PAH diagnostiziert?<br />
Auch wenn die PAH eine Lungenerkrankung<br />
ist, lässt sie sich nicht so herkömmlich wie<br />
eine solche diagnostizieren. Der Grund: Die<br />
PAH spielt sich an den Lungengefäßen ab.<br />
Mit verschiedenen Messungen, sowohl der<br />
Funktion der Lunge samt Gasaustausch als<br />
auch des Herzens, beispielsweise per Herzultraschall,<br />
lässt sich die PAH diagnostizieren.<br />
Ergänzend stützen Blutwerte und bestimmte<br />
bildgebende Verfahren wie Computertomografie<br />
die Diagnose. Mitunter ist zudem eine<br />
spezielle Belastungsuntersuchung nötig.<br />
Wichtig: Eine Katheteruntersuchung der<br />
rechten Herzkammer ist zwingend erforderlich<br />
– entweder für die sichere Diagnose<br />
der Lungenhochdruckerkrankung oder um<br />
sie auszuschließen. Diese Untersuchungen<br />
machen darauf spezialisierte Zentren gemäß<br />
den Empfehlungen der europäischen und<br />
deutschen Leitlinien, in der Regel während<br />
eines kurzen stationären Aufenthaltes. Die<br />
Herzkatheteruntersuchung bestätigt einerseits<br />
die Diagnose. In bestimmten Konstellationen<br />
lassen sich währenddessen auch Tests<br />
machen, die andererseits erste Rückschlüsse<br />
auf die mögliche individuelle Behandlung<br />
erlauben.<br />
Wie lässt sich die PAH behandeln?<br />
Erfreulicherweise gibt es inzwischen eine<br />
ganze Reihe medikamentöser Therapien für<br />
die PAH. Die Medikamente sind allerdings<br />
nicht leicht einzusetzen, der behandelnde<br />
Spezialist braucht dafür sehr viel Erfahrung.<br />
Und weil diese Therapien nur zum Behandeln<br />
der seltenen PAH oder CTEPH (Chronisch<br />
thromboembolische pulmonale<br />
Hypertonie, eine weitere Form der Lungenhochdruckerkrankung)<br />
zugelassen sind, ist<br />
die Behandlung in den schon erwähnten<br />
Spezialzentren dringend ratsam.<br />
Auch wenn die PAH eine Lungenerkrankung ist,<br />
lässt sie sich nicht so herkömmlich wie eine solche<br />
diagnostizieren.<br />
Was erschwert die Medikation?<br />
In der Regel müssen mehrere Medikamente<br />
miteinander kombiniert werden. Welche und<br />
wie viel davon jeweils zum Einsatz kommen,<br />
das hängt auch davon ab, welche Therapieziele<br />
für die Patienten definiert werden.<br />
Oftmals erfolgt dann eine Risikoanalyse.<br />
Und da insbesondere ältere Patienten oft<br />
Begleiterkrankungen haben, ist es entscheidend,<br />
die einzelnen Therapien richtig<br />
zu balancieren.<br />
Wie steht es um die Behandlungsaussichten?<br />
Beim Behandeln der PAH – und auch der<br />
erwähnten CTEPH – sind wir mittlerweile<br />
sehr erfolgreich. Wobei der Behandlungserfolg<br />
auch immer davon abhängt, inwieweit<br />
Begleiterkrankungen zu Belastungseinschränkungen<br />
und mehr führen.<br />
Mit den aktuellen Behandlungen können wir<br />
heute in der Regel nicht nur die Krankheitsverläufe<br />
stabilisieren, sondern auch die<br />
Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig<br />
verbessern. Das zeigt sich insbesondere mit<br />
einer (wieder) zunehmenden Leistungsfähigkeit<br />
und abnehmenden Kurzatmigkeit im<br />
Alltag. Vor allem junge Menschen mit dieser<br />
seltenen Diagnose können dank dessen ein<br />
Leben mit nur geringen Einschränkungen<br />
führen. Was nicht darüber hinwegtäuschen<br />
soll, dass es auch schwere Verläufe gibt, die<br />
letztendlich nur mit einer Lungentransplantation<br />
zu behandeln sind.<br />
pulmonale hypertonie e.v.<br />
Der pulmonale hypertonie e. v. (ph e.v.) unterhält einen Informationsdienst zum Krankheitsbild Lungenhochdruck. Er gibt Informationen<br />
über Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie weiter und vermittelt Kontakte zu spezialisierten Ärzten und Kliniken. Er<br />
bietet Unterstützung bei Fragen zur medizinischen und sozialen Versorgung und veranstaltet bundesweite Patiententreffen mit<br />
Angehörigen.<br />
www.phev.de
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
17<br />
„Es ging um Leben und Tod“<br />
Als wir Carolin Thurmann kennenlernen, erleben wir eine lebenslustige,<br />
starke Frau. Dass sie schwer krank ist, sieht man ihr<br />
auf den ersten Blick nicht an. Im Interview spricht sie über ihr<br />
Leben mit PAH (Pulmonaler Arterieller Hypertonie).<br />
Text Paul Howe<br />
Frau Thurmann, Sie leiden an der Erkrankung<br />
PAH. Können Sie uns erzählen, wie sich die<br />
Erkrankung bei Ihnen geäußert hat und wie die<br />
Diagnose gestellt wurde?<br />
Es fing in der Grippewelle 2015 an, auch ich wurde<br />
krank, habe es aber erst einmal ignoriert und bin<br />
weiter arbeiten gegangen. Doch es wurde immer<br />
schlimmer. Ich war schon nach ein paar Treppenstufen<br />
aus der Puste, meine Belastungsgrenze sank<br />
von Tag zu Tag. Plötzlich traten starke Wassereinlagerungen<br />
in den Beinen auf, die Untersuchungen an<br />
Herz, Lunge und das Blutbild ergaben jedoch keinen<br />
Befund. Allerdings wurde eine Schilddrüsenunterfunktion<br />
festgestellt. Schilddrüsenhormone sowie<br />
vorübergehend Entwässerungstabletten wurden verordnet.<br />
Die Wassereinlagerungen blieben, zusätzlich<br />
löste die Schilddrüsenmedikation Migräneanfälle<br />
aus. Neue Symptome wie blaue Lippen, Atemnot und<br />
Husten kamen hinzu. Da ich etwas übergewichtig<br />
bin, hörte ich von den Ärzten immer wieder, dass ich<br />
abnehmen solle und es mir dann besser gehe – das<br />
war schrecklich für mich, und meine Selbstzweifel<br />
stiegen. Ich versuchte abzunehmen, doch die Probleme<br />
blieben, verschlechterten sich sogar, Übelkeit<br />
und Erbrechen kamen hinzu.<br />
Warum sind Sie nicht zum Arzt gegangen?<br />
Meine Hochzeit stand kurz bevor. Darauf hatte ich mich so<br />
lange gefreut und alles sollte perfekt sein. Ich hatte Angst,<br />
dass ich sie absagen muss. Also zog ich das durch und vereinbarte<br />
danach einen Arzttermin, um hoffentlich endlich den<br />
Grund für meinen schlechten Gesundheitszustand herauszufinden.<br />
Doch dazu kam es gar nicht mehr. In der Nacht vor<br />
dem Termin wachte ich mit Schmerzen in den Beinen und<br />
akuter Luftnot auf. Der erste Gedanke, ein schlechter Traum,<br />
war jedoch nicht die Ursache. Mein Mann fuhr mich zum<br />
ärztlichen Notdienst. Der Notarzt nahm mich überhaupt<br />
nicht ernst, sagte nur, dass ich Sport machen solle und es<br />
dann schon besser werde. Dennoch wollte er eine Zweitmeinung<br />
und zog die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses<br />
hinzu. Die stellten eine Sauerstoffsättigung von 62%<br />
fest – dass ich überhaupt noch bei Bewusstsein war, war ein<br />
Wunder. Sie gaben mir Sauerstoff, doch der Wert stieg nicht<br />
an. Zudem wurde eine Herzschädigung festgestellt, die<br />
Ursache kannte aber niemand. 24 Stunden später wurde ich<br />
in die Lungenklinik Löwenstein verlegt. Ich war ein absoluter<br />
Notfall – es ging um Leben und Tod. In derselben Nacht<br />
kam dann auch die Diagnose: pulmonale Hypertonie. Eine<br />
medikamentöse Therapie wurde eingeleitet und mir ging<br />
es schnell besser. Meine Behandlung beinhaltet heute eine<br />
Kombinationstherapie plus Langzeit-Sauerstofftherapie.<br />
Wie sieht Ihr Alltag nun aus, da Sie in Behandlung<br />
sind?<br />
Ich bin froh, dass ich weiß, was ich habe. Dennoch ist<br />
mein Leben nicht mehr das, was es mal war. Vieles, was<br />
ich mir für mein Leben gewünscht habe, ist einfach nicht<br />
mehr möglich. Den Kinderwunsch loszulassen, war besonders<br />
schwer und schmerzt bis heute. Lange habe ich<br />
versucht, mich ins Arbeitsleben zurückzukämpfen, bis<br />
ich einsehen musste, dass ich damit meiner Gesundheit<br />
eher schade – somit bin ich heute berentet. Was mich<br />
lange sehr belastet hat, waren die Blicke der anderen<br />
Menschen. Eine junge Frau mit Sauerstoffgerät, dafür<br />
scheinen viele kein Verständnis zu haben. Auch viele<br />
Freunde und Bekannte haben sich von uns abgewandt.<br />
Ich habe lange gebraucht, um das zu akzeptieren. 2016<br />
habe ich angefangen, einen Blog im Internet zu schreiben.<br />
Ich habe mir dabei all die vielen Fragen, auf die ich<br />
keine Antworten erhalten habe, alles, was mich bedrückte,<br />
richtiggehend von der Seele geschrieben. Ich erfahre<br />
durch den Austausch mit anderen Betroffenen, dass ich<br />
mit meinem Blog genau das zum Ausdruck bringe, was<br />
andere gleichermaßen empfinden, selbst aber nicht wagen,<br />
auszusprechen. Durch den Blog hat sich eine neue<br />
Aufgabe entwickelt, ein neuer Sinn ist entstanden, der<br />
mich glücklich macht.<br />
ANZEIGE<br />
„Die Diagnose dauert oft sehr lange“<br />
Weltweit gibt es schätzungsweise 8.000 seltene Krankheiten und für viele existieren noch keine Behandlungsoptionen.<br />
Das forschende Pharmaunternehmen Janssen Deutschland engagiert sich bei mehreren seltenen Krankheitsbildern<br />
und wir sprachen darüber mit der Medizinischen Direktorin im Bereich PAH, Dr. Ursula Kleine-Voßbeck.<br />
Dr. Ursula<br />
Kleine-Voßbeck<br />
Medizinische<br />
Direktorin<br />
im Bereich<br />
PAH, Janssen<br />
Deutschland<br />
Mit freundlicher<br />
Unterstützung der<br />
Janssen-Cilag<br />
GmbH<br />
Welche Besonderheiten birgt die Forschung<br />
an Therapien gegen seltene<br />
Krankheiten?<br />
Um neue Medikamente zu entwickeln,<br />
sind umfassende klinische Studien notwendig.<br />
Diese sind bei der limitierten<br />
Zahl der Patient:innen sowie wenigen<br />
spezialisierten Behandlungszentren häufig<br />
sehr schwer durchzuführen und dauern<br />
entsprechend lange. Auf der anderen<br />
Seite haben die betroffenen Menschen<br />
oft eine unglaublich hohe Bereitschaft,<br />
an den Studien mitzuwirken. Sie möchten<br />
helfen, dass die eigene Erkrankung besser<br />
erforscht wird.<br />
Vor welchen Schwierigkeiten stehen<br />
Patient:innen mit seltenen Krankheiten?<br />
Die Diagnose dauert oft sehr lange, weil<br />
in der Regel zunächst häufigere Krankheiten<br />
vermutet werden. Dadurch kann kostbare<br />
Zeit für die Patienten verloren<br />
gehen und sie werden in einem „kränkeren“<br />
Zustand diagnostiziert. Bei Atemnot<br />
denken z.B. viele zuerst an Asthma und<br />
nicht an Lungenhochdruck. Dann kann es<br />
sein, dass die Behandlungszentren<br />
schwer zu finden sind oder dort Wartezeiten<br />
bestehen. Die Odyssee durch das<br />
Gesundheitssystem bis zur Diagnose<br />
kann bei Betroffenen das Vertrauen in die<br />
Medizin erschüttern und im Extremfall zur<br />
Depression führen. Manchmal finden<br />
Patient:innen in Selbsthilfegruppen Unterstützung,<br />
aber auch diese sind natürlich<br />
seltener als bei häufigeren<br />
<strong>Erkrankungen</strong>.<br />
In welchen seltenen Krankheitsgebieten<br />
forscht Janssen beispielsweise?<br />
Wir engagieren uns zum Beispiel im<br />
Bereich Lungenhochdruck und seltenen<br />
hämatologischen <strong>Erkrankungen</strong> wie Amyloidose<br />
und Morbus Waldenström.<br />
Außerdem forschen wir an Behandlungsmöglichkeiten<br />
für einige seltene Lungenkrebsarten,<br />
der seltenen Muskelschwäche<br />
Myasthenia gravis sowie weiteren<br />
Autoimmunkrankheiten. Auch die bisher<br />
unheilbare Netzhauterkrankung Retinitis<br />
pigmentosa sowie die Farbenblindheit<br />
Achromatopsie stehen bei uns im Fokus.<br />
Der medizinische Bedarf ist bei den<br />
seltenen Krankheiten sehr groß und wir<br />
wollen für die Betroffenen einen echten<br />
Unterschied machen.<br />
Wie will Janssen dazu beitragen, die<br />
Versorgung bei seltenen Krankheiten<br />
zu verbessern?<br />
Neben der Forschung liegt ein wichtiger<br />
Schwerpunkt in der Aufklärung – sowohl<br />
in der Öffentlichkeit als auch gezielt bei<br />
Ärzt:innen, der Selbsthilfe sowie in der<br />
Lehre. Außerdem wollen wir die Diagnostik<br />
beschleunigen und setzen zusammen<br />
mit Partnern auf neue Technologien, die<br />
zum Beispiel Biomarker und künstliche<br />
Intelligenz nutzen.<br />
Lungenhochdruck:<br />
Manchmal gar nicht selten<br />
Die pulmonale arterielle Hypertonie (PAH), eine spezielle<br />
Form des Lungenhochdrucks, kommt selten vor. Allerdings<br />
tritt bei manchen Menschen die Krankheit gar<br />
nicht so selten auf – wer sind die Risikogruppen?<br />
Ein erhöhtes PAH-Risiko haben beispielsweise Menschen<br />
mit einem angeborenen Herzfehler. Schätzungsweise<br />
entwickeln bis zu zehn Prozent der Betroffenen<br />
eine PAH – selbst Jahrzehnte nach erfolgreicher Korrektur<br />
des Herzfehlers. Außerdem sind chronische Bindegewebserkrankungen<br />
wie die systemische Sklerose<br />
mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko verbunden. Für<br />
diese Risikogruppen ist daher ein regelmäßiger Check<br />
in spezialisierten Zentren zu empfehlen.<br />
PAH ist behandelbar<br />
Die PAH lässt sich heute häufig langfristig gut behandeln.<br />
Je frühzeitiger im Verlauf die Krankheit<br />
erkannt wird, desto besser. „Bei fast der Hälfte<br />
der Menschen mit PAH wird die Erkrankung nicht<br />
richtig diagnostiziert. Deshalb ist es uns so wichtig,<br />
über Lungenhochdruck aufzuklären“, erläutert<br />
Dr. med. Stefanie Walther, Commercial Director Rare and<br />
Infectious Diseases bei Janssen Deutschland.<br />
Weitere Informationen zur Krankheit, Anlaufstellen und<br />
Erfahrungsberichte bietet das Portal<br />
JanssenWithMe.de<br />
EM-87932
18 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
Morbus Fabry –<br />
Das Chamäleon unter den seltenen Krankheiten<br />
Bei der Erkrankung Morbus Fabry kommt es zur übermäßigen Speicherung von<br />
Stoffwechselprodukten. Im Interview erklärt Dr. med. Jessica Kaufeld, Nierenexpertin<br />
aus dem Fabry-Zentrum der Medizinischen Hochschule Hannover, warum das dazu<br />
führt, dass sich die Krankheit vielfältig wie ein Chamäleon zeigt.<br />
Text Doreen Brumme<br />
Dr. med.<br />
Jessica Kaufeld<br />
Nierenexpertin aus<br />
dem Fabry-Zentrum<br />
der Medizinischen<br />
Hochschule<br />
Hannover<br />
Warum gilt Morbus Fabry als das<br />
Chamäleon unter den seltenen <strong>Erkrankungen</strong>?<br />
Die erblich bedingte Speichererkrankung<br />
Morbus Fabry führt zu Störungen beim<br />
Abbau bestimmter Fette (Lipide). Insbesondere<br />
das Globotriaosylceramid (kurz<br />
Gb 3<br />
) lagert sich übermäßig stark in einer<br />
Vielzahl von Organen ab. Das beeinträchtigt<br />
nach und nach deren Funktion.<br />
Je nachdem welches Organ betroffen<br />
ist, ergeben sich andere Symptome. Die<br />
Erkrankung erscheint daher so vielfältig<br />
wie ein Chamäleon.<br />
Was passiert bei der Erkrankung im<br />
Körper?<br />
Die Stoffwechselstörung beruht auf einem<br />
Mangel am Enzym Alpha-Galaktosidase A.<br />
Dieses sorgt normalerweise dafür, dass<br />
Fettstoffe aufgespalten und verarbeitet<br />
werden können. Morbus-Fabry-Patient*innen<br />
stellen das Enzym kaum bis<br />
gar nicht her. Dies führt unter anderem<br />
zu Herz-, Nieren- und Nervenproblemen.<br />
Daher spricht man im weiteren Verlauf<br />
auch von einer Multiorganerkrankung.<br />
Was sind erste Anzeichen für einen<br />
Morbus Fabry?<br />
Klassische Anzeichen sind beispielsweise<br />
Brennschmerzen in Händen und<br />
Füßen und ein spezieller Hautausschlag<br />
(stecknadelkopfgroße dunkelrot-violette<br />
Papeln). Häufig berichten Patienten von<br />
Herzproblemen wie Herzrasen, Magenproblemen,<br />
Müdigkeit und Erschöpfung.<br />
Findet man keine gute Erklärung, sollte<br />
man an Morbus Fabry denken.<br />
Viele Morbus-Fabry-Patient*innen<br />
leiden Jahre, bis sie endlich ihre Diagnose<br />
bekommen. Woran liegt das?<br />
Die Vielfalt möglicher Symptome ist immens<br />
und viele davon könnten durchaus<br />
auch andere Ursachen haben. Meist<br />
kommt es erst zur Diagnose, wenn sich<br />
mit Fortschreiten der Erkrankung immer<br />
mehr Beschwerden zeigen und diese<br />
ganzheitlich und von Mediziner*innen<br />
verschiedener Disziplinen gemeinsam<br />
betrachtet werden. Bei unseren Patient*innen<br />
kann der Leidensweg bis dahin<br />
im Schnitt bis zu zwölf Jahre dauern.<br />
Wie lässt sich der Leidensweg<br />
abkürzen?<br />
Mit Aufklärung. Denn ein früher Verdacht<br />
könnte schneller zur sicheren<br />
Diagnose und damit zur Behandlung<br />
führen. Wir wissen längst, dass der Morbus<br />
Fabry von einem Gendefekt verursacht<br />
wird und dass das veränderte Gen<br />
auf dem X-Chromosom der Geschlechtschromosomen<br />
sitzt. Deshalb könnte<br />
auch der Hinweis eines Familienmitgliedes<br />
mit Symptomen dienlich sein. Oder<br />
das Wissen einer Ärztin oder eines Arztes<br />
darüber, dass zum Beispiel der Nachweis<br />
von Eiweiß im Urin nicht nur unnormal<br />
ist, sondern ein Anzeichen für Morbus<br />
Fabry sein kann. Wer mit einem solchen<br />
Befund bei uns im Zentrum nachfragt,<br />
sei es der*die behandelnde Arzt*Ärztin<br />
oder der*die Betroffene selbst, kann<br />
sofort mit der Hilfe und Expertise eines<br />
multidisziplinären Teams rechnen.<br />
Wie behandeln Sie Morbus Fabry?<br />
Morbus Fabry lässt sich mit einer<br />
lebenslangen Enzymersatztherapie als<br />
Infusion behandeln. Eine alternative<br />
Therapie besteht in einer Kapsel zum<br />
Einnehmen, die die Enzymaktivität<br />
unterstützt, aber nur für spezielle Fabry-Patienten<br />
geeignet ist (sog. Chaperontherapie).<br />
Über die Indikation und<br />
die Art der Behandlung entscheidet das<br />
Fabry-Zentrum. Die Therapien haben<br />
möglicherweise auch Nebenwirkungen,<br />
die ebenfalls durch die Spezialisten<br />
überwacht werden müssen.<br />
Was wünschen Sie Morbus-Fabry-Patient*innen<br />
für die Zukunft?<br />
Ich wünsche mir schnellere Diagnosen<br />
und damit kürzere Leidenswege für die<br />
Patient*innen. Ganz weit oben auf meiner<br />
Wunschliste stehen zudem Therapieformen,<br />
die leichter oder seltener<br />
anzuwenden sind. Weniger Nebenwirkungen<br />
sind ebenso wünschenswert.<br />
Voller Hoffnung schaue ich derzeit<br />
auf die Arbeit der Kolleg*innen in der<br />
Forschung, denn neue Methoden in der<br />
Diagnostik und den Therapien für Morbus<br />
Fabry sind schon in der klinischen<br />
Erprobung.<br />
Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. – Zusammen stärker!<br />
An Morbus Fabry sind in ganz Deutschland etwa 1.200 Menschen erkrankt, mit einer hohen Dunkelziffer. Es ist eine Erbkrankheit, die zu Beginn sehr unspezifische<br />
Auswirkungen hat: Schmerzen in den Gelenken, Flecken auf der Haut oder extreme Müdigkeit. So wird die Krankheit häufig erst festgestellt,<br />
wenn sie schon große Schäden angerichtet hat: starke Nierenschädigung, Schlaganfall in jungen Jahren oder extreme Vergrößerung des Herzmuskels.<br />
Unbehandelt sterben Patienten rund 25 Jahre früher.<br />
Seit 20 Jahren gibt es für Patienten mit Morbus Fabry wirkungsvolle Therapien, die die Erkrankung stoppen oder verlangsamen. Je früher sie erkannt<br />
wird, umso geringer sind die bleibenden Schäden. Doch gibt es nur wenige gute Behandlungszentren für diese seltene Erkrankung. Es ist wichtig, dass<br />
wir als Gruppe von betroffenen Patienten sichtbarer werden, uns gegenseitig mit Informationen über Kliniken und neue Therapieansätze versorgen –<br />
auch im persönlichen Austausch. Mit 120 Mitgliedern versucht die Morbus Fabry Selbsthilfegruppe (MFSH) unter anderem, in der Politik und in der Forschung<br />
auf dieses Krankheitsbild aufmerksam zu machen. Informieren Sie sich weiter unter:<br />
www.fabry-shg.org
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
19<br />
Wenn die Diagnose 18 Jahre dauert<br />
Ein Gespräch mit Conny Rudolph, Morbus-Fabry-Patientin, über die jahrelange Odyssee<br />
bis zur Diagnose ihrer seltenen Erkrankung und ein neues Leben mit der Therapie.<br />
Text Hanna Sinnecker<br />
Sie sind Morbus-Fabry-Patientin und haben einen langen Weg<br />
gehen müssen, bis Sie die Diagnose erhalten haben. Wann sind<br />
die ersten Beschwerden aufgetreten und wann wurde letztlich die<br />
Diagnose gestellt?<br />
Ich habe die Krankheit wohl seit meiner Kindheit. Die Diagnose habe<br />
ich allerdings erst im Dezember 2017 erhalten. Als Kind litt ich unter<br />
Schmerzen, bei Hitze konnte ich nicht am Sport teilnehmen. Ärzte und<br />
Eltern haben es auf das Wachstum geschoben. Mit Anfang 20 kamen Migräne<br />
und Schmerzkrisen an Händen und Füßen hinzu. 2003 hatte ich<br />
einen Schlaganfall, der zu spät erkannt wurde. Man diagnostizierte eine<br />
psychogene Lähmung, mit der aber niemand etwas anfangen konnte.<br />
Dann wurden die Schmerzen immer schlimmer. Schmerzmittel halfen<br />
nicht.<br />
Die Odyssee ging weiter: Man diagnostizierte eine Ablösung der Netzhaut<br />
an meinem Auge, korrigierte den Befund aber wieder. 2015 war der<br />
berufliche und private Stress so groß, dass ich wegen meiner Depression<br />
mit Medikamenten behandelt wurde. Allerdings merkte ich, dass die<br />
Antidepressiva meine Schmerzen minderten. An dieser Stelle wurde<br />
meine Neurologin hellhörig. Daraufhin diagnostizierten Ärzte jedoch<br />
bei den folgenden Untersuchungen fälschlicherweise erst MS und dann<br />
vaskuläre Demenz. Meine Erkrankung war für keinen Arzt greifbar.<br />
Irgendwann entschied sich meine Neurologin für eine Genomuntersuchung.<br />
Eines Tages, an einem Donnerstagnachmittag rief sie mich an<br />
und fragte, ob ich sitze. Sie teilte mir nach 18 Jahren meine Diagnose<br />
mit. Ich habe Morbus Fabry.<br />
Wie ging es nach der Diagnose weiter und wo haben Sie Hilfe<br />
gefunden?<br />
Leider hörte die Odyssee nicht auf: Ich musste ein halbes Jahr auf einen<br />
Termin in einem medizinischen Zentrum warten. Dort teilten die Ärzte<br />
mir mit, dass mein Morbus Fabry angeblich nicht krankheitsrelevant<br />
sei. Das war für mich völlig absurd, denn meine sehr zahlreichen Symptome<br />
waren ja offensichtlich. Bei einem MRT hatte sich inzwischen<br />
herausgestellt, dass ich wohl in der Vergangenheit mehrere Schlaganfälle<br />
und damit Zellschädigungen im Gehirn gehabt hatte, ohne dies zu<br />
bemerken. Dennoch gab man mir keine Behandlung. An diesem Punkt<br />
war ich komplett verzweifelt.<br />
Ich wollte nichts mehr mit Ärzten zu tun haben. Hinzu kam die für mich<br />
anstrengende Anfahrt und Wartezeit vor Ort. 2019 schlug mir meine<br />
Neurologin einen zweiten Versuch in einem Zentrum in Dresden vor.<br />
Anfang 2020 untersuchte man dort gefühlt jede meiner Zellen. Die Ärzte<br />
nahmen auch meine Hautauffälligkeiten ernst, genauso wie meine<br />
inzwischen verdickte Herzwand. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte<br />
jedoch meine Infusionstherapie nicht starten. Im Juli 2020 wurde ich<br />
dann endlich behandelt, sechsmal in der Klinik alle 14 Tage. Seit Oktober<br />
2020 therapieren mich Krankenschwestern bei mir zu Hause. Das<br />
lässt sich natürlich leichter in meinen Alltag integrieren. Diese Therapie<br />
mit Medikamenten erhalte ich nun ein Leben lang.<br />
Wie sieht Ihr Leben nun aus und welche Rolle spielt Ihre<br />
Erkrankung im Alltag?<br />
Ich bin äußerst zufrieden. Der Umgang mit meinen Schmerzen ist um<br />
Welten besser. Seit vielen Jahren kann ich endlich richtig schlafen. Das<br />
bisherige Schlafdefizit hatte Unausgeglichenheit, Unkonzentriertheit<br />
und Vergesslichkeit zur Folge. Jeder Stress im Beruf war vorher ein weiterer<br />
Trigger für Schmerzen. Jetzt kann ich auch bei meiner Tätigkeit<br />
als Sachbearbeiterin mehr Ruhe ausstrahlen.<br />
Was würden Sie anderen Betroffenen gern mit auf den Weg geben?<br />
Typische Tipps wie Arztwechsel oder mehr Informationen waren<br />
in Ihrem Fall ja nicht hilfreich.<br />
Man sollte sich unbedingt einen Anker suchen, der einen aufrichtet.<br />
Man muss sich trauen, den Arzt zu wechseln, wenn der einen nicht<br />
versteht. Es ist heute natürlich schwer, weil Ärzte terminlich überlastet<br />
sind. Auch bei undefinierten Symptomen sollte man nicht die Hoffnung<br />
aufgeben. Zentren für seltene <strong>Erkrankungen</strong> sind sehr interessiert und<br />
hilfreich. Leider sind sie vor allem in großen Städten zu finden. Es lohnt<br />
sich dennoch, einen langen Anfahrweg für den richtigen Ansprechpartner<br />
in Kauf zu nehmen.<br />
Conny<br />
Rudolph<br />
Morbus-<br />
Fabry-<br />
Patientin<br />
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Morbus Fabry in der Familie?<br />
Informationen für Betroffene und deren Angehörige<br />
NP/GAL/001/190/DE02-22<br />
Morbus Fabry ist eine genetische Erkrankung,<br />
die über mehrere Generationen<br />
einer Familie vererbt werden<br />
kann. Das heißt: Wenn eine Person in<br />
einer Familie die Diagnose Morbus<br />
Fabry hat, können andere Familienangehörige<br />
ebenfalls betroffen sein. [1]<br />
Eine ausführliche Analyse des Familienstammbaums<br />
ist daher sehr wichtig<br />
für Betroffene und deren Angehörige.<br />
Ich bin betroffen – Was nun?<br />
Ist die Diagnose Morbus Fabry gestellt,<br />
dann ist es für Betroffene wichtig zu<br />
wissen, was die eigene Diagnose für<br />
Familienangehörige bedeuten kann<br />
und wer aufgrund des Vererbungsmusters<br />
ein erhöhtes Risiko für Morbus<br />
Fabry hat. Hier kommt die neue<br />
Website www.fabryfamilytree.de<br />
ins Spiel, die Betroffenen umfassende<br />
Informationen und Hilfestellungen<br />
an die Hand geben möchte. Dazu gehören<br />
grundlegenden Informationen,<br />
wie die Erkrankung vererbt wird und<br />
wer in der Familie ein erhöhtes Risiko<br />
hat. Über ein Online Stammbaumtool<br />
kann man zusammen mit seinem behandelnden<br />
Arzt seinen individuellen<br />
Fabry-Stammbaum erstellen und für<br />
die persönliche Nutzung herunterladen,<br />
um Angehörige mit erhöhtem<br />
Fabry-Risiko gezielt informieren zu<br />
können. Die Daten werden streng vertraulich<br />
behandelt. Die Website gibt<br />
professionelle Hilfestellung, wie man<br />
Angehörige mit erhöhtem Risiko dann<br />
darauf ansprechen und sie aufklären<br />
kann. Dazu gehört auch eine Briefvorlage,<br />
die man nutzen kann, wenn eine<br />
direkte Ansprache sich schwierig gestalten<br />
sollte.<br />
Informationen für Familienangehörige<br />
mit erhöhtem Fabry Risiko<br />
Auf der Website gibt es aber auch für<br />
Angehörige von Morbus Fabry-Patienten<br />
detaillierte Informationen, die<br />
dabei helfen sollen, die Erkrankung<br />
zu verstehen und warum sie selbst ein<br />
erhöhtes Risiko haben. Dabei ist eines<br />
sehr wichtig: ein erhöhtes Risiko bedeutet<br />
nicht zwangsläufig, dass man<br />
tatsächlich auch betroffen ist. Daher<br />
sollten Angehörige, die laut Stammbaum<br />
ein erhöhtes Risiko haben, unbedingt<br />
einen Arzt ansprechen und<br />
eine genetische Analyse durchführen<br />
lassen. Das kann der eigene Hausarzt<br />
oder aber der Fabry-Spezialist des<br />
betroffenen Angehörigen sein.<br />
Informationen für das Fachpersonal<br />
Aber auch medizinisches Fachpersonal<br />
findet auf der Website Materialien<br />
und Hilfestellungen, wenn es darum<br />
geht, Fabry-Patienten oder deren Angehörige<br />
zu beraten und aufzuklären.<br />
Dazu gehört ebenfalls die Nutzung<br />
des Online Stammbaum-Tools in Zusammenarbeit<br />
mit dem Patienten, sowie<br />
weitere Broschüren, die beim Familienscreening<br />
unterstützen sollen.<br />
Informieren Sie sich unter<br />
www.fabryfamilytree.de<br />
[1] GERMAIN DP. ORPHANET J RARE DIS. 2010; 5:30
20 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
FOTO: SHUTTERSTOCK<br />
Nicht-dystrophe Myotonien –<br />
Wenn Muskelentspannung<br />
ein Problem ist<br />
Die Nicht-dystrophen Myotonien (NDM) sind seltene <strong>Erkrankungen</strong>. Von der<br />
Erbkrankheit Betroffene, in Deutschland sind rund 2.000 Fälle diagnostiziert, können<br />
ihre Muskeln nicht sofort wieder entspannen, wenn sie sie zum Bewegen angespannt<br />
hatten. Vielmehr blockiert die Muskulatur – je nach Ausprägung der NDM mal mehr,<br />
mal weniger stark, sodass die Beweglichkeit und damit auch die Lebensqualität leidet.<br />
Dr. Rudolf Andre Kley hat sich unter anderem auf neuromuskuläre <strong>Erkrankungen</strong><br />
wie NDM spezialisiert. Im Interview erklärt er die Krankheitsursache, ihren typischen<br />
Verlauf und bewährte Therapien.<br />
Text Doreen Brumme<br />
Dr. Rudolf<br />
Andre Kley<br />
Chefarzt der Klinik<br />
für Neurologie und<br />
Klinische Neurophysiologie<br />
mit<br />
Stroke Unit am St.<br />
Marien-Hospital<br />
Borken<br />
Dr. Kley, Sie behandeln unter anderem<br />
NDM-Patient*innen. Was ist<br />
die Herausforderung für Ärzt*innen<br />
beim Diagnostizieren von NDM-<strong>Erkrankungen</strong>?<br />
Das ist ganz klar ihre Seltenheit. Die<br />
meisten Ärzt*innen haben noch nie<br />
eine Patientin oder einen Patienten<br />
mit NDM gesehen und wissen leider<br />
noch zu wenig darüber, sodass sich<br />
die Diagnosestellung verzögern kann.<br />
Zudem gibt es hinsichtlich der Beschwerden<br />
Überschneidungen mit<br />
anderen, viel häufiger vorkommenden<br />
<strong>Erkrankungen</strong>. Die Herausforderung<br />
ist also, trotzdem daran zu denken.<br />
Besteht erst einmal ein Verdacht auf<br />
NDM, lässt sich dieser meist schnell<br />
und sicher bestätigen oder widerlegen.<br />
Zum Beispiel mit klinischen Tests,<br />
mit der Elektromyografie (EMG) oder<br />
mit genetischen Untersuchungen. Am<br />
einfachsten ist es, die Patient*innen<br />
hierfür an einem Neuromuskulären<br />
Zentrum vorzustellen.<br />
Mit welchen Beschwerden kommen<br />
NDM-Patient*innen zu Ihnen?<br />
Die meisten klagen über eine muskuläre<br />
Steifigkeit, die sie im Alltag beeinträchtigt.<br />
Sie können zum Beispiel<br />
bei einem Händedruck eine Hand und<br />
beim Türöffnen die Klinke nicht sofort<br />
wieder loslassen oder erklimmen die<br />
Stufen einer Leiter nur verzögert. Häufig<br />
wird die Muskelsteifigkeit<br />
durch Kälte deutlich verschlimmert<br />
und geht mit Schmerzen einher.<br />
Manchmal kommt es auch zu einer<br />
zeitweisen (bis zu mehreren Stunden<br />
andauernden) Muskelschwäche.<br />
Mitunter leiden die Betroffenen zudem<br />
an einem Erschöpfungssyndrom,<br />
dieses steht jedoch ebenso wie die<br />
Schmerzen nur selten im Vordergrund.<br />
Erste Beschwerden setzen in der Regel<br />
schon in der Kindheit ein. Sie fallen<br />
zum Beispiel beim Schulsport auf, wo<br />
Betroffene, die Eltern oder Lehrkräfte<br />
erkennen, dass Bewegungen nicht so<br />
klappen, wie sie sollten.<br />
Was passiert im Körper Betroffener,<br />
wie wirkt die Erkrankung dort<br />
konkret?<br />
Bei Betroffenen sind spannungsabhängige<br />
Ionenkanäle in den Zellmembranen<br />
der Skelettmuskulatur mutiert,<br />
sodass es zu Fehlfunktionen oder<br />
gar einem Funktionsausfall kommt.<br />
Infolgedessen kommt es zu Erregungsstörungen<br />
der Muskeln. Man<br />
unterscheidet dabei <strong>Erkrankungen</strong><br />
mit Störung eines Chloridkanals, die<br />
häufiger bei Männern als bei Frauen<br />
zu Symptomen führen, von den seltener<br />
vorkommenden Störungen eines<br />
Natriumkanals.<br />
Wie behandeln Sie NDM?<br />
Es gibt ein zugelassenes Medikament<br />
in Tablettenform, das sich zur symptomatischen<br />
Behandlung von NDM gut<br />
bewährt hat. Es bringt den Patient*innen<br />
zumeist eine schnell spürbare<br />
Linderung ihrer Beschwerden. Manche<br />
merken erst unter der Therapie, wie<br />
eingeschränkt sie vorher durch die Muskelsteifigkeit<br />
waren. Auch der Begriff<br />
Jungbrunnen fiel schon mal im Hinblick<br />
auf die medikamentöse Behandlung.<br />
Welche begleitenden Maßnahmen<br />
können Betroffenen zusätzlich zur<br />
medikamentösen Therapie helfen?<br />
Die Patient*innen sollten nach Möglichkeit<br />
plötzliche starke Muskelanspannungen<br />
vermeiden. In leichter<br />
Bewegung zu bleiben, kann hingegen<br />
helfen. Denn viele Patient*innen kennen<br />
den Warm-up-Effekt: Die Muskeln<br />
zeigen sich weniger steif, wenn sie in<br />
Bewegung und damit „warm“ bleiben.<br />
Bei Patient*innen mit einer kaliumsensitiven<br />
Myotonie (PAM) erweist sich<br />
auch eine kaliumarme Ernährungsweise<br />
mitunter als hilfreich.<br />
Wichtig: Stark ausgeprägte NDM können<br />
psychisch belasten, insbesondere dann,<br />
wenn die gestörte Mobilität den Alltag<br />
funktional oder sozial beeinträchtigt. In<br />
diesem Fall sollten sich die Betroffenen<br />
bei Therapeut*innen Hilfe holen.
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
21<br />
„Ich versuche,<br />
so normal wie<br />
möglich zu leben“<br />
FOTO: PFRIVAT<br />
Bei den nicht-dystrophen Myotonien handelt<br />
es sich um seltene, genetisch bedingte<br />
<strong>Erkrankungen</strong> mit Funktionsbeeinträchtigungen<br />
von muskulären Ionenkanälen.<br />
Das charakteristische Symptom ist die<br />
Muskelsteifheit, verursacht durch eine<br />
Störung der Muskelrelaxation, was die<br />
Lebensqualität der Betroffenen negativ<br />
beeinflussen kann. Im Interview spricht<br />
NDM-Patientin Lilly Stenkamp über ihr<br />
Leben mit der Erkrankung.<br />
Lilly Stenkamp versucht,<br />
ihren Alltag so<br />
normal wie möglich<br />
zu gestalten.<br />
Frau Stenkamp, Sie sind von einer nicht-dystrophen<br />
Myotonie betroffen. Wann traten bei Ihnen<br />
erste Beschwerden auf und wie sahen diese aus?<br />
Von Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass es<br />
schon Auffälligkeiten gab, als ich noch ein kleines<br />
Kind war. Ich bin öfters beim Laufen oder Rollerfahren<br />
gestürzt. Anfangs wurde vermutet, dass ein<br />
Bein kürzer sei als das andere. Doch die Beschwerden<br />
begleiteten mich weiterhin. In der weiterführenden<br />
Schule bin ich zum Beispiel im Sportunterricht einfach<br />
hingefallen – mein Bein ließ sich nicht so schnell<br />
nachziehen, um den nächsten Schritt zu machen. Dass<br />
es sich dabei um eine Muskelsteifheit handelt, verursacht<br />
durch eine Störung der Muskelrelaxation, wusste<br />
damals niemand.<br />
Wie lange hat es vom Auftreten der ersten Symptome<br />
bis zur Diagnose gedauert und wer hat letztendlich<br />
die Diagnose gestellt?<br />
Da die Muskelerkrankung vererbt wird, habe ich sie<br />
seit dem Kindesalter. Nur damals wusste das eben niemand.<br />
Ende 2018 war ich wegen meiner Migräne bei<br />
einem Neurologen in Behandlung. Nebenbei habe ich<br />
ihm das mit den Verkrampfungen erzählt. Er hat mich<br />
aufgeklärt, was es sein könnte, und hat anschließend<br />
eine Untersuchung durchgeführt. Diese war positiv<br />
und ich wurde in die Neurologie ins Krankenhaus zu<br />
Prof. Dr. Kley geschickt. Seitdem bin ich bei ihm in<br />
Behandlung. Im Oktober 2019 hatten wir den genauen<br />
Befund und wussten auch, welches Gen betroffen ist.<br />
Wie sieht Ihr Alltag mit der Erkrankung aus?<br />
Eigentlich habe ich einen normalen Alltag. Kritisch<br />
wird es, wenn mir kalt ist oder ich Stress habe. Beanspruche<br />
ich meine Muskeln durch schwere Arbeit<br />
oder Sport, dann merke ich, wie ich bei jeder nachfolgenden<br />
Bewegung verkrampfe. Ich bin dann schon<br />
sehr eingeschränkt, meine Bewegungen werden sehr<br />
langsam. Die Anspannung eines Muskels klappt dann<br />
zwar problemlos, die Entspannung jedoch nicht. Um<br />
meine Faust zu öffnen, brauche ich einige Sekunden<br />
länger – auch wenn ich dagegen ankämpfe. Zwei<br />
Faktoren, die mich bei meinen Bewegungen stark einschränken,<br />
sind Kälte und Adrenalin. Es lässt sich aber<br />
natürlich nicht immer vermeiden, in solche Situationen<br />
zu kommen.<br />
Wie wird Ihre Erkrankung behandelt?<br />
Ich habe ein Medikament bekommen, das sich positiv<br />
auf NDM-Patienten ausgewirkt hat. Andere Behandlungsmethoden<br />
gibt es zu dieser Krankheit nicht. Man<br />
lebt einfach damit, lernt, sich selbst einzuschätzen,<br />
und versucht, Dinge zu vermeiden, die sich negativ auf<br />
die Muskeln auswirken.<br />
Welche zusätzlichen Maßnahmen oder Hilfsmittel<br />
helfen Ihnen dabei, die NDM in Schach zu halten?<br />
Ich versuche, Kälte zu meiden, heize meine Wohnung<br />
im Winter stark auf und ziehe mich warm an. Auch<br />
versuche ich, Stress zu umgehen, was nicht immer<br />
leicht ist. Mein emotionaler Zustand wirkt sich ebenfalls<br />
auf die Muskeln aus. Manchmal reicht schon ein<br />
Gedanke, der mir Angst macht, und schon merke ich,<br />
dass ich verkrampfter in den Muskeln geworden bin.<br />
Zudem versuche ich, schwere körperliche Arbeit zu<br />
meiden, und gehe Dinge langsamer an, um eine Verkrampfung<br />
des beanspruchten Muskels zu vermeiden.<br />
Text Paul Howe<br />
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22 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
„Ein unbehandeltes Cushing-<br />
Syndrom verläuft sehr häufig tödlich“<br />
Das Cushing-Syndrom gehört zu den seltenen endokrinologischen <strong>Erkrankungen</strong> und wird im Schnitt erst drei<br />
Jahre nach Auftreten der ersten Symptome diagnostiziert. Das Warten auf die richtige Diagnose, verbunden<br />
mit den durch die Erkrankung ausgelösten Beschwerden, kann eine große Belastung für Betroffene sein. Wir<br />
sprachen mit Dr. med. Leah Braun, die unter anderem Cushing-Patient*innen behandelt.<br />
Text Franziska Manske<br />
Dr. med.<br />
Leah Braun<br />
Assistenzärztin<br />
der Medizinischen<br />
Klinik und Poliklinik<br />
IV am Universitätsklinikum<br />
München<br />
Frau Dr. Braun, was sind die Schwierigkeiten<br />
bei der Diagnosefindung und wo<br />
liegen die Verwechslungsgefahren mit<br />
anderen <strong>Erkrankungen</strong>?<br />
Es gibt verschiedene Schwierigkeiten bei der<br />
Diagnosestellung. Einerseits ist die Erkrankung<br />
so ungewöhnlich, dass selten an ihr<br />
Vorliegen gedacht wird. Im Schnitt werden<br />
in Deutschland nur ungefähr 100 Patienten<br />
pro Jahr neu diagnostiziert. Zudem beginnt<br />
die Erkrankung oft schleichend mit wenigen<br />
Symptomen und das typische klinische Vollbild<br />
der Erkrankung entwickelt sich häufig<br />
erst sehr spät im Krankheitsverlauf. Sehr<br />
viele Symptome überschneiden sich mit anderen<br />
<strong>Erkrankungen</strong> wie dem metabolischen<br />
Syndrom, einer Depression oder einem polyzystischen<br />
Ovar-Syndrom. Dadurch kommt<br />
es leicht zu Fehldiagnosen oder verspäteten<br />
Diagnosen. Auch die Labordiagnostik ist<br />
herausfordernd, da die Erkrankung durch<br />
erhöhte Cortisolwerte definiert ist. Nun gibt<br />
es aber auch viele andere <strong>Erkrankungen</strong> oder<br />
Situationen, die zu hohen Cortisolwerten<br />
führen können. Daher sollten Patienten zur<br />
Abklärung hoher Cortisolwerte in ein hierauf<br />
spezialisiertes Zentrum gehen.<br />
Welche Symptome belasten Betroffene<br />
bis zur Diagnose und dem Start der Therapie<br />
am meisten?<br />
Dies kann ganz unterschiedlich sein. Belastend<br />
sind natürlich einerseits die vielen körperlichen<br />
Stigmata, die mit der Erkrankung<br />
einhergehen können. Dazu zählen beispielsweise<br />
eine Gewichtszunahme im Bereich des<br />
Bauches, Akne, verstärktes Haarwachstum<br />
an ungewöhnlichen Stellen – der sogenannte<br />
Hirsutismus –, Hämatome, eine Rötung des<br />
Gesichts, was als Plethora bezeichnet wird,<br />
und die klassischen lividen Striae, welche<br />
an Bauch und Beinen auftreten. Daneben<br />
entwickeln viele Patienten aber auch eine<br />
Myopathie, also eine Muskelschwäche,<br />
die Betroffene im Alltag einschränkt, oder<br />
eine Osteoporose, die zu schmerzhaften<br />
Wirbelkörperfrakturen führen kann. Die<br />
allermeisten Patienten leiden zudem unter<br />
Depressionen und Schlafstörungen, aber<br />
auch Angststörungen und eine verminderte<br />
kognitive Leistungsfähigkeit treten vermehrt<br />
auf. Neben all diesen sowieso schon belastenden<br />
Symptomen führt der häufig lange<br />
Krankheitsweg – im Schnitt konsultieren die<br />
Patienten mehr als vier Ärzte, bevor die Diagnose<br />
gestellt wird – zu einer zusätzlichen<br />
Belastung.<br />
Das Cushing-Syndrom ist glücklicherweise<br />
gut behandelbar. Wie können sich die<br />
verfügbaren Therapien positiv auf das<br />
Leben Betroffener auswirken?<br />
Ein unbehandeltes Cushing-Syndrom<br />
verläuft sehr häufig tödlich, Patienten mit<br />
unbehandeltem Cushing-Syndrom versterben<br />
meist an kardiovaskulären Ereignissen<br />
wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten oder<br />
an Infektionen. Die Langzeitprognose der<br />
Patienten bessert sich durch eine effektive<br />
Therapie enorm. Deshalb ist eine rasche<br />
und effektive Behandlung essenziell. Es gibt<br />
verschiedene Unterformen des Cushing-Syndroms,<br />
aber alle werden in erster Linie operativ<br />
behandelt. Nach der Operation kommt<br />
es häufig zu einem schnellen Gewichtsverlust<br />
und zu einer raschen Besserung von<br />
metabolischen Komplikationen. Dies bedeutet,<br />
wenn die Patienten unter einem Bluthochdruck<br />
oder einem Diabetes leiden, dann<br />
bessern sich beide Krankheitsbilder häufig<br />
sehr schnell. Viele Patienten benötigen nach<br />
einer Therapie zum Beispiel deutlich weniger<br />
Blutdruckmedikamente.<br />
Gibt es auch belastende Aspekte der<br />
Therapie?<br />
Ja, denn bei der häufigsten Form des Cushing-Syndroms,<br />
dem sogenannten Morbus<br />
Cushing, wird eine Operation an der Hypophyse<br />
(Hirnanhangsdrüse) durchgeführt. Die<br />
Hypophyse produziert zahlreiche Hormone,<br />
die für das tägliche Leben wichtig sind.<br />
Durch die Operation kann es zu Schäden an<br />
der Hypophyse kommen. Falls eine Operation<br />
nicht möglich ist oder nicht erfolgreich war, kann<br />
das Cushing-Syndrom auch medikamentös<br />
behandelt werden. Die verschiedenen<br />
Medikamente führen zu einer Senkung des<br />
Cortisolspiegels, wodurch sich die körperlichen<br />
Begleiterscheinungen bessern. Natürlich<br />
haben diese Medikamente aber auch Nebenwirkungen.<br />
Diese unterscheiden sich von<br />
Präparat zu Präparat. Einige Nebenwirkungen<br />
vergehen nach einer Gewöhnungsphase,<br />
während andere persistieren können. Für<br />
einige Patienten, welche einen Morbus Cushing<br />
haben, kann auch eine Strahlentherapie<br />
infrage kommen. Hierbei ist allerdings zu<br />
beachten, dass der Effekt der Strahlentherapie<br />
oft erst ein bis zwei Jahre nach Behandlung<br />
eintritt. Diese Wartezeit kann belastend<br />
sein. In der Regel wird die Strahlentherapie<br />
daher nur in Kombination mit einer medikamentösen<br />
Therapie durchgeführt.<br />
Wenn die Diagnose gestellt ist, kann<br />
schnell mit einer Behandlung begonnen<br />
werden, um Betroffene in Remission zu<br />
führen. Gibt es auch in dieser Remissionsphase<br />
belastende Aspekte?<br />
Auch hier gibt es viele belastende Aspekte,<br />
die häufig aber wenig im Fokus stehen.<br />
Das eigentliche Problem der Therapie ist<br />
der sogenannte Glukokortikoidentzug:<br />
Das Cushing-Syndrom führt ja, wie gesagt,<br />
zu sehr hohen Cortisolwerten. Nach der<br />
Therapie leiden die Patienten unter dem<br />
Gegenteil, einem Cortisolmangel. Dies<br />
bezeichnet man als Nebenniereninsuffizienz.<br />
Dieser rasche Wechsel von erst sehr<br />
hohen Cortisolwerten zu sehr niedrigen<br />
Cortisolwerten kann mit einer Reihe von<br />
Patienten mit unbehandeltem Cushing-Syndrom<br />
versterben meist an kardiovaskulären Ereignissen<br />
wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten oder an<br />
Infektionen. Die Langzeitprognose der Patienten<br />
bessert sich durch eine effektive Therapie enorm.<br />
Problemen einhergehen: vermehrtem<br />
Schlafbedürfnis, Gelenk- und Muskelschmerzen<br />
und einer depressiven Stimmungslage.<br />
Häufig geht es den Patienten<br />
also in den ersten Monaten nach der Operation<br />
erst mal subjektiv schlechter, bevor sie<br />
sich langsam erholen. Dies ist insofern problematisch,<br />
als das Glukokortikoidentzugssyndrom<br />
nicht sehr bekannt ist und Patienten<br />
daher häufig nicht darauf vorbereitet<br />
werden. Viele Betroffene profitieren von<br />
Schulungsprogrammen zum Umgang mit<br />
der Nebenniereninsuffizienz, von einer<br />
engmaschigen Betreuung, gegebenenfalls<br />
auch von einer Rehabilitation und leichtem<br />
körperlichem Training.<br />
Zudem gibt es bei einigen Formen des<br />
Cushing-Syndroms ein Rückfallrisiko. Alle<br />
Patienten mit Cushing-Syndrom sollten daher<br />
lebenslang in ein Nachsorgeprogramm<br />
aufgenommen werden und einmal jährlich<br />
untersucht werden. Hierbei werden dann<br />
regelmäßig die Cortisolwerte gemessen,<br />
um einen Rückfall, ein Rezidiv, frühzeitig<br />
zu diagnostizieren.
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23<br />
„Wenn Sie Cushing hätten, würden<br />
Sie auch wie ein Cushing aussehen!“<br />
Lars Rößler war vom Cushing-Syndrom betroffen und musste einige Hürden nehmen, bevor er<br />
die richtige Diagnose erhalten hat. Warum seine Erkrankung ihn trotz der notwendigen OP ein<br />
Leben lang begleiten wird, erzählt er uns im Interview.<br />
Lars Rößler<br />
Cushing-Patient<br />
Text Hanna Sinnecker<br />
Aspekte – sie war von vorne bis hinten ein Horror!<br />
Der Schock, knapp an einer Querschnittslähmung<br />
vorbeigeschrammt zu sein und gleichzeitig zu erfahren, dass<br />
man möglicherweise eine schwere Krankheit hatte, von der<br />
man nichts ahnte, war erheblich.<br />
Herr Rößler, Sie waren betroffen vom Cushing-Syndrom.<br />
Wie lange hat es bei Ihnen vom<br />
ersten Auftreten der Beschwerden bis zur Diagnose<br />
gedauert? Gab es Fehldiagnosen und, wenn ja,<br />
welche?<br />
Ab einem Alter von ziemlich genau 40 Jahren zeigten<br />
sich bei mir einige Auffälligkeiten, die ich allenfalls<br />
registrierte, ohne mir große Sorgen zu machen:<br />
leichter Muskelschwund, Neigung zu Blutergüssen,<br />
Atemaussetzer im Schlaf, später dann Bluthochdruck<br />
und eine erhöhte Infektanfälligkeit. Äußerliche<br />
Veränderungen vor allem im Gesicht fielen mir selbst<br />
und anderen erst sehr viel später beim Betrachten<br />
alter Fotos auf. Manches sprach ich durchaus auch<br />
mal bei meinem Hausarzt an, der dazu nachsichtig<br />
lächelnd meinte: „Ja, ja, wir werden alle älter …“ Der<br />
Ernst der Lage wurde mir und allen anderen schlagartig<br />
und recht dramatisch bewusst, als mir mit 47<br />
infolge eines Hebetraumas ein Lendenwirbel brach<br />
und in der Klinik Osteoporose diagnostiziert wurde.<br />
Bei der Ursachensuche konnte auch der Endokrinologe<br />
nicht gleich eine mögliche Primärerkrankung<br />
feststellen, allerdings machte ich selbst mich gleich<br />
mit den erhaltenen Blutwerten an die Internetrecherche.<br />
Obwohl längst nicht alle Symptome bei mir<br />
zutrafen, hatte ich gleich ein mulmiges Gefühl, als ich<br />
auf eine mir bis dahin unbekannte Erkrankung namens<br />
Morbus Cushing stieß. Als ich meinen Hausarzt<br />
darauf ansprach, schien dieser amüsiert und meinte:<br />
„Wenn Sie Cushing hätten, würden Sie auch wie ein<br />
Cushing aussehen.“ In der Tat konnte von der meist<br />
zu beobachtenden Stammfettsucht keine Rede sein,<br />
trotzdem wiesen weitere Tests des Endokrinologen<br />
darauf hin. Eine erste Bildgebung des Kopfes war zwar<br />
unauffällig, sodass die Diagnosefindung erst einmal<br />
weiterging, aber ein zweites MRT machte dann doch ein<br />
vier Millimeter großes Hypophysenadenom sichtbar.<br />
Was war für Sie auf dem Weg zur Diagnose am<br />
belastendsten?<br />
Der Schock, knapp an einer Querschnittslähmung<br />
vorbeigeschrammt zu sein und gleichzeitig zu erfahren,<br />
dass man möglicherweise eine schwere Krankheit<br />
hatte, von der man nichts ahnte, war erheblich.<br />
In den Wochen danach rauchte mir zeitweise der Kopf<br />
vor lauter Recherchen und Grübeleien. Und dann zog<br />
sich die Diagnose nach dem Bruch ja über zehn Monate<br />
hin, bis wir Klarheit hatten. In dieser Zeit standen<br />
durchaus auch mal andere Möglichkeiten im Raum.<br />
So wurde mir recht mulmig, als ich in meinem Laborblatt<br />
sah, dass auch Tumormarker getestet wurden.<br />
Was hat sich nach Diagnosestellung und Therapiebeginn<br />
verbessert? Gab es auch belastende<br />
Aspekte der Therapie für Sie?<br />
Auf der einen Seite war ich froh, nun endlich Klarheit<br />
zu haben. Jedoch besteht die Therapie bei dieser Art<br />
Erkrankung ja nun mal aus einer nicht ungefährlichen<br />
Operation im Kopf. Leider war ich schlecht beraten,<br />
was die Wahl der Neurochirurgie betraf. Und auf den<br />
OP-Termin musste ich infolge dauernder Verschiebungen<br />
nochmals ein halbes Jahr warten. Da war ich<br />
dann mit den Nerven am Ende und wollte nur noch,<br />
dass das Ding endlich rauskam. Leider gab es gleich<br />
mehrere erhebliche Komplikationen in den Tagen<br />
und Wochen nach der OP. Fehler bei der Nachsorge<br />
bescherten mir eine schwere Nebennierenkrise, vor<br />
allem aber kam ich wenige Tage nach Entlassung mit<br />
einer schweren Meningitis in die Klinik zurück. Insofern<br />
hatte die Therapie für mich nicht nur belastende<br />
Sie befinden sich in Remission, d.h. die Symptome<br />
der Erkrankung sind abgeschwächt bzw.<br />
zurückgedrängt. Gibt es für Sie auch in Remission<br />
belastende Aspekte, oder überwiegen die<br />
positiven Faktoren?<br />
In den Veröffentlichungen, die es zu dieser Krankheit<br />
gibt, wie auch in den Erläuterungen der meisten<br />
Ärzte wird oft der Eindruck erweckt, mit der Operation<br />
sei nach jahrelangem Leiden dann alles gut.<br />
In meinem Fall waren die Symptome ja nicht sehr<br />
belastend, deswegen habe ich den Einschnitt infolge<br />
des Bruchs und dann infolge der Operation natürlich<br />
als regelrechten Absturz erlebt. Zwar hatte die OP<br />
den erwünschten Erfolg: Mein Blutdruck war sofort<br />
danach optimal, die Knochendichte verbesserte sich<br />
allmählich, Atemaussetzer im Schlaf gab es auch<br />
keine mehr. Aber alleine die hormonelle Umstellung<br />
war eine Tortur – acht Monate höllische Gelenkschmerzen,<br />
morgendliche Übelkeit, anfallartige<br />
Schwächezustände, um nur einige Beispiele<br />
zu nennen. Und da meine Nebennieren, die viele<br />
Jahre viel zu viel Cortisol produziert haben, nach der<br />
Operation zwei Jahre so gut wie gar nicht und heute,<br />
nach fünfeinhalb Jahren, nur unzureichend arbeiten,<br />
muss ich weiterhin Hydrocortison einnehmen,<br />
mein Stresslevel im Auge behalten und bin<br />
insgesamt sehr viel weniger belastbar geworden. Die<br />
Macht der Hormone habe ich in den letzten Jahren<br />
jedenfalls zur Genüge kennengelernt – so haben<br />
auch meine kognitiven Fähigkeiten (z.B. Kurzzeitgedächtnis<br />
und Multitasking) deutlich nachgelassen.<br />
Zur Operation gab es trotzdem keine Alternative, nur<br />
wüsste ich heute besser als damals, wohin ich mich<br />
wenden müsste.<br />
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0-22-02-1 Stand Feb. 2022