24.02.2022 Aufrufe

Seltene Erkrankungen

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

EINE UNABHÄNGIGE KAMPAGNE VON MEDIAPLANET<br />

Lesen Sie mehr auf www.seltenekrankheiten.de<br />

SELTENE Die Waisen der Medizin<br />

ERKRANKUNGEN<br />

„Ich war dem<br />

Tod näher<br />

als dem Leben“<br />

Dimitra leidet bereits seit ihrer Kindheit<br />

an eosinophiler Granulomatose<br />

mit Polyangiitis (EGPA).<br />

NICHT VERPASSEN:<br />

Amyloidose Wie die<br />

Multisystemerkrankung erkannt<br />

und therapiert werden kann<br />

Seite 8<br />

Hämophilie Wie Therapietreue<br />

bei Kindern und Jugendlichen<br />

gelingen kann<br />

Seite 12<br />

Pulmonale arterielle<br />

Hypertonie Prof. Hanno<br />

Leuchte über Risikogruppen<br />

und Behandlungsoptionen<br />

Seite 16


2 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

VERANTWORTLICH FÜR DEN<br />

INHALT IN DIESER AUSGABE<br />

Miriam Hähnel<br />

Die Forschung im<br />

Bereich der seltenen<br />

<strong>Erkrankungen</strong><br />

schreitet voran.<br />

Trotzdem ist noch viel<br />

zu tun: damit immer<br />

mehr Betroffene von<br />

einer individuellen<br />

Behandlung profitieren<br />

können.<br />

IN DIESER AUSGABE<br />

06<br />

Beta-Thalassämie<br />

Nicola De Nittis über sein langes<br />

Doppelleben mit der Erkrankung und den<br />

Mut, Klartext zu reden.<br />

Online<br />

Die Genmutation SCN8A<br />

Eine unter 400 – Unser Kind leidet an<br />

der seltenen Erkrankung de Novo. Eine<br />

Mutter im Interview.<br />

Industry Manager Health: Miriam Hähnel<br />

Geschäftsführung: Richard Båge (CEO), Philipp Colaço<br />

(Managing Director), Franziska Manske (Head of Editorial &<br />

Production), Henriette Schröder (Sales Director) Designer:<br />

Elias Karberg Mediaplanet-Kontakt: redaktion.de@<br />

mediaplanet.com Coverbild: Privat<br />

Artikel, die mit mit Unterstützung gekennzeichnet<br />

sind,sind keine neutrale Mediaplanet-Redaktion.<br />

facebook.com/<br />

MediaplanetStories<br />

@Mediaplanet_germany<br />

Please recycle<br />

Lisa Biehl<br />

Leiterin der ACHSE<br />

Selbsthilfegemeinschaft<br />

Wenn Kinder mit<br />

seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />

älter werden<br />

Es gibt etwa 8.000 <strong>Seltene</strong> <strong>Erkrankungen</strong>. Darunter sind Autoimmunerkrankungen,<br />

Knochen-, Augen- und Muskelerkrankungen oder neurologische<br />

<strong>Erkrankungen</strong>. Mal fehlt ein Enzym oder ein Botenstoff, dann<br />

werden Fette oder Zucker nicht abtransportiert, reichern sich in verschiedenen<br />

Organen an und zerstören sie. Die Krankheitsbilder und Ausprägungen<br />

sind so vielfältig und komplex wie die Ursachen.<br />

80%<br />

der <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> sind genetisch<br />

bedingt, treten oft schon früh auf und betreffen<br />

somit vor allem Kinder, die zu Hause<br />

umsorgt werden, oftmals mit umfassendem<br />

pflegerischem Aufwand. Es wird Schleim<br />

aus den Lungen gesaugt, Kanülen werden<br />

gewechselt, Medikamente verabreicht, es<br />

wird getragen, gelagert und gestützt. Um die<br />

medizinische Versorgung kümmert sich die<br />

Pädiatrie. Doch aus Kindern werden Jugendliche<br />

und Erwachsene, die weiterhin<br />

ihr Leben lang auf Unterstützung angewiesen<br />

sind: Wie steht es aber um die medizinische<br />

Versorgung chronisch kranker<br />

Menschen, die mit dem 18. Lebensjahr aus<br />

der pädiatrischen Versorgung herausfallen?<br />

Wie können sie in einer Erwachsenenmedizin<br />

behandelt werden, die auf sie nicht eingestellt<br />

ist und weder Kapazitäten noch<br />

Fachkenntnisse hat?<br />

In der ACHSE sind über 130 Selbsthilfeorganisationen<br />

vereint. Hier wird Wissen ausgetauscht<br />

und gebündelt. Viele Themen<br />

überschneiden sich krankheitsübergreifend.<br />

Diese packen wir gemeinsam an. Der<br />

Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenmedizin<br />

ist so ein Thema, das viele Eltern<br />

und Betroffene in der ACHSE bewegt.<br />

Deshalb haben wir eine Arbeitsgruppe<br />

V<br />

iele Menschen wissen nicht, was<br />

es bedeutet, mit einer <strong>Seltene</strong>n<br />

Erkrankung zu leben. Das möchte<br />

die Allianz der Chronischen<br />

<strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> (ACHSE) e.V. ändern.<br />

Der Anstoß für die Aktion „Selten allein“ kam<br />

von den universitären Zentren für <strong>Seltene</strong><br />

<strong>Erkrankungen</strong>. Verantwortlich für die Koordinierung<br />

sind der Verband der Universitätsklinika<br />

Deutschlands e.V. sowie die ACHSE e.V.<br />

als Dachorganisation von rund 130 Patientenorganisationen.<br />

Gastgeber und Unterstützer<br />

vor Ort sind die Einkaufsbahnhöfe.<br />

Die Kunstaktion "Selten allein"<br />

...zeigt 20 Selbstporträts, die Menschen<br />

mit <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> in den letzten<br />

Monaten gemalt, gezeichnet oder fotografiert<br />

haben. Diese Bilder sind zusammen mit einer<br />

kurzen Selbstauskunft zur Person und deren<br />

Erkrankung in ausgewählten Einkaufsbahnhöfen<br />

und Uniklinika in Deutschland zu<br />

sehen. Auf diese Weise machen Betroffene<br />

am 28. Februar 2022 auf den 15. weltweiten<br />

Transition gebildet. Damit wollen wir nicht<br />

nur den Finger in die Wunde legen, sondern<br />

die Bedarfe analysieren und gemeinsam<br />

Lösungen erarbeiten. Zugleich werden wir<br />

das Thema an die Politik adressieren. Wir<br />

wollen die allgemeine medizinische Versorgungssituation<br />

betrachten. Dabei gibt es<br />

eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten<br />

und Mängeln aufzudecken, die schon auf<br />

anderen Ebenen häufig adressiert wurden:<br />

Es fehlt an gebündelter Expertise, qualifizierten<br />

Fachkräften und Strukturen. Darunter<br />

leiden nicht nur chronisch kranke Menschen,<br />

diese jedoch besonders. Als Netzwerk<br />

und Dachverband von und für die Waisen<br />

der Medizin sind wir es gewohnt, dicke Bretter<br />

zu bohren und steinige Wege zu beschreiten.<br />

Wie können Sie helfen? Am 28. Februar ist<br />

Rare Disease Day. Betroffene Menschen und<br />

ihre Angehörigen machen weltweit auf <strong>Seltene</strong><br />

<strong>Erkrankungen</strong> aufmerksam. Sie rücken<br />

ihre Anliegen in den Fokus der Öffentlichkeit.<br />

Denn Menschen mit <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong><br />

benötigen Aufmerksamkeit, damit<br />

ihre Bedarfe vernommen werden – in Politik,<br />

Gesellschaft, Forschung, Medizin und<br />

Wissenschaft. Unterstützen Sie die vielfältigen<br />

Aktionen in den Sozialen Medien.<br />

Schauen Sie sich um: Auch in diesem Jahr<br />

erstrahlt die weltweite Lichterkette aus angeleuchteten<br />

Gebäuden in Pink, Grün, Lila<br />

und Blau. Vielleicht ja auch in Ihrer Nähe!<br />

Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen<br />

Lisa Biehl<br />

Kunstaktion „Selten allein“<br />

– Ausstellung zum Tag der <strong>Seltene</strong>n<br />

<strong>Erkrankungen</strong> 2022<br />

Tag der <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong> aufmerksam.<br />

Ausstellungsorte bundesweit<br />

In folgenden Einkaufsbahnhöfen wird die<br />

Ausstellung "Selten allein" ab 18. Februar 2022<br />

zwei Wochen lang gezeigt:<br />

Bahnhof Zoologischer Garten, Berlin<br />

Bahnhof Friedrichstraße, Berlin<br />

Hauptbahnhof Dresden<br />

Bahnhof Neustadt, Dresden<br />

Bahnhof Halle an der Saale<br />

Bahnhof Freiburg<br />

Bahnhof Heidelberg<br />

Bahnhof Tübingen<br />

Bahnhof Mainz<br />

Bahnhof Mannheim<br />

Vernetzung und Informationen online<br />

Die Website www.seltenallein.de zeigt nicht<br />

nur die Bilder der Ausstellung und weitere<br />

Kunstwerke von Betroffenen, sondern bietet<br />

Informationen zu <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong><br />

und eröffnet den direkt oder indirekt Betroffenen<br />

die Gelegenheit, sich zu vernetzen.


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

3<br />

Wenn durch medizinischen<br />

Fortschritt Licht ins<br />

Dunkel kommt<br />

Unter erblichen Netzhauterkrankungen<br />

wird eine Vielzahl seltener Augenkrankheiten<br />

zusammengefasst, bei denen<br />

die Funktion der Sinneszellen in der<br />

Netzhaut aufgrund genetischer Veränderungen<br />

gestört ist. Die Schwestern<br />

Vildana (V) und Emina (E) sind beide<br />

betroffen von Retinitis pigmentosa. Sie<br />

sprachen mit uns über ihren Weg bis zur<br />

Diagnose und über neue Hoffnung durch<br />

innovative Therapiemöglichkeiten.<br />

Text Miriam Barbara Rauh<br />

FOTO: SHUTTERSTOCK<br />

Vildana und Emina, Sie haben beide die Diagnose<br />

Retinitis pigmentosa erhalten.<br />

Wann traten die ersten Beschwerden bei<br />

Ihnen auf und wann wurde jeweils die Diagnose<br />

gestellt?<br />

V: Wir haben die Diagnosen ca. 2002 bekommen.<br />

Da war ich sieben und meine Schwester<br />

war vier oder fünf Jahre alt. Das erste Anzeichen,<br />

das wir beide bemerkten, war Nachtblindheit.<br />

Das trat auch etwa zu dieser Zeit auf.<br />

Bei der Retinitis pigmentosa sterben<br />

schrittweise Netzhautzellen ab, was die<br />

Sehfähigkeit zunehmend beeinträchtigt.<br />

Können Sie uns etwas mehr erzählen<br />

über Ihren Alltag mit Ihrer<br />

Erkrankung?<br />

E: Zunächst habe ich nur nachts einen<br />

Blindenstock gebraucht. Dass ich eine<br />

zunehmende Verschlechterung der Sehfähigkeit<br />

bemerkt habe, hat bei mir im Alter<br />

von 13 Jahren angefangen.<br />

V: Ich habe schon in der ersten Klasse<br />

starke Vergrößerungen gebraucht, um<br />

lesen zu können. Das hat sich im Laufe der<br />

Schulzeit verschlechtert, 2019 wurde es<br />

noch einmal deutlich schlimmer. Schrift<br />

kann ich seitdem nicht mehr ohne Hilfsmittel<br />

lesen. Die Nachtblindheit ist bei mir<br />

konstant, da hat sich auch nichts verbessert.<br />

Die Retinitis pigmentosa ist genetisch<br />

bedingt. Gab es in Ihrer Familie bereits<br />

vor Ihnen bestätigte Fälle oder Familienangehörige,<br />

die entsprechende<br />

Symptome gezeigt haben?<br />

V: Unsere Mutter und unser Vater haben<br />

beide den gleichen Gendefekt, und wir<br />

Geschwister, also meine Schwester, unser<br />

Bruder und ich, sind ebenfalls alle betroffen.<br />

Unsere Eltern haben, seit ich denken<br />

kann, sehr schlecht gesehen, wenn es dunkel<br />

wurde. Sie gingen dann nicht aus dem<br />

Haus. Im Laufe der Jahre hat sich das weiter<br />

verschlechtert. Unser Vater, der jetzt<br />

Anfang 50 ist, kann außer hell, dunkel<br />

oder Umrissen fast nichts mehr sehen.<br />

Davor konnte er sehr gut Fahrrad fahren<br />

und auch lesen, das ist jetzt nicht mehr<br />

möglich. Die Erkrankung ist sehr selten<br />

und unsere Eltern sind nicht miteinander<br />

verwandt. Es ist fast ein kosmischer<br />

Scherz, dass die beiden sich getroffen<br />

haben. Unsere Eltern wussten zwar, dass sie<br />

beide eine Augenerkrankung haben, aber<br />

nicht, welche es ist. Erst gegen 2002, als wir<br />

nach Tübingen kamen und sie an der Augenklinik<br />

untersucht wurden, wurde bei<br />

ihnen die Diagnose gestellt. Daraufhin wurden<br />

dann auch wir Kinder untersucht und<br />

diagnostiziert.<br />

Bis 2018 gab es keine zugelassene Therapie<br />

gegen Ihre Erkrankung. Was waren<br />

Ihre ersten Gedanken, als Sie erfuhren,<br />

dass Ihnen nun vielleicht mittels einer<br />

Gentherapie geholfen werden kann?<br />

E: Das war sehr aufregend! Wir wussten<br />

schon länger, dass an einer Therapie geforscht<br />

wird, und mussten im Vorfeld viele<br />

Tests machen, um zu sehen, ob wir geeignet<br />

sind. Als wir dann im Herbst 2019 das<br />

OK bekamen und die Therapie in Deutsch-<br />

land zugelassen wurde, habe ich mich sehr<br />

gefreut.<br />

Wie sieht Ihr Alltag nun nach erfolgter<br />

Behandlung aus?<br />

E: Nach der Therapie habe ich viel besser<br />

gesehen, auch nachts. Normalerweise brauche<br />

ich jetzt keinen Blindenstock mehr.<br />

Auch brauche ich nicht mehr so viel Licht,<br />

zum Beispiel beim Lesen.<br />

V: Bei mir war von vornherein klar, dass<br />

es nicht so große Veränderungen geben<br />

wird wie bei meiner Schwester. Die Grundvoraussetzung<br />

der vorhandenen Zellen<br />

ist unterschiedlich. Konkret verändert hat<br />

sich, dass ich viel besser Lichter sehen kann<br />

und Lichtquellen schneller identifizieren<br />

kann. Es ist ein großer Fortschritt, dass es<br />

diese Therapie gibt. Wer betroffen ist, sollte<br />

jedenfalls keine Angst vor der Behandlung<br />

haben und die Therapie in Anspruch nehmen.<br />

Vor allem wenn man jünger ist, ist<br />

sie wirklich eine gute Möglichkeit, die Lebensqualität<br />

zu erhalten.<br />

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Novartis Pharma GmbH entstanden.<br />

Der Gentest:<br />

Ein wichtiger Meilenstein bei der Diagnose<br />

von erblichen Netzhauterkrankungen<br />

In Deutschland sind Schätzungen zufolge insgesamt<br />

rund 75.000 Menschen von einer erblichen<br />

Netzhauterkrankung betroffen. [1] Sie<br />

treten häufig bereits bei Säuglingen und<br />

Kleinkindern auf, weshalb besonders (Groß-)Eltern<br />

auf Symptome, wie z.B. Nachtblindheit oder<br />

Verlust der Lichtempfindlichkeit bzw. Sehschärfe<br />

achten sollten. Weil diese Symptome unterschiedliche<br />

Ursachen haben können, ist eine genetische<br />

Testung für die gesicherte Diagnose<br />

einer erblichen Netzhauterkrankung unabdingbar.<br />

Ein Gentest: Der Weg zur Diagnose<br />

Mit einem Gentest kann mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

festgestellt werden, ob es bei einem Patienten<br />

genetische Veränderungen gibt. Ein<br />

Gentest umfasst die Untersuchung der DNA mittels<br />

Blut- oder Speichelprobe: So analysieren Humangenetiker<br />

die Ergebnisse und suchen nach<br />

Veränderungen (Mutationen). Liegt eine genetische<br />

Veränderung vor, lassen sich Rückschlüsse<br />

darauf ziehen, wie die Netzhauterkrankung in der<br />

Familie vererbt wird und wie der Verlauf der Erkrankung<br />

höchstwahrscheinlich verlaufen wird.<br />

Mithilfe der Gentestung kann zudem herausgefunden<br />

werden, ob der Patient gegebenenfalls für<br />

eine Therapie infrage kommt oder an einer klinischen<br />

Studie teilnehmen könnte. Sobald die Analyse<br />

vorliegt, sollten Betroffene oder ihre Eltern<br />

eine humangenetische Beratung zur Erläuterung<br />

der Ergebnisse in Anspruch nehmen.<br />

Wissenswertes rund um den Gentest<br />

■ Bei Verdacht auf eine erbliche Netzhauterkrankung<br />

wird in Abhängigkeit vom klinischen Erscheinungsbild<br />

und dem aufgrund der Stammbaumanalyse anzunehmenden<br />

Erbgang ein gewisses Panel (Gruppe)<br />

infrage kommender Gene ausgewählt.<br />

■ Gentestung bei Hinweis auf eine seltene Erkrankung<br />

ist eine Kassenleistung und kann von jedem<br />

Arzt bei jedem Patienten mit einem Überweisungsschein<br />

nach Muster 10 veranlasst werden.<br />

■ Während Privatpatienten eine Kostenübernahmebestätigung<br />

benötigen, ist ein solcher Antrag bei gesetzlich<br />

Versicherten nicht notwendig.<br />

Weitere Informationen unter:<br />

www.erbliche-netzhauterkrankungen.de<br />

[1]<br />

Hanany<br />

M, Rivolta C,<br />

Sharon D.<br />

Worldwide carrier<br />

frequency<br />

and genetic<br />

prevalence<br />

of autosomal<br />

recessive<br />

inherited retinal<br />

diseases.<br />

PNAS 2020;<br />

117(5) 2710-<br />

2716.


4 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

„Was bleibt, ist die Hoffnung“<br />

Die seltene erbliche Augenkrankheit Lebersche hereditäre Optikusneuropathie<br />

(LHON) soll Studien zufolge erstmals ursächlich behandelt werden können.<br />

Welche Hoffnungen damit geweckt werden und wie der Alltag mit LHON<br />

ist, darüber spricht Ines.<br />

B<br />

ei der Krankheit LHON handelt es sich um eine<br />

seltene Erbkrankheit, die immer von der Mutter<br />

übertragen wird. Bei meinem Sohn Lars brach die<br />

Krankheit aus und wir erfuhren durch die Diagnosestellung<br />

zum erstem Mal davon, dass unsere Familie von<br />

LHON betroffen ist. Ob vielleicht auch weitere Mitglieder<br />

unserer Familie betroffen waren oder sind, wissen wir nicht.<br />

Die Angst ist groß, dass auch noch sein Bruder und ich<br />

erkranken.<br />

Mein Sohn Lars (20) stand voll im Leben, absolvierte seine<br />

Ausbildung, fuhr leidenschaftlich gern Auto und genoss<br />

seine neue Freiheit als junger Erwachsener in vollen Zügen.<br />

Im September 2020 kam er nach Hause und erzählte von<br />

Sehproblemen. Auf dem einen Auge konnte er plötzlich<br />

nicht mehr richtig sehen. Das Sichtfeld war zu diesem Zeitpunkt<br />

bereits stark beeinträchtigt. Dieser Prozess geschah<br />

vollkommen schmerzfrei. Wir dachten uns alle nichts<br />

dabei, haben aber dennoch einen Termin beim Augenarzt<br />

gemacht, der am 1. Oktober stattfand. Als Lars danach nach<br />

Hause kam, war er ganz durcheinander, weil der Arzt ihm<br />

nahegelegt hatte, sofort in die Uniklinik zu gehen. Das<br />

haben wir dann auch getan. Ich bin immer noch davon ausgegangen,<br />

dass Lars vielleicht eine Brille braucht, war voller<br />

Optimismus. Als er dann auf der Neurologie aufgenommen<br />

wurde, schwand dieser schon ein bisschen – Verdachtsdiagnosen<br />

von MS bis hin zu Hirntumor standen im Raum.<br />

Es wurden dann sehr viele Untersuchungen gemacht. Nach<br />

einigen Tagen auf der Station verlor er sein Augenlicht fast<br />

komplett und war quasi von heute auf morgen stark<br />

auf Hilfe angewiesen, sein Sehvermögen hat sich stark<br />

verschlechtert. Das war eine sehr schwierige Zeit für ihn.<br />

Meinen Sohn so verzweifelt zu sehen, brach mir fast das<br />

Herz. Am 12. Oktober wurde er fast blind entlassen. LHON<br />

stand schon als Verdacht auf dem Arztbrief. Nach weiteren<br />

ambulanten Untersuchungen wurde die Diagnose dann<br />

auch gestellt, Lars bekam ein Medikament. Ich setzte mich<br />

kurz darauf mit PRO RETINA und Experten aus dem Bereich<br />

in Kontakt und baute mir ein Netzwerk aus Freunden<br />

und Experten auf. So kam Lars auch zum LMU Klinikum<br />

München (Friedrich-Baur-Institut an der Neurologischen<br />

Klinik und Augenklinik), und als der humangenetische<br />

Befund feststand, bekamen wir zeitnah einen Termin bei<br />

der LMU. Dort, am 15.01.21, erfuhren wir auch das erste Mal<br />

von der neuen Möglichkeit der Gentherapie. Lars entschied<br />

Das Leben sehend<br />

erleben dürfen.<br />

sich sofort, an der Therapie teilzunehmen. Doch durch<br />

Corona verzögert sich die Zulassung bis heute. Ich kämpfte<br />

wie eine Löwin, um Lars diese Therapie zu ermöglichen. Ich<br />

schrieb Krankenhäuser überall auf der Welt, in England, der<br />

Schweiz, in den USA, Paris, und auch das Uniklinikum Bonn<br />

an, um herauszufinden, ob die Therapie dort bereits zugelassen<br />

ist. Leider ohne Erfolg. Lars hofft jeden Tag auf den<br />

Anruf, dass es losgehen kann. Es ist seine größte Hoffnung<br />

auf ein wieder sehendes uneingeschränktes Leben.<br />

Ich kämpfe, wie auch oben bereits gesagt, wie eine<br />

Löwin, um Hilfe für Lars zu erhalten. Erst jetzt weiß ich,<br />

welche Stolpersteine Menschen mit Behinderung im Weg<br />

liegen und dass man wenig langfristige Begleitung und<br />

Hilfe erhält. Wir mussten uns tatsächlich jede Hilfe selbst<br />

erbitten. Auf dem Weg sind uns viele helfende Menschen<br />

begegnet, jedoch auch viel Ignoranz und Unverständnis.<br />

Letztendlich ist Lars derjenige, der tagtäglich mit großen<br />

Herausforderungen im Leben mit stark eingeschränktem<br />

Sichtfeld zurechtkommen muss und dafür wirklich wie ein<br />

Löwe kämpft, dass es auch bitte keiner sieht.<br />

Mittlerweile sind so viele Monate vergangen, dass Lars<br />

gelernt hat, mit seinem Handicap zu leben. Er macht<br />

gerade sein Abitur auf der Carl-Strehl-Schule. Ob er danach<br />

studiert oder wir einen Weg finden, dass er seine Ausbildung<br />

fortsetzen kann, wissen wir noch nicht. Alles Step by<br />

Step. Ich bin einfach unglaublich stolz auf meinen Sohn und<br />

wünsche ihm so sehr, dass sein allergrößter Wunsch, die<br />

Welt dank der Gentherapie wieder uneingeschränkt sehend<br />

zu erleben, wahr wird.<br />

5 Fakten zu LHON<br />

#1<br />

Die Lebersche hereditäre<br />

Optikusneuropathie<br />

ist eine erblich bedingte<br />

Erkrankung, bei der es durch eine<br />

mangelnde Energieversorgung in<br />

der Netzhaut zu einer Schädigung<br />

des Sehnervs kommt.<br />

#2<br />

In Deutschland sind ca.<br />

3.000 Menschen davon<br />

betroffen. Meistens sind dies junge<br />

Männer im Alter von 15 bis 30<br />

Jahren.<br />

#3<br />

Die ersten Symptome<br />

bleiben oft unbemerkt:<br />

ein plötzlicher einseitiger<br />

Sehverlust, der schmerzlos<br />

einhergeht. Das zweite Auge<br />

folgt innerhalb einiger Wochen.<br />

Betroffen ist hauptsächlich das<br />

zentrale Sehen, das für das Lesen<br />

und das Erkennen von Gesichtern<br />

verantwortlich ist.<br />

#4<br />

Eine vollständige Heilung<br />

der LHON ist<br />

momentan nicht möglich. Für die<br />

betroffenen Patienten bedeutet<br />

der rapide Verlust ihrer Sehfähigkeit<br />

eine hohe Beeinträchtigung<br />

der Lebensqualität. Eine Behandlung<br />

mit einem Medikament,<br />

welches zu einer Verbesserung<br />

der Sehschärfe führen kann, ist<br />

möglich. Eine Gentherapie zu<br />

LHON befindet sich momentan in<br />

der Zulassung.<br />

#5<br />

Um die Erkrankung<br />

besser zu verstehen,<br />

hat die Selbsthilfeorganisation<br />

PRO RETINA eine Verlaufsstudie<br />

zu LHON ins Leben gerufen.<br />

www.pro-retina.de<br />

ANZEIGE<br />

GENOMISCHE MEDIZIN<br />

BEI SELTENEN NETZHAUTERKRANKUNGEN<br />

GenSight Biologics, ein Biopharma-Unternehmen aus Frankreich, hat sich auf die Forschungsarbeit an schweren neurodegenerativen Augenerkrankungen<br />

und <strong>Erkrankungen</strong> des zentralen Nervensystems spezialisiert. Die innovativen Therapieansätze fokussieren sich dabei besonders auf<br />

Patientinnen und Patienten mit Leberscher hereditärer Optikusneuropathie (LHON) und Retinitis Pigmentosa.<br />

Am weitesten fortgeschritten ist eine Gentherapie, die aus der Forschung am Institut de la Vision in Paris hervorgeht und in einem klinischen<br />

Studienprogramm bei mehr als 200 Patientinnen und Patienten mit Leberscher Hereditärer Optikusneuropathie (LHON) entwickelt wird. Der<br />

gentherapiebasierte Ansatz ist so konzipiert, dass beide Augen mittels einer einzigen intravitrealen Injektion behandelt werden. Ziel ist es, den<br />

Patientinnen und Patienten eine nachhaltige Wiederherstellung des Sehvermögens und eine weitgehende Verbesserung der Lebensqualität zu<br />

ermöglichen. Damit wird ein großer medizinischer Bedarf in dieser sehr seltenen Erkrankung angegangen. Von der European Medicine Agency<br />

wird derzeit der Antrag auf Marktzulassung überprüft. Diese wird für 2023 erwartet.<br />

GenSight Biologics untersucht mit seinem zweiten Therapiekandidaten eine Behandlung zur Wiederherstellung des Sehvermögens bei Patienten,<br />

die an Retinitis pigmentosa im Spätstadium leiden. Der optogenetische Ansatz ist unabhängig von den spezifischen genetischen Mutationen<br />

und hat potenzielle Anwendungen bei anderen <strong>Erkrankungen</strong> der Netzhaut, wie der trockenen altersbedingten Makuladegeneration.


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

5<br />

CTX schon im Kindesalter erkennen!<br />

Dr. med. Simone Stolz, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Carl-Thiem-Klinikum<br />

Cottbus gGmbH, spricht im Interview über die cerebrotendinöse Xanthomatose, kurz CTX: eine<br />

schwerwiegende Erkrankung, die sich meist schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht.<br />

Dr. med. Simone<br />

Stolz<br />

Chefärztin für<br />

Kinder- und<br />

Jugendmedizin<br />

Carl-Thiem-Klinikum<br />

Cottbus gGmbH<br />

Text Benjamin Pank<br />

Die cerebrotendinöse Xanthomatose,<br />

kurz CTX, ist eine schwerwiegende Erkrankung,<br />

die sich meist schon im frühen<br />

Kindesalter bemerkbar macht. Wie<br />

lange dauert es durchschnittlich bis zur<br />

Diagnose und auf welche Symptome<br />

sollte geachtet werden?<br />

Leider dauert es immer noch viel zu<br />

lange, bis die Diagnose gestellt wird.<br />

Untersuchungen haben ergeben, dass<br />

die Latenz zwischen Erstsymptom und<br />

Diagnosesicherung bei durchschnittlich<br />

20 Jahren liegt.<br />

Also findet eine Diagnose häufig erst im<br />

Erwachsenenalter statt. Woran liegt<br />

das?<br />

Das ist im Wesentlichen so, weil die<br />

Symptome, die im Kindesalter auftreten,<br />

relativ unspezifisch sind und bei<br />

vielen Krankheitsbildern in dem Alter<br />

auftreten. Das sind Dinge wie verlängerte<br />

Gelbsucht in der Neugeborenenzeit,<br />

chronischer Durchfall oder auch<br />

eine spätere Entwicklungsabweichung.<br />

Können Sie uns an einem konkreten<br />

Fall erklären, was die Schwierigkeit bei<br />

der Diagnose und Therapie ist?<br />

Bei einem unserer CTX-Patienten, der<br />

jetzt bereits 14 Jahre alt ist, bestanden<br />

seit dem 8. Lebensmonat schwere<br />

Durchfälle. Die Eltern haben mir berichtet,<br />

wie schlimm das alles war. Es<br />

sind Dutzende Untersuchungen erfolgt<br />

wie Ultraschall, Stuhluntersuchungen,<br />

Proben wurden aus dem Darm entnommen,<br />

viele Diäten wurden versucht,<br />

doch die Durchfälle blieben. Die Eltern<br />

haben eine große Odyssee hinter sich<br />

und sind von einem Arzt zum anderen<br />

gereist – ohne Erfolg. Im Alter von fünf<br />

Jahren kam bei dem Patienten eine Linsentrübung<br />

(Katarakt) hinzu, was die<br />

Ärzte auch nicht auf die richtige Spur<br />

führte. Dann kam die Familie zu uns<br />

und im Alter von neun Jahren konnten<br />

wir die Diagnose stellen.<br />

Wie wird die Diagnose dann genau gestellt?<br />

Die Kombination von Durchfall, Katarakt<br />

und Entwicklungsabweichung ist<br />

sehr typisch für die CTX-Erkrankung im<br />

Kindesalter. Hat ein kleiner Patient<br />

diese Symptome, sollte jeder Arzt hellhörig<br />

werden und an einen bestimmten<br />

Laborwert denken: Cholestanol im Blut.<br />

Im Rahmen der Kindergastroenterologie<br />

versuchen wir, das so weit wie<br />

möglich zu streuen, sodass die Diagnosesicherung<br />

nicht 20 Jahre dauern<br />

muss. Denn je früher eine Diagnose gestellt<br />

werden kann, desto positiver ist<br />

der Therapieverlauf im späteren Leben.<br />

Bitte gehen Sie genau darauf ein.<br />

Therapieeffekte können anhand von Familienuntersuchungen<br />

herausgefunden<br />

werden. CTX ist ja eine Erbkrankheit.<br />

Gehen wir mal von unserem 14-jährigen<br />

Jungen aus. Würde er ein Geschwisterkind<br />

bekommen, könnte man bereits im<br />

Säuglingsalter die Diagnose stellen.<br />

Hier gibt es auch eine Reihe von Untersuchungen,<br />

die belegen, dass durch<br />

sehr frühe medikamentöse Therapiemaßnahmen<br />

Symptome wie Katarakt,<br />

Durchfälle, Entwicklungsverzögerungen<br />

verhindert werden können.<br />

Bringt eine Therapie im Erwachsenenalter<br />

nichts mehr?<br />

Eine Symptomverbesserung erreicht<br />

man, egal in welchem Alter die Diagnose<br />

erfolgt. Doch erfolgt die Diagnose<br />

sehr früh, kann ein normales Leben gewährleistet<br />

werden, was bei einer späten<br />

Diagnose in dem Umfang nicht<br />

mehr möglich ist. Aus diesem Grund<br />

bin ich auch ein großer Verfechter<br />

davon, dass man CTX ins Neugeborenenscreening<br />

mit aufnimmt.<br />

SPONSORED INFOGRAPHIC LEADIANT GMBH<br />

Die Symptome der cerebrotendinösen Xanthomatose (CTX)<br />

INFORMATION<br />

Die CTX zeigt sich durch sehr<br />

unspezifische Symptome.<br />

Typische Symptome: chronischer<br />

Durchfall, grauer Star; zudem können<br />

Schwierigkeiten in der Schule<br />

aufgrund verminderter Intelligenz oder<br />

Aufmerksamkeitsstörungen auftreten.<br />

ACHTUNG!<br />

Oftmals wird eine CTX zunächst mit<br />

einer multiplen Sklerose oder einer peripheren<br />

Neuropathie verwechselt. Wenn<br />

die Therapie keine Wirkung zeigt und<br />

zusätzlich weitere der hier aufgeführten<br />

Symptome auftreten, sollten unbedingt<br />

ein Bluttest und eine genetische<br />

Untersuchung stattfinden. So kann<br />

die Mutation des krankheitsauslösenden<br />

Gens nachgewiesen und die<br />

Diagnose gestellt werden.<br />

Allgemeine Symptome<br />

Im Säuglingsund<br />

Kindesalter:<br />

• Verlängerte<br />

Neugeborenengelbsucht<br />

• Chronischer Durchfall<br />

• Gallensteine<br />

• Beidseitiger grauer Star<br />

• Aktivitäts- und<br />

Aufmerksamkeitsstörung<br />

• Entwicklungsverzögerung<br />

• Epilepsie<br />

Im Erwachsenenalter:<br />

• Frühzeitige Arterienverkalkung<br />

• Xanthome (geschwulstartige<br />

Verdickungen im Bereich der<br />

Hände, Ellenbogen, Achillessehnen,<br />

Knie oder des Halses)<br />

• Osteoporose<br />

• Kardiovaskuläre Probleme<br />

• Neurologische und<br />

psychiatrische Auffälligkeiten<br />

• Bewegungsstörungen<br />

Weitere Informationen unter elaev.de/cerebrotendinoese-xanthomatose<br />

und auf www.se-atlas.de (Suchbegriff "Xanthomatose, zerebrotendinöse")


6 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

„Ein Wendepunkt kommt<br />

immer als Schicksalsschlag“<br />

Die Beta-Thalassämie ist eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung, bei der<br />

im Körper Betroffener zu geringe Mengen des roten Blutfarbstoffes Hämoglobin<br />

produziert werden. Die Folge ist eine chronische Blutarmut, die dazu führt,<br />

dass der Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Bleibt<br />

die Erkrankung unbehandelt, kann das lebensbedrohliche Folgen haben. Wir<br />

sprachen mit Nicola De Nittis, der selbst mit Beta-Thalassämie major lebt und<br />

Vorstandsvorsitzender der Patientenvereinigung DEGETHA e.V. ist.<br />

Text Miriam Barbara Rauh<br />

Nicola<br />

De Nittis<br />

Beta-Thalassämiemajor-Patient<br />

Herr De Nittis, seit Ihrer Geburt leben Sie mit<br />

Beta-Thalassämie major, Sie kennen also kein<br />

Leben ohne die Erkrankung. Wie hat sich die<br />

Erkrankung konkret bei Ihnen ausgewirkt?<br />

Ich habe schon sehr früh Auswirkungen gespürt, in<br />

allen Bereichen. Schon in der Grundschule. Wegen<br />

der Beta-Thalassämie muss ich regelmäßig in eine<br />

Klinik. Die anderen Kinder haben das mitbekommen,<br />

dann hieß es „der ist ansteckend“, oder<br />

„Vorsicht, der hat Aids“. Betroffene werden schnell<br />

ausgegrenzt. Inklusion ist meist nur vorgeblich da,<br />

sie wird nicht gelebt. Das ist fast noch schlimmer<br />

als die Tatsache, dass man mit Nichtbetroffenen<br />

nicht über seine Ängste reden kann. Es gibt noch<br />

immer viele Tabus, und Einsamkeit ist ein großes<br />

Problem.<br />

Die Ausgrenzung ist ein Schock. Hinzu kommt<br />

der Schock, wenn man gesagt bekommt, dass man<br />

mit dem Gendefekt nicht alt wird. Ich bekam die<br />

Prognose, dass ich vielleicht 18, 19 oder 20 werde.<br />

Das muss man erst mal verarbeiten. Und man<br />

muss raus aus der Isolation. Auf andere zu treffen,<br />

auch in Netzwerken wie der DEGETHA, ist ein<br />

wichtiger Schritt.<br />

Sie sagen, Sie haben lange ein Doppelleben<br />

geführt: Können Sie uns dazu mehr erzählen?<br />

Das Doppelleben fing im Berufsleben an. Ich hatte<br />

einen Fokus, ich wollte ein normales Leben und<br />

einen Job. Sie müssen sich vorstellen, meine Eltern<br />

bekamen gesagt, dass ich nicht alt werden würde.<br />

Deswegen kam ich auf die Hauptschule und sollte<br />

dann Frührente beantragen. Das wollte ich aber<br />

nicht. Ich habe Karriere in der IT gemacht, bei<br />

großen amerikanischen Firmen. So wie man sich<br />

das wünscht, mit Reisen in die ganze Welt. Ich bin<br />

Big-Data-Experte, Headhunter haben mich gejagt.<br />

Aber wenn man in diesem Job von seinem Gendefekt<br />

erzählt, ist es aus. Es heißt schnell „Der ist<br />

nicht billable“, „Der kann nicht on-site sein“… Also<br />

habe ich lieber nichts von meiner Erkrankung gesagt.<br />

Diese Belastung hat zu einer tiefen Depression<br />

und drei Hörstürzen geführt. Dennoch war<br />

das Doppelleben eine Zeit lang richtig. Bis zum<br />

Knall.<br />

Eine schwerwiegende Erkrankung wie die<br />

Ihre wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus.<br />

Wie haben Sie Alltag und Erkrankung mit der<br />

regelmäßig notwendigen Therapie unter einen<br />

Hut gebracht?<br />

Das war ein unglaublicher Stress. Ich muss alle<br />

zwei Wochen zur Transfusion in eine Klinik,<br />

musste aber auch arbeiten und auf Dienstreise<br />

gehen. Einmal war ich mehrere Wochen beruflich<br />

in den USA. Eine Transfusion hätte ich dort privat<br />

bezahlen müssen, das ist sehr teuer. Also habe ich<br />

mir zwei Tage freigenommen, bin an einem Tag<br />

nach Deutschland geflogen – mit schlechten Blutwerten,<br />

weil ich bis zum letzten Moment gewartet<br />

hatte, entsprechend ging es mir – und am nächsten<br />

Tag bin ich zurück in die USA.<br />

Die regelmäßigen Krankenhaus- und Arzttermine<br />

sind insgesamt ein Problem, wenn man ein<br />

normales Leben führen möchte. Termine sind in<br />

der Regel wochentags von 9 bis 15 Uhr. Ich habe<br />

zusammen mit meiner Krankenkasse bundesweit<br />

nach Praxen gesucht, die zu Randzeiten behandeln<br />

– ohne Erfolg. Schließlich klappte es doch,<br />

über Kontakte. Eine Ärztin hat mich samstags<br />

behandelt. Bevor ich sie gefunden hatte, musste<br />

ich immer Urlaubstage nehmen.<br />

Was war Ihr persönlicher Wendepunkt, der Sie<br />

dazu bewogen hat, offen mit Ihrer Erkrankung<br />

umzugehen?<br />

Ein Wendepunkt kommt nie in positiver Form,<br />

sondern als Schicksalsschlag. Sonst ändert man<br />

nichts. Meiner war der Hörsturz. Davor hatte ich<br />

zwei Jahre eine schwere Depression gehabt, bin<br />

aber danach wieder in das Doppelleben zurück.<br />

Dann kam der Hörsturz und das hat mich aufgerüttelt.<br />

Die Ärzte machten mir klar, so geht es<br />

nicht weiter. Danach hatte ich mein „Outing“, habe<br />

ein Buch geschrieben. Das war befreiend.<br />

Damit es einem gut geht, braucht es Mut. Mut<br />

heißt auf Italienisch „coraggio“, das kommt aus<br />

dem Lateinischen, von „cor habeo“, ein Herz<br />

haben. Mut hat mit dem Herzen zu tun – in<br />

Kombination mit dem Verstand unbesiegbar.<br />

Den Mut haben, sein Leben zu leben – das ist das<br />

Wichtigste.<br />

DEGETHA<br />

FRIENDS<br />

&<br />

DEGETHA &<br />

FRIENDS ist<br />

eine Patientenorganisation<br />

für<br />

Thalassämie und<br />

alle seltenen<br />

<strong>Erkrankungen</strong>. Dabei liegt ein<br />

besonderes Ziel darin, die psychische<br />

Gesundheit Betroffener<br />

zu stärken. Patientenkompetenz<br />

steigern – Informationen bereitstellen<br />

– Netzwerk fördern:<br />

Der Verein unterstützt dabei<br />

Betroffene, Familienmitglieder,<br />

Mediziner, Kliniken, Vereine,<br />

Organisationen und Forschungseinrichtungen.<br />

www.degetha.org<br />

Stella Pelteki<br />

Thalassämikerin,<br />

Brave Coach und<br />

Dozentin<br />

Dr. Mohamed El<br />

Missiry<br />

40-jähriger Thalassämie-Patient<br />

Im Verein bin ich tätig<br />

in der Patientenvertretung<br />

und Mitglied des<br />

Vorstands. Ich setze<br />

mich nicht nur für die<br />

Interessen der Patienten<br />

ein, sondern unterstütze<br />

sie und ihre Angehörigen<br />

dabei, mental<br />

gesund zu bleiben und<br />

ihre persönlichen Ressourcen<br />

zu mobilisieren.<br />

Die Vereinsarbeit ist eine<br />

Herzensangelegenheit<br />

für mich. Sie erfüllt mich<br />

und schenkt mir Hoffnung<br />

für eine bessere<br />

Zukunft. Meine Mission<br />

ist es, die Lebensqualität<br />

der Menschen mit<br />

seltenen <strong>Erkrankungen</strong><br />

zu fördern.<br />

Meine Aufgaben beim<br />

DEGETHA e. V. als medizinische<br />

Fachperson<br />

sind die medizinische<br />

Vertretung, Patientenberatung,<br />

medizinische<br />

Fragen zu beantworten<br />

und die medizinischen<br />

Inhalte unserer Website<br />

zu überprüfen. Zudem<br />

arbeiten wir daran, das<br />

erste spezialisierte<br />

Zentrum für <strong>Seltene</strong><br />

<strong>Erkrankungen</strong> (RADICE<br />

| RAreDIseaseCEnter)<br />

Deutschlands zu<br />

gründen.<br />

ANZEIGE<br />

– Der Patient im Fokus<br />

FOTO: SHUTTERSTOCK<br />

Wer wirksame Behandlungsoptionen für Menschen mit seltenen<br />

<strong>Erkrankungen</strong> entwickeln will, muss die Bedürfnisse der<br />

Betroffenen kennen und stets mit ihnen im Dialog bleiben.<br />

Daher ist der Fokus auf den Patienten ein essenzieller Teil der<br />

Unternehmensphilosophie des forschenden Pharma-Unternehmens<br />

Chiesi, das sich unter anderem auf die Erforschung<br />

seltener <strong>Erkrankungen</strong> spezialisiert hat. Um das zu bewerkstelligen,<br />

hält Chiesi engen Kontakt zu den behandelnden Ärzten<br />

und Fachzentren sowie zu Patientenorganisationen.<br />

Dr. med. Raimund Hövelmann, Direktor der Business Unit Rare<br />

Diseases bei Chiesi, bringt es folgendermaßen auf den Punkt:<br />

„Patientenzentrierung bedeutet bei uns nicht zu schauen,<br />

was wir haben und wie wir es verkaufen können, sondern im<br />

Gegenteil zuerst zu schauen, was den Patienten fehlt und was<br />

sie benötigen. Danach richten wir unser Handeln aus.“<br />

Allein auf dieser Basis können in Zusammenarbeit mit Betroffenen,<br />

den behandelnden Ärzten und spezialisierten Zentren<br />

die Aufmerksamkeit für seltene Krankheitsbilder erhöht und<br />

Forschungsaktivitäten vorangetrieben werden, um das Leben<br />

von Menschen mit seltenen <strong>Erkrankungen</strong> nachhaltig zu verbessern.<br />

Derzeit liegt der Schwerpunkt auf lysosomalen Speicherkrankheiten,<br />

seltenen Augenerkrankungen und seltenen hämatologischen<br />

<strong>Erkrankungen</strong> (z.B. Thalassämien). Das erklärte Ziel ist<br />

es dabei immer, die ungedeckten Bedürfnisse von Menschen<br />

mit seltenen <strong>Erkrankungen</strong> besser zu verstehen und zu erfüllen<br />

– im engen Austausch mit den Betroffenen selbst.<br />

Weitere Informationen unter: www.chiesi.de


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

7<br />

Farbe bekennen zum<br />

Rare Disease Day 2022<br />

Text Bianca Paslak-Leptien<br />

ACHSE e. V. ruft auf:<br />

Farbe bekennen und so<br />

ein Zeichen für Menschen<br />

mit <strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong><br />

setzen – denn „Selten<br />

sind Viele"; vielfältige<br />

Aktionen rund um den<br />

internationalen Aktionstag<br />

Ende Februar laden<br />

zum Mitmachen ein.<br />

Am 28. Februar 2022 ist der 15. Rare Disease<br />

Day, der internationale Tag der <strong>Seltene</strong>n<br />

<strong>Erkrankungen</strong>. Sie sind selbst betroffen oder<br />

möchten den Aktionstag unterstützen? Die<br />

Allianz Chronischer <strong>Seltene</strong>r <strong>Erkrankungen</strong><br />

(ACHSE) e.V., Dachverband und Stimme der<br />

4 Millionen betroffenen Menschen und deren<br />

Angehörigen in Deutschland, ruft wie jedes<br />

Jahr dazu auf: Machen Sie mit! Denn „Selten<br />

sind Viele", und das wollen wir zeigen. Das<br />

Motto 2022 lautet: Bekennen Sie Farbe. Ob<br />

beleuchtete Gebäude in Pink, Blau, Grün, Lila,<br />

die Ausstellung „Selten allein" in Bahnhöfen<br />

bundesweit und online, Fachveranstaltungen<br />

oder Social-Media-Kampagnen – die Beteiligungsmöglichkeiten<br />

sind vielfältig. Unterstützt<br />

wird der Aktionstag jedes Jahr von Eva<br />

Luise Köhler, Schirmherrin der ACHSE, und<br />

weiteren Persönlichkeiten aus Politik, Medizin<br />

und Gesellschaft.<br />

Beleuchtungsaktion<br />

„Global Chain of Lights"<br />

Über zwanzig Standorte in Deutschland haben<br />

sich bisher angemeldet. Darunter die Bay-<br />

Arena in Leverkusen, die Bahnhöfe in Stuttgart,<br />

Mannheim, Dresden, die Neckarfront<br />

Tübingen, das Marburger Schloss, das Rathaus<br />

Dessau, die Marienkirche Neubrandenburg<br />

uvm. Eine Liste der Gebäude bundesweit sowie<br />

Fotos vom vergangenen Jahr finden Sie auf der<br />

Website der ACHSE e. V.<br />

Sie alle sind Teil der weltweiten Lichterkette,<br />

bei der Sehenswürdigkeiten, Monumente, sonstige<br />

Bauten in Blau, Grün, Pink und/oder lila,<br />

den Farben des offiziellen Rare-Disease-<br />

Day-Logos, von innen oder außen strahlen und<br />

so ein sichtbares Zeichen in Zeiten von Corona<br />

setzen werden. Viele Bauten werden schon<br />

vor dem 28.02. leuchten und einige sogar bis<br />

zu einem Monat angestrahlt bleiben. Außerdem<br />

werden am 28.02.2022 auf der Weltkarte,<br />

in der alle angemeldeten Orte markiert sind,<br />

die Lämpchen der interaktiven Lichterkette<br />

nach und nach angeknipst:<br />

www.rarediseaseday.org<br />

Hintergrund Rare Disease Day<br />

Weltweit leben rund 300 Millionen Menschen<br />

mit chronischen seltenen <strong>Erkrankungen</strong>.<br />

Jedes Jahr am und um den letzten<br />

Tag im Februar machen sie gemeinsam auf<br />

ihre Anliegen aufmerksam. Sie wünschen<br />

sich mehr Forschung, mehr Therapien und<br />

Behandlungsmöglichkeiten sowie die Chance<br />

auf ein besseres, längeres Leben. Zudem geht<br />

es ihnen um gesellschaftliche Anerkennung<br />

und Teilhabe. Denn viele der etwa 8.000 als<br />

„selten" eingestuften <strong>Erkrankungen</strong> gehen<br />

mit zum Teil schwerwiegenden körperlichen<br />

und geistigen Einschränkungen einher. Als<br />

deutsche Allianz im internationalen Verbund<br />

koordiniert die ACHSE den Tag der <strong>Seltene</strong>n<br />

<strong>Erkrankungen</strong> seit 2008 in Deutschland.<br />

Weitere<br />

Informationen:<br />

www.achseonline.de<br />

ANZEIGE<br />

Wissen verbinden,<br />

Perspektiven schaffen<br />

PATIENT – Selbstbestimmung versus<br />

Fremdbestimmung bei der Versorgung<br />

von Patienten mit seltenen Krankheiten<br />

• Was wünschen sich Patientinnen und Patienten mit einer<br />

seltenen Krankheit?<br />

• Was brauchen sie, und wie stellen wir sicher, dass die<br />

Lösungen, die wir entwickeln, auch tatsächlich einen Nutzen<br />

für sie stiften?<br />

Seien Sie live dabei, wenn wir am 30. März 2022 die Perspektiven<br />

der Experten verbinden und das Thema „PATIENT –<br />

Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung“ diskutieren.<br />

RECHT<br />

Prof. Dr. Dr. Christian Dierks<br />

Rechtsanwalt, Managing Partner<br />

Dierks+Company, Berlin<br />

COMMUNITY +<br />

DIGITALISIERUNG<br />

Dr. Tobias Gantner<br />

Gründer und Managing Partner<br />

HealthCare Futurists<br />

MEDIZINISCHE<br />

WISSENSCHAFT<br />

Prof. Dr. Andreas Meisel<br />

Facharzt für Neurologie,<br />

Charité – Universitätsmedizin Berlin<br />

Leiter Myasthenie-Ambulanz<br />

PATIENTEN-<br />

VERTRETUNG<br />

Claas Röhl<br />

PATIENTEN-<br />

ORGANISATION<br />

Mirjam Mann<br />

Geschäftsführerin ACHSE e.V. –<br />

Allianz Chronischer <strong>Seltene</strong>r <strong>Erkrankungen</strong>,<br />

Berlin<br />

EINLADUNG<br />

ZUM VIRTUELLEN<br />

ROUND TABLE<br />

JAHRE<br />

30.<br />

März<br />

16:30 - 18:00 Uhr<br />

JETZT ANMELDEN<br />

AN DER SEITE<br />

DER PATIENTEN<br />

change4rare.com/event<br />

Eine Initiative der Alexion Pharma Germany GmbH<br />

PATIENTEN-<br />

PARTIZIPATION<br />

PD Dr. Jens Ulrich Rüffer<br />

Member of the IMI<br />

Scientific Committee,<br />

President NF Kinder<br />

Geschäftsführer SHARE TO CARE,<br />

TAKEPART Media + Science,<br />

1. Vorsitzender der Deutschen<br />

Fatigue Gesellschaft e.V.<br />

POLITIK<br />

Martina Stamm-Fibich<br />

Mitglied des Bundestages,<br />

Patientenbeauftragte der SPD,<br />

Mitglied des Ausschusses für Gesundheit<br />

des Deutschen Bundestages


8 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Nicht so schnell zu fassen –<br />

Die Multisystemerkrankung ATTR-Amyloidose<br />

Text Doreen Brumme<br />

Dr. Sarah Bernsen<br />

Fachärztin für<br />

Neurologie und<br />

Intensivmedizin am<br />

Universitätsklinikum<br />

Bonn<br />

Manuel F. da Silva<br />

Amyloidose-Patient<br />

und Mitbegründer<br />

des Patientenverbandes<br />

FAP e.V.<br />

Die ATTR-Amyloidose hat<br />

viele Gesichter. Bei der<br />

seltenen Erbkrankheit<br />

lagern sich Eiweiße als<br />

Amyloid überall im Körper<br />

ab. Je nach genetischer<br />

Ausprägung werden dabei<br />

unterschiedliche Organe nachhaltig geschädigt:<br />

oft das Herz, das periphere Nervensystem,<br />

also die Nerven außerhalb von Gehirn<br />

und Rückenmark, und der Verdauungstrakt,<br />

seltener die Augen. Unbehandelt ist die<br />

ATTR-Amyloidose lebensbedrohlich. Im<br />

Interview berichten Dr. Sarah Bernsen vom<br />

Universitätsklinikum Bonn und ihr Patient<br />

Manuel F. da Silva, Mitgründer des Amyloidose-Patientenverbandes,<br />

von schwierigen<br />

Diagnosen und hoffnungsstiftenden Behandlungen.<br />

Herr da Silva, wie machte sich Ihre<br />

ATTR-Amyloidose bemerkbar und wie<br />

kam es zur Diagnose?<br />

Ich war Anfang 30, als im Jahr 2004 erste<br />

Taubheitsgefühle aufkamen. Zum Glück bin<br />

ich an einen Arzt geraten, der die Erkrankung<br />

kannte, da er ein Praktikum in Portugal<br />

absolviert hatte. Ich habe portugiesische<br />

Wurzeln, was insofern von Bedeutung ist, als<br />

die ATTR-Amyloidose dort endemisch ist.<br />

Das heißt, es gibt in Nordportugal deutlich<br />

mehr Betroffene als hierzulande, wo die<br />

Krankheit mit nur 300 bis 400 Fällen (bei<br />

sicher hoher Dunkelziffer) sehr selten ist.<br />

Dank meiner Aktivität im Patientenverband<br />

weiß ich, dass die meisten Patient*innen drei<br />

bis vier Jahre unterwegs sind, bis sie ihre<br />

Diagnose bekommen. Was tragisch ist, da die<br />

Organschäden irreparabel sind und einige<br />

versterben, noch bevor sie eine Diagnose<br />

bekommen.<br />

Dr. Bernsen, was passiert genau im Körper<br />

der Betroffenen und wie verläuft die<br />

Erkrankung?<br />

Die ATTR-Amyloidose entsteht infolge<br />

vererbter Genveränderungen (Mutationen)<br />

im TTR-Gen. Mehr als 130 Mutationen sind<br />

bis heute bekannt. Bei allen kommt es zu<br />

einer Destabilisierung des Transporteiweißes<br />

Transthyretin, das zu 90 Prozent in der<br />

Leber und zu zehn Prozent im Nervensystem<br />

produziert wird. Es zerfällt und lagert sich an<br />

verschiedenen Organen im Körper als Amyloid<br />

ab. Deshalb wird die ATTR-Amyloidose<br />

auch als Multisystemerkrankung bezeichnet.<br />

Je nachdem welche Mutation vorliegt,<br />

schädigen die Ablagerungen einzelne Organe<br />

besonders stark. Am häufigsten sind das<br />

periphere Nervensystem und das Herz betroffen.<br />

Unbehandelt liegt die mittlere Überlebenszeit<br />

der Betroffenen, die zum Zeitpunkt, an dem<br />

die ersten Symptome auftreten, typischerweise<br />

30 Jahre und älter sind, zwischen zwei<br />

bis zehn Jahren. Wobei schon nach der Hälfte<br />

der Zeit mit einem Verlust der Gehfähigkeit<br />

und im weiteren Verlauf mit einer Rundum-<br />

Pflegebedürftigkeit zu rechnen ist.<br />

Herr da Silva, wie wurden Sie therapiert?<br />

Zu der Zeit, in die meine Diagnose fiel, war<br />

eine Lebertransplantation noch die Therapie<br />

der ersten Wahl. Man entfernte die Leber,<br />

die einen Defekt hatte. Ich entschied mich<br />

aus Angst vor einem Leben im Rollstuhl und<br />

einem frühen Tod dafür und ließ mir 2005 in<br />

Münster eine gesunde Leber transplantieren.<br />

Meine kranke habe ich einem Krebspatienten<br />

gespendet, der damit noch sieben Lebensjahre<br />

geschenkt bekam. Das nennt man<br />

Domino-Transplantation, eine in Portugal<br />

übliche Vorgehensweise, in Münster war ich<br />

damit der erste Fall.<br />

Dr. Bernsen, was macht die Diagnose so<br />

schwierig?<br />

Der unspezifische Symptombeginn und<br />

die Seltenheit der Erkrankung erschweren<br />

die Diagnose. Denn Herzprobleme, von<br />

Rhythmusstörungen bis hin zur Insuffizienz,<br />

Nervenprobleme wie Missempfinden,<br />

Taubheitsgefühle und Lähmungen, Erektionsstörungen,<br />

Magen-Darm-Probleme wie<br />

Durchfall, Appetitlosigkeit und infolgedessen<br />

Gewichtsverlust könnten für sich genommen<br />

auch Zeichen einer anderen Erkrankung<br />

sein. Erst die Kombination mehrerer dieser<br />

Symptome bringt uns Ärzte auf die Spur<br />

der ATTR-Amyloidose. Vorausgesetzt, wir<br />

schauen über den Tellerrand hinaus und<br />

sehen als Kardiologe nicht nur aufs Herz,<br />

als Neurologe nicht nur auf die Nerven, als<br />

Internist oder Gastroenterologe nicht nur<br />

auf den Magen-Darm-Trakt. Die Diagnose<br />

der ATTR-Amyloidose ist fachübergreifend –<br />

ebenso wie ihre Therapie.<br />

Herr da Silva, wie ging Ihr Leben nach der<br />

Lebertransplantation weiter?<br />

Mir ging es lange gut. Nach etwa sieben<br />

Jahren jedoch zeigten sich wieder Symptome<br />

der Erkrankung. Zum Beispiel litt ich an<br />

einem unkontrollierbaren Durchfall, bekam<br />

Probleme mit dem Wasserlassen. Heute<br />

wache ich jeden Morgen mit Taubheitsgefühlen<br />

im Gesicht auf.<br />

Dr. Bernsen, ist das typisch, dass die<br />

Krankheit trotz neuer Leber wiederkommt?<br />

Ja, das kommt bei einem Teil der organtransplantierten<br />

Patienten vor. Es spielen<br />

offensichtlich weitere Faktoren eine Rolle.<br />

Und auch die oben erwähnten Prozentanteile<br />

Transthyretin, die nicht in der<br />

Leber produziert werden, können zu einem<br />

Fortschreiten der Erkrankung im zentralen<br />

Nervensystem führen.<br />

Herr da Silva, welche Therapie<br />

bekommen Sie jetzt?<br />

Ich erhalte derzeit Infusionen, die den<br />

Krankheitsverlauf bremsen sollen.<br />

Dr. Bernsen, wie bewerten Sie die<br />

verfügbaren Therapien?<br />

Die Lebertransplantation ist nicht mehr<br />

Therapie der ersten Wahl. Seit 2011 gibt<br />

es ein Medikament, das – oral verabreicht<br />

– das Transthyretin stabilisiert. In den<br />

letzten Jahren kamen – und das ist durchaus<br />

ungewöhnlich für eine derart seltene<br />

Erkrankung – zwei weitere Medikamente<br />

hinzu, die teils als Infusion verabreicht,<br />

die Produktion des Eiweißes in der Leber<br />

mindern. Gentherapien, die nicht nur die<br />

Erkrankung verlangsamen, sondern die<br />

Krankheitsursache angehen, sind noch Zukunftsmusik.<br />

Ich wünsche mir aufgeweckte Kolleg*innen,<br />

die über ihren Fachbereich hinausschauen<br />

und interdisziplinär denken. Hat jemand eine<br />

unklare Kardiomyopathie und leidet zugleich an<br />

einem Karpaltunnelsyndrom, dann sollten die<br />

Alarmglocken klingeln. Ich erhoffe mir, dass die<br />

ATTR-Amyloidose bekannter wird, da eine frühe<br />

Diagnosestellung wichtig für eine erfolgreiche<br />

Therapie ist.<br />

Dr. Sarah Bernsen<br />

Was wünschen Sie sich für die Versorgung<br />

Betroffener?<br />

Ganz klar: schnellere Diagnosen. Das<br />

braucht auf beiden Seiten, der der<br />

Betroffenen und der der Medizin, mehr<br />

Achtsamkeit für die typischen Symptomkombis.<br />

Außerdem wünsche ich mir, dass<br />

die Therapien überall verfügbar sind. In<br />

Portugal beispielsweise ist meine Art der<br />

Infusiontherapie aus finanziellen Gründen<br />

nicht erhältlich. Es kann nicht sein, dass<br />

eine Therapiemöglichkeit abhängig von dem<br />

Land ist, in dem man lebt. Hier gibt es noch<br />

Handlungsbedarf.<br />

Über den Patientenverband für ATTR-Amyloidose<br />

Der Patientenverband für ATTR-Amyloidose, den Manuel F. da Silva mitgegründet hat, ist unter dieser<br />

Internetadresse zu erreichen: http://patientenverband-fap.de. Dort finden insbesondere Betroffene<br />

und Angehörige Informationen, Anlaufstellen zu Beratung, Behandlung und ganz wichtig: eine Plattform<br />

zum Austausch.


Gen-Stilllegung mit RNA<br />

ANZEIGE<br />

Die Ursache der meisten „<strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong>“ liegt im Erbgut. Mit konventionellen Behandlungsmethoden<br />

lassen sich häufig nur die Symptome lindern. Einen innovativen Ansatz<br />

bietet eine neue Klasse von Arzneimitteln auf RNA-Basis. Das Prinzip der RNA-Interferenz<br />

ermöglicht es, die Aktivität einzelner Gene gezielt zu regulieren. Genetisch bedingte <strong>Erkrankungen</strong><br />

können so ursächlich therapiert werden – ohne dabei das Erbgut zu verändern.<br />

IMAGE: ALNYLAM PHARMACEUTICALS<br />

Ein kurzer RNA-Strang (orange) führt einen speziellen Protein-Komplex (weiß) präzise zu jener mRNA (grün), die abgebaut werden soll. Sobald der Protein-<br />

Komplex an die mRNA bindet, zerschneidet er diese. Das Protein, für das die mRNA den Bauplan trägt, wird dadurch nicht mehr bzw. in geringerem Maße<br />

hergestellt.<br />

Im vergangenen Jahr hat eine neue Klasse von Impfstoffen auf<br />

Basis von Boten-Ribonukleinsäuren (messenger-RNA, mRNA)<br />

ihren Durchbruch erlebt und die weltweite Aufmerksamkeit auf das<br />

noch junge Gebiet der RNA-Medizin gelenkt. Durch das Einbringen<br />

von mRNA erhalten die Zellen den Bauplan für ein bestimmtes<br />

Virus-Protein, das sie dann selbstständig herstellen. Gegen diese<br />

Proteine erzeugt das Immunsystem anschließend eine Immunantwort.<br />

mRNA gibt es in nahezu allen Zellen in Hülle und Fülle. Ihre<br />

biologische Funktion ist es, die in den Genen gespeicherten Protein-„Baupläne“<br />

an die Protein-„Fabriken“, die Ribosomen, zu übermitteln.<br />

Diese Transportfunktion macht die mRNA zu einem Ziel für<br />

neue therapeutische Ansätze – weit über Impfstoffe hinaus.<br />

Die Ursachen für die meisten der sogenannten „<strong>Seltene</strong>n <strong>Erkrankungen</strong>“<br />

gehen zurück auf Mutationen im Erbgut. Dadurch können<br />

etwa die Baupläne für wichtige Proteine fehlerhaft sein. Diese „defekten“<br />

Proteine können zu schweren Komplikationen im Stoffwechsel<br />

führen, zum Beispiel wenn sie toxisch wirken, wie bei der akuten<br />

hepatischen Porphyrie, wo es zu Krampfanfällen bis hin zu Atemlähmungen<br />

kommen kann. Andere Genmutationen verändern die<br />

Struktur von Proteinen, wodurch die Proteine „verklumpen“ und<br />

Ablagerungen (Amyloid) bilden, die wiederum die Funktionsfähigkeit<br />

der Organe beeinträchtigen können, zum Beispiel bei der AT-<br />

TRv-Amyloidose.<br />

RNAi-Medizin: Eine neue Klasse von Arzneimitteln<br />

Vor gut 20 Jahren entdeckten Forschende einen natürlichen biologischen<br />

Mechanismus, mit dem Zellen die Aktivität einzelner Gene<br />

steuern können. Dieser Mechanismus wird als RNA-Interferenz<br />

(RNAi) bezeichnet und existiert seit Jahrmillionen in nahezu allen<br />

Zellen von Pflanzen, Tieren und Menschen. Für ihre Entdeckung<br />

erhielten die US-Wissenschaftler Andrew Z. Fire und Craig C. Mello<br />

im Jahr 2006 den Medizin-Nobelpreis. Mit ihrer Forschung legten<br />

sie den Grundstein für eine völlig neue Klasse von Arzneimitteln,<br />

den RNAi-Therapeutika.<br />

Die Grundidee ist simpel. Die Aktivität eines für eine Erkrankung<br />

ursächlichen Gens lässt sich herunterregulieren, das Gen gewissermaßen<br />

„stilllegen“. Im Ergebnis wird das entsprechende Protein<br />

nicht mehr oder in einer deutlich geringeren Menge hergestellt.<br />

Dies funktioniert, indem der Informationsträger des Protein-Bauplans<br />

– die mRNA – auf dem Weg vom Zellkern zu den Ribosomen<br />

„abgefangen“ und abgebaut wird, bevor das entsprechende Protein<br />

gebildet wird. Mittels des zelleigenen Mechanismus der RNA-<br />

Interferenz lässt sich präzise genau jene mRNA erkennen und<br />

deaktivieren, die den fehlerhaften Bauplan überträgt. Um diesen<br />

Prozess zu aktivieren, wird eine kurze RNA-Sequenz in die Zellen<br />

eingebracht. Diese sogenannte siRNA (small interfering RNA) ist<br />

spiegelbildlich zur Ziel-mRNA und lenkt einen speziellen Proteinkomplex<br />

präzise zu jener mRNA, die abgebaut werden soll. Sobald<br />

die Ziel-mRNA gefunden ist, wird sie zerschnitten und abgebaut<br />

bevor sie das Ribosom erreicht und ein Protein hergestellt wird. Im<br />

Ergebnis wird die Produktion der krankheitsverursachenden Proteine<br />

erheblich reduziert. Ein Vorteil der RNA-Interferenz: Im Gegensatz<br />

zu einer Gentherapie wird nicht in das Erbgut eingegriffen.<br />

Setzt man die Behandlung aus, erreicht die mRNA wieder die Ribosomen<br />

und das betreffende Protein wird wieder hergestellt.<br />

Das Potenzial der RNAi zum Wohle von Patienten nutzbar machen<br />

– mit dieser Vision wurde 2002 das biopharmazeutische Unternehmen<br />

Alnylam Pharmaceuticals gegründet. Seither hat Alnylam<br />

mehr als sechs Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von RNAi-<br />

Therapeutika investiert. Seit 2018 wurden bereits drei RNAi-Therapeutika<br />

zur Behandlung seltener, genetisch bedingter <strong>Erkrankungen</strong><br />

in Europa zugelassen. Zahlreiche weitere sind in der Entwicklung<br />

und Erprobung. Perspektivisch lassen sich mit RNAi-Therapeutika<br />

nicht nur genetische <strong>Erkrankungen</strong> behandeln, sondern potenziell<br />

auch Herz- und Stoffwechselkrankheiten, Infektionskrankheiten<br />

und <strong>Erkrankungen</strong> des zentralen Nervensystems, zum Beispiel<br />

auch die Alzheimer-Demenz. Erste klinische Studien hierzu sollen<br />

noch in diesem Jahr starten. Dies ist ein gutes Beispiel, wie von der<br />

Forschung an Therapien für seltene <strong>Erkrankungen</strong> mittelfristig auch<br />

viele weitere Patienten profitieren können.<br />

Erfahren Sie mehr über<br />

RNAi-Therapeutika und die<br />

Forschung von Alnylam<br />

unter alnylam.de.<br />

FREIGABENUMMER: RNAI-DEU-00001


10 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Rheumatische <strong>Erkrankungen</strong><br />

– dabei denken viele<br />

zunächst an entzündete<br />

und geschwollene Gelenke,<br />

an eine Volkskrankheit, die<br />

eine Vielzahl an Menschen<br />

betrifft. Dabei gibt es auch<br />

eine beträchtliche Anzahl<br />

an seltenen rheumatischen<br />

<strong>Erkrankungen</strong>, zu denen<br />

auch die sogenannten Vaskulitiden<br />

gehören, die durch eine<br />

Entzündung der Blutgefäße<br />

charakterisiert sind. Zu diesen<br />

gehört auch die eosinophile<br />

Granulomatose mit Polyangiitis<br />

(kurz EGPA), an der<br />

Dimitra bereits seit ihrer Kindheit<br />

leidet. Dass sie vor acht<br />

Jahren fast gestorben wäre,<br />

sieht heute niemand mehr. Im<br />

Interview spricht sie über ihre<br />

Erkrankung und den Kampf<br />

zurück ins Leben.<br />

Text Franziska Manske<br />

„Ich war dem Tod<br />

näher als dem<br />

Leben“


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

11<br />

Dimitra, du bist 21 Jahre alt und lebst<br />

nun seit elf Jahren mit der seltenen<br />

Erkrankung EGPA. Wie hat sich die Erkrankung<br />

bei dir bemerkbar gemacht?<br />

Als ich neun Jahre alt war, habe ich aus<br />

dem Nichts heraus plötzlich schweres<br />

Asthma bekommen und niemand konnte<br />

sich erklären, woher das kam. Anfangs<br />

wurde eine Allergie vermutet, aber auch<br />

mit verschiedenen Therapien wurde es<br />

nicht besser.<br />

Wie ging es dann weiter?<br />

Nach dem Asthma bekam ich 2011 meine<br />

erste Perikarditis, also eine Entzündung<br />

des Herzbeutels. Da ging dann gar nichts<br />

mehr. Ich konnte weder laufen noch<br />

richtig atmen und hatte am ganzen Körper<br />

starke Schmerzen. Das wurde mit Kortison<br />

behandelt. Dadurch wurde das besser,<br />

dann kam jedoch 2012 eine Darmentzündung<br />

hinzu und Anfang 2013 eine Lungenentzündung<br />

und erneut eine Perikarditis<br />

– da war ich dann gesundheitlich komplett<br />

am Ende.<br />

EGPA wirkt sich auf verschiedene<br />

Organe aus. Wie sah bzw. sieht das bei<br />

dir genau aus, welche Organsysteme<br />

waren/sind bei dir speziell betroffen?<br />

Betroffen waren Lunge, Herz, Darm und<br />

die Nerven.<br />

Du warst jahrelang kerngesund.<br />

Plötzlich kommt ein gesundheitlicher<br />

Tiefschlag nach dem anderen. Wie bist<br />

du damit umgegangen?<br />

Mir ging es krankheitsbedingt so schlecht,<br />

dass ich nicht mehr viel davon weiß. Ich<br />

habe diese Zeit wie im Delirium erlebt.<br />

Meine Mutter musste damals sogar das<br />

Als ich 2013 ins künstliche Koma versetzt wurde, hatten<br />

mich die Ärzte abgeschrieben.<br />

Sprechen für mich übernehmen und mich<br />

füttern. Selbstständig konnte ich fast gar<br />

nichts mehr. Was ich weiß, ist, dass ich<br />

immer ängstlicher und unsicherer wurde.<br />

... und verzweifelt?<br />

Absolut. Besonders, wenn man die<br />

Verzweiflung von den Eltern erlebt. Meine<br />

Familie war teilweise am Ende. Als ich<br />

dann im Koma lag, war es komplett vorbei.<br />

Sie hatten einfach nur Angst, mich zu<br />

verlieren.<br />

Hattest du Angst zu sterben?<br />

Ja, solche Momente gab es. Doch ich habe<br />

sie dann immer wieder verdrängt, denn<br />

zu sterben war keine Option – ich wollte<br />

leben. Teilweise war ich dem Tod näher als<br />

dem Leben.<br />

Erzähle uns bitte mehr davon.<br />

Als ich 2013 ins künstliche Koma versetzt<br />

wurde, hatten mich die Ärzte abgeschrieben.<br />

Sie sagten, dass sie nichts mehr<br />

machen könnten. Zehn Tage verbrachte<br />

ich in diesem Zustand, davon acht an der<br />

Herz-Lungen-Maschine, bevor ich zurückkam.<br />

Wie hast du dich zurück ins Leben<br />

gekämpft?<br />

Als ich aus dem Koma erwacht bin, war ich<br />

blind, weil meine Sehnerven geschädigt<br />

waren. Obwohl ich nichts sah, war ich total<br />

positiv gestimmt. Es gab in dem Moment<br />

nichts Negatives für mich. Ich habe die<br />

ganze Zeit nur gegrinst. Ich habe gespürt,<br />

wie überglücklich meine Familie in diesem<br />

Moment war, sodass dies einfach auf mich<br />

übergangen ist. Kurz darauf kam dann<br />

auch die Diagnose und aus dem jahrelangen<br />

Leid wurde endlich wieder Leben.<br />

Wie wurdest du nach der Diagnose<br />

behandelt?<br />

Leider habe ich einiges nicht vertragen<br />

und auf vieles habe ich allergisch reagiert.<br />

Bis 2016 war es ein ständiges Auf und Ab.<br />

Nun bekommst du seit geraumer Zeit<br />

eine individuelle Therapie. Wie geht es<br />

dir heute und wie sieht dein Alltag aus?<br />

Ich bekomme ein Biologikum, das mein<br />

Freund mir einmal im Monat spritzt. Das<br />

hat mir mein Leben zurückgegeben. Ich<br />

bin komplett beschwerdefrei und kann ein<br />

völlig normales Leben führen – dafür bin<br />

ich jeden Tag dankbar. Wenn man dem<br />

Tod so nahe war wie ich, weiß man erst,<br />

wie wertvoll Gesundheit und das Leben<br />

sind.<br />

Deine Erkrankung ist selten und daher<br />

auch für erfahrene Mediziner nicht<br />

leicht zu erkennen und demnach zu<br />

behandeln. Gibt es etwas, was du dir<br />

an Verbesserungen für Betroffene<br />

wünschen würdest?<br />

Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass<br />

die Ärzte mehr auf meine Mutter gehört<br />

hätten. Sie hat beispielsweise schon<br />

relativ früh erkannt, dass ich auf Antibiotika<br />

allergisch reagiere und dadurch die<br />

Eosinophilen hochgehen, was meinen<br />

Gesundheitszustand stark verschlechtert<br />

hat. Erst als meine Neurologin gesehen<br />

hat, dass ich nach Gabe eines Präparates<br />

lila angelaufen bin, hat sie meiner Mutter<br />

geglaubt. Grundsätzlich darf man Ärzten<br />

aber nie einen Vorwurf machen. Alle wollen<br />

helfen, manchmal sind die <strong>Erkrankungen</strong><br />

– wie meine – aber so selten, dass sie<br />

es einfach nicht besser wissen.<br />

Was möchtest du anderen Betroffenen<br />

mit auf den Weg geben?<br />

Durch das ganze Leid, das ich in den<br />

Krankenhäusern gesehen habe, ist mir<br />

bewusst geworden, dass es vielen noch<br />

viel schlechter geht. Das Gute ist, dass<br />

EGPA immer bekannter wird, es sehr gute<br />

Therapien gibt und man ein normales<br />

Leben mit der Erkrankung führen kann.<br />

Mein Tipp: Gebt niemals auf, bleibt positiv<br />

und hört niemals auf zu kämpfen – es<br />

lohnt sich!<br />

ANZEIGE<br />

Mit freundlicher Unterstützung der GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG<br />

Eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA)<br />

Selten gesehen, häufig übersehen<br />

Eosinophile gehören zu den weißen Blutkörperchen, die eine wichtige Rolle in unserer Immunabwehr spielen. Bei Menschen<br />

mit eosinophiler Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA) steigt die Anzahl der Eosinophilen aus bisher ungeklärter Ursache<br />

stark an. Dadurch kommt es zu entzündlichen Veränderungen an kleinen und mittelgroßen Blutgefäßen, einer Vaskulitis, was<br />

zur Schädigung verschiedenster Organsysteme führt. Bei besonders schweren Verläufen kann die Erkrankung tödlich sein.<br />

Pro Jahr treten nur etwa 11 bis 18 Fälle pro eine Million Menschen auf, was EGPA zu einer seltenen Erkrankung macht.<br />

Prof. Dr. Jens<br />

Dieter Thiel<br />

Klinik für Rheumatologie<br />

und<br />

Klinische Immunologie<br />

am<br />

Universitätsklinikum<br />

Freiburg,<br />

Deutschland,<br />

und Leiter der<br />

Klinischen<br />

Abteilung für<br />

Rheumatologie<br />

und Klinische<br />

Immunologie am<br />

medizinischen<br />

Klinikum Graz,<br />

Österreich.<br />

Welche Behandlungsmöglichkeiten<br />

gibt es heute für die Betroffenen?<br />

Generell richtet sich die Behandlung nach der<br />

individuellen Symptomatik, den Organbeteiligungen<br />

sowie dem Schweregrad der Erkrankung.<br />

In der Regel wird mit der Gabe von<br />

Glukokortikoiden („Kortison“) gestartet, um die<br />

Entzündung, die als Folge der überschießenden<br />

Immunreaktion entsteht, rasch in den Griff zu<br />

bekommen. Häufig werden zusätzlich Immunsuppressiva<br />

notwendig. Diese Ansätze zielen<br />

sehr breit auf die überschießende Immunreaktion<br />

ab. Es können auch Biologika in der Therapie<br />

der EGPA eingesetzt werden, die<br />

zielgerichtet in den Krankheitsprozess eingreifen<br />

und die Behandlungsoptionen des Arztes erweitern.<br />

NP-DE-MPL-AD-<br />

VR-220003; 02/2022<br />

Prof. Thiel, Sie betreuen seit vielen<br />

Jahren Patient*innen mit EGPA.<br />

Worin besteht die besondere Herausforderung<br />

bei dieser Erkrankung?<br />

Bei vielen entzündlich-rheumatologischen <strong>Erkrankungen</strong><br />

liegt zwischen erstmaligem Auftreten<br />

und der Diagnosestellung eine gewisse Zeit.<br />

Aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes,<br />

ist diese Latenzzeit bei EGPA besonders ausgeprägt.<br />

Die Betroffenen haben häufig schon<br />

einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie zu<br />

uns kommen. Oft ist es durch die Vaskulitis dann<br />

schon zu irreparablen Organschäden beispielsweise<br />

der Lunge, der Haut, des Herzens, der<br />

Nieren oder des Nervensystems gekommen.<br />

Wieso wird die EGPA häufig erst so<br />

spät diagnostiziert? Und wie fällt sie<br />

dann letztlich auf?<br />

In der ersten Phase der Erkrankung, tritt meist<br />

eine Asthma-Symptomatik auf, mit der die Patientinnen<br />

und Patienten beim Lungenfacharzt<br />

vorstellig werden. Dieser behandelt dann das<br />

Asthma. Die klassische Asthmatherapie ist aber<br />

nicht in der Lage, den Krankheitsverlauf der zugrunde<br />

liegenden EGPA zu unterbrechen. Die<br />

Entzündungsreaktion und eine Eosinophilie bleiben<br />

oft bestehen und bereiten den Weg für den<br />

Übergang in die zweite Phase, in der die Gefäßentzündungen<br />

stärker werden und beginnen,<br />

Die Betroffenen haben häufig schon einen langen<br />

Leidensweg hinter sich, bis sie zu uns kommen.<br />

Organe zu schädigen. Oft wird dann ein weiterer<br />

Facharzt aufgesucht. Bis erkannt wird, dass<br />

die unterschiedlichen Manifestationen miteinander<br />

in Verbindung stehen, dauert es häufig einige<br />

Zeit. Das ist der Grund, warum Zentren wie<br />

unseres stark an einem engen interdisziplinären<br />

Austausch mit den regionalen Arztpraxen interessiert<br />

sind. Mit Pneumologen hätten wir als<br />

Rheumatologen von Haus aus eher weniger<br />

Kontakt, doch bei der EGPA ist Asthma ein Kardinalsyndrom,<br />

das in Verbindung mit bestimmten<br />

Biomarkern im Blutbild, ggf. auch<br />

Beteiligung der oberen Atemwege z. B. in Form<br />

von Nasenpolypen die Alarmglocken läuten lassen<br />

sollte.<br />

Wenn die Patienten zu uns kommen, sind sie<br />

meist bereits in der zweiten oder dritten Phase<br />

der Erkrankung, die geprägt ist von der Vaskulitis.<br />

Je nach betroffenem Gewebe führt diese zu<br />

vielfältigen Symptomen, die von entzündlichen<br />

Hautveränderungen, kardio-vaskulären Symptomen,<br />

bis hin zu neurologischen Auffälligkeiten<br />

mit Muskelschmerzen und Taubheitsgefühlen<br />

in Armen und Beinen reicht. Begleitend<br />

bestehen häufig eine deutliche Abgeschlagenheit<br />

und Leistungsminderung.


12 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Hämophilie-<br />

Betroffene werden<br />

von Beginn an ihrem<br />

Alter entsprechend<br />

in die Therapie einbezogen.<br />

Je älter<br />

die Patienten<br />

werden, umso<br />

mehr Verantwortung<br />

können sie<br />

für den eigenen<br />

Therapieerfolg<br />

übernehmen.<br />

FOTO: SHUTTERSTOCK<br />

Hämophilie-Therapie im Kindes- und Jugendalter –<br />

Motivation zur Eigenverantwortung<br />

Hämophilie, in ihren verschiedenen Ausprägungen, zählt zu den seltenen hämatologischen<br />

<strong>Erkrankungen</strong> und ist bisher nicht heilbar. Allerdings ist die Erkrankung, bei der Betroffenen<br />

Gerinnungsfaktoren im Blut fehlen, mittlerweile gut behandelbar, sodass ein weitgehend normales Leben<br />

möglich ist. Dabei ist es natürlich wichtig, dass die Therapie regelmäßig und gewissenhaft durchgeführt<br />

wird. Und genau das kann im jugendlichen Alter manchmal schwierig werden. Ein Gespräch mit Tobias<br />

Becker, Hämophilie-A-Patient und Vorstandsmitglied der IGH e.V., und Dr. Dr. med. Christoph Königs,<br />

Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Hämostaseologe am Universitätsklinikum Frankfurt am<br />

Main, über mögliche Stolpersteine und die Motivation jugendlicher Patienten zur Eigenverantwortung.<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Tobias Becker<br />

Hämophilie-A-<br />

Patient und Mitglied<br />

des Vorstandes der<br />

IGH e. V.<br />

Herr Becker, Sie leben mit einer schweren<br />

Hämophilie A. Wann wurden Sie diagnostiziert<br />

und wie ging es Ihren Eltern damit?<br />

Die Hämophilie wurde innerhalb meines ersten<br />

Lebenshalbjahres festgestellt. Wie viele andere<br />

Hämophilie-Betroffene hatte ich viele blaue<br />

Flecken am Körper, direkt nach der Geburt<br />

hatte ich einen größeren Bluterguss am Kopf,<br />

der nicht ganz leicht zu behandeln war. Bei mir<br />

kam es aber nie zum Worst-Case-Szenario, das<br />

viele Eltern betroffener Kinder erleben: dass bei<br />

den blauen Flecken fälschlicherweise zunächst<br />

an Kindesmisshandlungen gedacht wird. Meine<br />

Eltern wurden direkt zu einem Hämophilie-<br />

Zentrum geschickt, da die Ärzte bereits die<br />

richtige Vermutung hatten. Dort wurde die<br />

Diagnose gestellt. Für meine Eltern, die beide<br />

Ärzte sind, war das ein Schock. Denn damals,<br />

wie heute, war auch unter Ärzten das Wissen<br />

über die Hämophilie noch nicht sehr verbreitet.<br />

Die Hämophilie ist Ihr lebenslanger Begleiter.<br />

Wie war das für Sie als Jugendlicher?<br />

Mit welchen Herausforderungen sahen Sie<br />

sich konfrontiert?<br />

TB: Ich kam mit der Hämophilie grundsätzlich<br />

immer recht gut klar. Ich bin sehr behütet aufgewachsen,<br />

meine Eltern haben mich immer<br />

optimal unterstützt. Aber es gab natürlich<br />

Einschränkungen. Ich wusste, dass ich mich<br />

regelmäßig spritzen muss, daher hieß es an<br />

drei Tagen der Woche, früher aufzustehen,<br />

damit das vor der Schule noch erledigt werden<br />

konnte. Und es gab manche Dinge, die ich eher<br />

nicht tun sollte. Ich wollte zum Beispiel immer<br />

gern mit meinen Freunden im Verein Fußball<br />

spielen, aber das Verletzungsrisiko und somit<br />

die Gefahr von Blutungen ist da recht hoch.<br />

Ich habe dann angefangen, im gleichen Verein<br />

Tennis zu spielen. So konnte ich wenigstens das<br />

gleiche Trikot wie meine Freunde tragen und<br />

mich dort aufhalten, wo meine Freunde waren.<br />

Für meine Freunde war meine Hämophilie aber<br />

nie ein Problem, im Gegenteil: Sie waren eher<br />

interessiert und haben sich schützend vor mich<br />

gestellt, wenn es nötig war.<br />

Ich glaube, meine Eltern hatten damals die<br />

größeren Herausforderungen zu bewältigen.<br />

Zusätzlich zur ständig präsenten Sorge um<br />

mich mussten sie sich mit Erzieher*innen,<br />

Lehrer*innen und Rektor*innen verständigen.<br />

Vor jeder Klassenfahrt mussten sie alles regeln,<br />

damit die verantwortlichen Personen Bescheid<br />

wussten, dass ich mit Hämophilie A lebe, was<br />

bezüglich der Medikamente zu tun ist und wie<br />

man sich im Ernstfall verhalten muss.<br />

Herr Dr. Dr. Königs, Sie behandeln Kinder<br />

und Jugendliche mit Hämophilie: Deckt<br />

sich das mit Ihren Erfahrungen, dass sowohl<br />

Kinder als auch Eltern verschiedene<br />

Herausforderungen haben?<br />

Natürlich spielt beides eine Rolle. Ein kleines<br />

Kind, das erst ein paar Monate alt ist, findet es<br />

sicher nicht schön, regelmäßig im Rahmen der<br />

Therapie gestochen zu werden. Aber natürlich<br />

liegt die Belastung hier erst mal eher bei den<br />

Eltern. Das verlagert sich mit zunehmendem<br />

Alter immer mehr auf den Betroffenen selbst.<br />

Bei uns im Zentrum bemühen wir uns daher<br />

aktiv darum, bereits die kleineren Kinder ihrem<br />

Alter entsprechend mit einzubeziehen. Sie<br />

können mithelfen, das Spritzen erlernen, bis sie<br />

es irgendwann selbst übernehmen können. Mit<br />

zunehmendem Alter der Betroffenen versuche<br />

ich auch, die Eltern öfter einmal auszuklammern,<br />

damit meinen Patienten klar wird: Das<br />

ist deine Hämophilie, nicht die deiner Mutter<br />

oder deines Vaters.<br />

Man kann mit einer Hämophilie heute gut<br />

leben, aber der Preis ist hoch. Allein, dass<br />

morgens, bevor es zur Schule geht, gespritzt<br />

werden muss oder dass bei sportlichen Aktivitäten<br />

berücksichtigt werden muss, dass der<br />

Faktorspiegel dafür passen sollte: Das sind alles<br />

Dinge, die zum Leben eines Hämophilie-Betroffenen<br />

dazugehören. Wir sehen unsere Aufgabe<br />

im Hämophilie-Zentrum daher besonders dort,<br />

die Kinder und ihre Eltern dabei zu unterstützen,<br />

damit zurechtzukommen.


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

13<br />

Warum ist Therapietreue denn so wichtig,<br />

gerade mit Blick auf die Zukunft?<br />

CK: In erster Linie damit Betroffene gesund bleiben.<br />

Denn der Schaden, der heute gesetzt wird,<br />

zum Beispiel durch eine Gelenkblutung, wird<br />

sich später bemerkbar machen. Die Gelenke<br />

sind das Gedächtnis der Hämophilie-Therapie.<br />

Heißt: Die Blutung, die im Kindesalter entsteht,<br />

sorgt für einen Schaden, der auch dauerhaft<br />

bestehen bleiben kann. Das sehen wir<br />

heute deutlich bei jungen Erwachsenen, die<br />

erst spät mit einer Prophylaxetherapie angefangen<br />

haben, da sie einen deutlich schlechteren<br />

Gelenkstatus aufweisen als Betroffene,<br />

die bereits früh und suffizient prophylaktisch<br />

behandelt wurden und gute Medikamentenspiegel<br />

erreichen.<br />

TB: Das ist tatsächlich auch etwas, was mich<br />

beunruhigt: Es gibt Studien, die darauf hindeuten,<br />

dass es z.B. Mikroblutungen geben kann,<br />

die man gar nicht bemerkt, die aber trotzdem<br />

Schaden anrichten und den Gelenkstatus<br />

langfristig negativ beeinflussen. Wenn ich<br />

daran denke, mit welchen Faktor-Leveln ich<br />

manchmal auf dem Tennisplatz aktiv war, sind<br />

diese im Vergleich zu dem, was heute in der<br />

Prophylaxe angestrebt wird, grauenvoll gewesen.<br />

Das zeigt aber umso mehr, dass man die<br />

heute verfügbaren Möglichkeiten ausschöpfen<br />

sollte, um später keine böse Überraschung zu<br />

erleben.<br />

Aus Ihrer Erfahrung: Wie können Eltern betroffener<br />

Kinder/Jugendlicher und Behandler<br />

optimal zusammenarbeiten?<br />

CK: Wichtig ist erst einmal zu betonen, dass<br />

wir in einem umfassenden Behandlungsteam<br />

arbeiten, das aus Hämophilieassistent*innen,<br />

Sozialarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen,<br />

Ärzt*innen etc. besteht. Das Wichtigste ist<br />

dann für alle Beteiligten, offen und ehrlich zu<br />

kommunizieren. Man muss Probleme benennen<br />

und darüber sprechen, was nicht funktioniert,<br />

Scham ist hier absolut fehl am Platz. Man muss<br />

den graduellen Übergang in die Eigenverantwortlichkeit<br />

der Betroffenen schaffen. Das ist<br />

Teamwork. Es ist ja heutzutage nicht mehr so,<br />

dass das Behandlungsteam sagt, was gemacht<br />

wird und die Eltern das dann durchsetzen. Der<br />

Patient wird altersentsprechend und früh mit<br />

eingebunden im Hinblick auf seine Ideen, Ziele,<br />

Therapieplanung und -durchführung.<br />

Wie kann man jugendliche Patienten motivieren,<br />

Eigenverantwortung für den Erfolg<br />

ihrer Therapie zu übernehmen, ohne als<br />

Arzt oder Eltern zu viel Druck auszuüben?<br />

CK: Hier gehen zwei Dinge Hand in Hand:<br />

Der Betroffene muss irgendwann “aus dem<br />

Nest hüpfen” und selbst Verantwortung<br />

übernehmen. Wenn die Mutter eines 22 Jahre<br />

alten Patienten anruft, um sein Faktorpräparat<br />

zu bestellen, dann ist dieser Sprung aus dem<br />

Nest deutlich überfällig. Auf der anderen<br />

Seite müssen die Eltern die Verantwortung<br />

irgendwann auch abgeben, heißt: Selbstständigkeit<br />

unterstützen und loslassen, wo es nötig<br />

ist. Und hier kommt Motivation durch positive<br />

Erfahrung ins Spiel: Wenn die Betroffenen<br />

selbst merken, dass sie durch Therapietreue<br />

mehr Möglichkeiten und Freiheiten und<br />

keine Blutungen und Schmerzen bekommen,<br />

dann ist das die ideale Motivation, um<br />

weiterzumachen und selbst Verantwortung zu<br />

übernehmen.<br />

Ein Beispiel: Einer meiner Patienten, etwa zehn<br />

Jahre alt, bisher lief alles unkompliziert, dann<br />

haderte er sehr mit seiner Hämophilie, da seine<br />

Eltern ihn stets zur Vorsicht mahnten und<br />

gewisse Dinge nicht erlaubten, zum Beispiel<br />

Übernachtungen bei Freunden. Wir haben<br />

dann gemeinsam besprochen, dass er weiß,<br />

wie er Eltern und das Hämophilie-Zentrum<br />

im Notfall erreicht. Und er kann auch schon<br />

selbst sein Medikament spritzen. Wir haben<br />

also gemeinsam den Weg frei gemacht für den<br />

Übernachtungsbesuch. Das hat ihm einen<br />

unheimlichen Motivationsschub verpasst und<br />

gleichzeitig die Eltern aufgefangen.<br />

Was hätten Sie sich als Jugendlicher an<br />

Hilfe und Unterstützung gewünscht und<br />

was möchten Sie anderen Betroffenen mit<br />

auf den Weg geben?<br />

TB: Ich habe mich tatsächlich immer sehr<br />

gut versorgt gefühlt. Sicher hätten die Dinge<br />

komfortabler sein können, aber manchmal<br />

brauchen die Dinge eben einfach Zeit,<br />

besonders wenn es um die Entwicklung besserer<br />

Medikamente geht, die nicht mehr so häufig<br />

gespritzt werden müssen. Auch die Herangehensweise<br />

an den Alltag hat sich verändert. Bei<br />

mir hieß es noch oft: Das geht nicht, das darfst<br />

du nicht. Das sieht heute aber schon anders<br />

aus: Hier wird jetzt eher geschaut, was individuell<br />

für Betroffene möglich ist, ohne direkt<br />

nur mit Verboten zu arbeiten.<br />

Beim Übergang in die Erwachsenenmedizin<br />

wäre es sicher gut gewesen, wenn ich etwas<br />

strukturierter herangegangen wäre, in der<br />

Hinsicht, dass ich Termine vor- und nachbereite<br />

und Themen konkret anspreche, die für<br />

mich in der jeweiligen Lebensphase relevant<br />

gewesen sind.<br />

CK: Hier haben wir in der Medizin noch einiges<br />

zu lernen. Das Feld der Transitionsmedizin,<br />

also des Übergangs von der Kinder- in die<br />

Erwachsenenmedizin, ist in Deutschland noch<br />

relativ jung. Und dann muss man auch dazu<br />

wissen, dass es bei chronischen <strong>Erkrankungen</strong><br />

immer eine Herausforderung ist, das Behandlungsteam<br />

zu wechseln. Hier können strukturierte<br />

Programme und integrierte Zentren<br />

helfen.<br />

Dr. Dr. med.<br />

Christoph Königs<br />

Facharzt für Kinderund<br />

Jugendmedizin<br />

und Hämostaseologe<br />

am Universitätsklinikum<br />

Frankfurt<br />

am Main<br />

ANZEIGE<br />

Das Portal rund ums Thema Hämophilie<br />

haemcare.de ist ein umfassendes Portal für<br />

Menschen mit Hämophilie und ihre Angehörigen.<br />

Hier findet man alles Wichtige über<br />

Blutgerinnungsstörungen und wie ein möglichst<br />

normaler Alltag mit der Erkrankung gelingen<br />

kann.<br />

Umfassendes Wissen ist der Schlüssel<br />

Die eigene Erkrankung zu verstehen ist der<br />

Schlüssel, um eine optimistische Einstellung<br />

zu behalten und die Therapie so in den Alltag<br />

zu integrieren, dass sie die bestmöglichen<br />

individuellen Ergebnisse erzielen kann.<br />

Daher finden Hämophilie-Betroffene auf<br />

haemcare.de umfassende Informationen zur<br />

Erkrankung, zur Therapie und zu begleitenden<br />

Behandlungsoptionen. Aber auch zu<br />

Themen wie Fitness, Ernährung, Alternativmedizin<br />

oder ganz aktuell zu Hämophilie<br />

und Covid-Schutzimpfung oder zum GSAV<br />

finden sich hier fundierte Informationen. Die<br />

HaemExperten updaten in Form von kurzen<br />

Videos zu verschiedensten Themen!<br />

Digitale Helfer<br />

Damit die Integration der verschiedenen Aspekte<br />

der Hämophilie in den Alltag ganz einfach<br />

gelingt, können sich Betroffene die<br />

Erinnerungs-App HaemMemo, das Therapie-<br />

Tagebuch smart medication und die Fitness-<br />

App HaemActive herunterladen. So wird das<br />

eigene Smartphone zum Therapiebegleiter<br />

und Patienten können einen wichtigen Teil<br />

ihrer Behandlung selbst in die Hand nehmen!<br />

Unterwegs mit Hämophilie<br />

Speziell für die Reisezeit können sich Betroffene<br />

die App HaemTravel herunterladen:<br />

so weiß man Bescheid, welche Dokumente<br />

im Urlaub mit dabei sein müssen, ob man<br />

den Faktor ungekühlt mitnehmen kann, oder<br />

wo sich im Zielland das nächste Hämophiliezentrum<br />

befindet.<br />

Im Dialog bleiben<br />

Zudem bietet haemcare.de verschiedene Angebote,<br />

um miteinander ins Gespräch zu kommen,<br />

zum Beispiel durch den „Talk am<br />

Mittwoch“ in Zusammenarbeit mit der IGH<br />

e.V.. Das Portal informiert außerdem über die<br />

verschiedenen Patientenorganisationen, an die<br />

sich Betroffene und ihre Eltern wenden können.<br />

Das Patientenunterstützungsprogramm<br />

myHaemCare bietet zusätzlich umfassende<br />

Hilfestellungen für Betroffene und ihre Eltern.<br />

Aber auch Physiotherapeuten, die eine tragende<br />

Rolle in der Behandlung von Hämophiliepatienten<br />

spielen, finden in Form der<br />

HaemAcademy professionelle Unterstützung<br />

durch das HaemAcademy-Team, bestehend<br />

aus einem interdisziplinären Team von Hämostaseologen,<br />

Orthopäden und Physiotherapeuten:<br />

Dr. Günter Auerswald, Martina<br />

Bürhlen, Susan Halimeh, Björn Habermann<br />

und Marc Rosenthal und Bianca Wiese. Physiotherapeuten<br />

können hier direkt zu spannenden<br />

Weiterbildungen angemeldet<br />

werden.<br />

Über Novo Nordisk<br />

Deutschland<br />

Novo Nordisk ist ein weltweit führendes<br />

Unternehmen im Gesundheitswesen, das<br />

1923 gegründet wurde und seinen Hauptsitz<br />

in Dänemark hat. Unser Anspruch ist es,<br />

Veränderungen voranzutreiben, um Diabetes<br />

und andere schwerwiegende chronische<br />

Krankheiten wie Adipositas und seltene<br />

Blut- und Stoffwechselerkrankungen zu besiegen.<br />

Dafür arbeiten wir an wissenschaftlichen<br />

Innovationen bis hin zur Heilung von<br />

Krankheiten. Wir fördern den Zugang zu unseren<br />

Produkten für Patientinnen und Patienten<br />

weltweit und engagieren uns aktiv für<br />

Prävention. Novo Nordisk beschäftigt circa<br />

47.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in<br />

80 Ländern und vermarktet seine Produkte<br />

in rund 170 Ländern. Am deutschen Hauptsitz<br />

in Mainz sind rund 480 Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter tätig.<br />

V5 — Final<br />

www.novonordisk.de<br />

DE22CH00015


14 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

FOTO: SHUTTERSTOCK<br />

„Junge Betroffene brauchen persönliche<br />

Ziele, für die sich die Anstrengung lohnt“<br />

Die Mukoviszidose ist eine seltene, erblich bedingte Stoffwechselerkrankung, bei welcher der<br />

Wasser-Salz-Haushalt der Zellen gestört ist. In der Folge produzieren die innersekretorischen Drüsen<br />

des Körpers z.B. in der Lunge oder in der Bauchspeicheldrüse nur zähflüssige Sekrete, wodurch<br />

fortschreitend die Funktion verschiedener Organe einschränkt wird. Die Ursache ist ein defektes<br />

oder fehlendes CFTR-Protein als Folge bestimmter Mutationen im CFTR-Gen 1 . Die Erkrankung ist bis<br />

heute nicht heilbar, die mediane Lebenserwartung Betroffener liegt aber weltweit mittlerweile bei über<br />

50 Jahren 2 . Seit 2012 stehen zusätzlich zur rein symptomatischen Therapie zunehmend moderne<br />

medikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung, die näher an der Krankheitsursache angreifen und mit<br />

der rund 80% der Betroffenen behandelt werden können. Diese Medikamente können das Fortschreiten<br />

der Erkrankung verlangsamen, was die Lebensqualität und Lebenserwartung deutlich verbessern kann.<br />

Wir sprachen mit der Diplom-Psychologin Christine Lehmann, die am Mukoviszidose-Zentrum der<br />

Charité Berlin Mukoviszidose-Patient*innen betreut.<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Christine<br />

Lehmann<br />

Diplom-Psychologin<br />

am Mukoviszidose-Zentrum<br />

der<br />

Charité Berlin<br />

Frau Lehmann, Sie sind spezialisiert auf die<br />

psychosoziale Betreuung von Mukoviszidose-Patient*innen.<br />

Warum ist ein früher Therapiebeginn,<br />

möglichst direkt nach Diagnosestellung,<br />

so wichtig?<br />

Das Mukoviszidosescreening ist seit 2016<br />

Bestandteil des Neugeborenenscreenings. Vor<br />

diesem Zeitpunkt hatten die betroffenen Kinder<br />

und Eltern sehr häufig einen langen Leidensweg<br />

hinter sich, bis die Diagnose Mukoviszidose gestellt<br />

und die richtige Therapie eingeleitet wurde.<br />

Demgegenüber bietet die frühe Diagnosestellung<br />

den Vorteil, von Anfang an zu wissen, womit man<br />

es zu tun hat, um frühzeitig in das Krankheitsgeschehen<br />

eingreifen und es medizinisch-therapeutisch<br />

positiv beeinflussen zu können.<br />

Wie geht es aber den Eltern mit der frühen<br />

Diagnosestellung?<br />

Die durch das Neugeborenenscreening diagnostizierten<br />

Kinder haben in den meisten Fällen<br />

noch keine für die Eltern wahrnehmbaren<br />

Krankheitssymptome, d.h. es ist für die Eltern<br />

nicht gleich erkennbar, dass ihrem Kind „etwas<br />

fehlt“. Sie empfinden ihr neugeborenes Kind als<br />

„gefühlt gesund“ und erleben die Diagnosestellung<br />

daher oft mit Fassungslosigkeit und Irritation,<br />

manche auch mit einer vorübergehenden<br />

Verunsicherung in der Bindung zum Kind.<br />

Diese emotionalen Erschütterungen auszuhalten<br />

und zu überwinden, die Diagnose nach<br />

und nach zu akzeptieren, ist eine besondere<br />

Anpassungsleistung, die in den Mukoviszidose-<br />

Ambulanzen durch die Behandler der verschiedenen<br />

Berufsgruppen kompetent begleitet<br />

werden kann.<br />

Mit welchen Herausforderungen sehen sich<br />

besonders Eltern betroffener Kinder konfrontiert?<br />

Besonders bedeutsam auf der Elternseite sind<br />

zwei Bereiche: die Bewältigung von eigener<br />

emotionaler Belastung sowie die besonderen<br />

Erziehungsaufgaben, die sich durch die chronische<br />

Erkrankung des Kindes ergeben.<br />

Eine besondere emotionale Belastung für Eltern<br />

liegt darin, sich mit der drohenden Progredienz<br />

und der immer noch eingeschränkten<br />

Lebenserwartung bei Mukoviszidose auseinanderzusetzen.<br />

Schuldgefühle, Befürchtungen,<br />

Verlustängste – wie ein Damoklesschwert<br />

schwebt die ständige Sorge um das Kind über<br />

der Familie. Es liegt ja in der Verantwortung<br />

der Eltern als „Co-Therapeuten“, die komplexe<br />

und zeitaufwendige Therapie täglich im Alltag<br />

umzusetzen. Auf der einen Seite ist es ganz<br />

zentral, dass Eltern durch ihr Therapiehandeln


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

15<br />

Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen können,<br />

auf der anderen Seite entstehen nicht selten<br />

Therapiestress und Versagensängste, dies alles<br />

zu schaffen. Trotz verbesserter Therapiemöglichkeiten<br />

und positiverer Zukunftsperspektiven<br />

bleibt in den meisten Fällen die Progredienzangst<br />

bestehen, die aktivieren, aber auch lähmen kann.<br />

Gleichzeitig ist es den Eltern wichtig, ihr Kind<br />

mit Mukoviszidose in seiner psychosozialen<br />

Entwicklung zu unterstützen und für sein Leben<br />

mit Besonderheiten und Einschränkungen zu<br />

stärken. Mit ihren Bemühungen, ein möglichst<br />

„normales“ Leben zu ermöglichen, sind die<br />

meisten Familien erfolgreich. Auch haben sich<br />

die Bedingungen für Inklusion und Nachteilsausgleiche<br />

in Kita, Schule und Ausbildung sehr<br />

verbessert, sodass auch dem Kind die Gestaltung<br />

seiner„besonderen Normalität“ meist gut gelingt.<br />

Das Vorgehen in den Mukoviszidose-Ambulanzen, in der<br />

Sprechstunde die Jugendlichen als Hauptansprechpartner<br />

zunehmend selbst zu Wort kommen zu lassen, soll den<br />

Transitionsprozess unterstützen.<br />

Aufgrund der neuen Therapieoptionen ist<br />

die Lebenserwartung von Mukoviszidose-Patient*innen<br />

in den letzten Jahren kontinuierlich<br />

gestiegen, wenn Patient*innen<br />

die Therapie gewissenhaft durchführen.<br />

Welche Herausforderungen sehen Sie<br />

speziell beim Übergang vom Kindes- zum<br />

Erwachsenenalter?<br />

Der Prozess der Transition, also des<br />

Hineinwachsens in die zunehmende Selbstverantwortung<br />

für die Therapie, begleitet die<br />

Pubertät. Wie auch in anderen Bereichen des<br />

Lebens eines Jugendlichen gibt es Phasen des<br />

„Verpeilt-Seins“, des "Null-Bock-Habens" und<br />

der Opposition gegenüber (Therapie-)Regeln,<br />

die von Erwachsenen gemacht scheinen.<br />

Nicht wenige Jugendliche benötigen für die<br />

Einsicht in die Therapienotwendigkeit auch<br />

einmal die Erfahrung am eigenen Körper, dass<br />

das Weglassen von Therapie tatsächlich zur<br />

Verschlechterung führt, z.B. zu mehr Husten,<br />

unangenehmen Bauchschmerzen oder reduzierten<br />

Lungenfunktionswerten. Zusätzlich<br />

ist wichtig, dass Eltern loslassen lernen und<br />

den Jugendlichen die Verantwortung nach<br />

und nach zutrauen. Dies sollte im Idealfall<br />

schrittweise und angepasst an die Reife des/der<br />

Jugendlichen und seiner/ihrer Motiviertheit<br />

und Selbstkompetenz geschehen. Im Alltag<br />

ergeben sich erfahrungsgemäß hieraus jedoch<br />

häufig Konflikte in der Familie.<br />

Das Vorgehen in den Mukoviszidose-Ambulanzen,<br />

in der Sprechstunde die Jugendlichen<br />

als Hauptansprechpartner zunehmend selbst<br />

zu Wort kommen zu lassen, soll den Transitionsprozess<br />

unterstützen.<br />

Welche Hilfs- und Unterstützungsangebote<br />

brauchen Jugendliche und junge Erwachsene<br />

aus Ihrer Sicht, um an der Therapie<br />

dranzubleiben?<br />

Wenn Eltern mehr und mehr in die Rolle eines<br />

„Coaches“ rücken, braucht es für Jugendliche<br />

und junge Erwachsene relevante Rollenmodelle<br />

aus der Gleichaltrigengruppe. Zu hören,<br />

wie andere ihr Leben mit Mukoviszidose<br />

gestalten oder die Therapieumsetzung in<br />

den Alltag schaffen, sich auszutauschen, wie<br />

man krankheitsassoziierte Schwierigkeiten<br />

erlebt, und gemeinsam Problemlösungen zu<br />

diskutieren– dies sind hilfreiche Schritte auf<br />

dem Weg in das Erwachsenwerden. Wesentlich<br />

aus psychologischer Sicht ist ebenso für diese<br />

Altersgruppe, kurzfristige wie langfristige<br />

persönliche Ziele zu entwickeln, für deren<br />

Erreichen sich Einsatz und Anstrengung<br />

lohnen – und eben auch der tägliche Therapieaufwand.<br />

Digitale Möglichkeiten wie soziale Netzwerke<br />

oder Online-Veranstaltungen und virtuelle<br />

Treffen sind heutzutage gute Möglichkeiten,<br />

die genannten Bewältigungsstrategien<br />

umsetzen zu können.<br />

1<br />

Cystic Fibrosis Foundation.<br />

Basics of The<br />

CFTR Protein. Online<br />

verfügbar unter: www.<br />

cff.org/Research/<br />

Research-Into-the-<br />

Disease/Restore-<br />

CFTR-Function/<br />

Basics-of-the-CFTR-<br />

Protein/" www.cff.org/<br />

Research/Research-<br />

Into-the-Disease/<br />

Restore-CFTR-<br />

Function/Basics-ofthe-CFTR-Protein/.<br />

Letzter Zugriff: Oktober<br />

2021.<br />

2<br />

Cystic Fibrosis Foundation.<br />

CFF Patient<br />

Registry, Annual Data<br />

Report 2020<br />

Der Mukoviszidose e. V. – Bundesverband Cystische Fibrose (CF)<br />

Der Mukoviszidose e.V. setzt sich seit über 50 Jahren für die Belange von Menschen mit Mukoviszidose und ihren Angehörigen<br />

ein und vernetzt seither die Patienten, ihre Angehörigen, Ärzte, Therapeuten und Forscher. Er leistet mit seinen vielfältigen Angeboten<br />

Hilfe zur Selbsthilfe, bietet Unterstützung in Notsituationen und ist ein kompetenter Ansprechpartner für Betroffene<br />

und ihre Familien. Das Ziel: jedem Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben mit Mukoviszidose zu ermöglichen. Mit<br />

seiner Forschungsförderung leistet der Verein einen wichtigen Beitrag, um die Krankheit eines Tages heilen zu können. Auch<br />

die Aus- und Fortbildung von in der Mukoviszidose-Behandlung Tätigen ist ein wichtiges Anliegen des Mukoviszidose e.V. Darüber<br />

hinaus setzt er sich für die Belange der Betroffenen gegenüber Entscheidungsträgern in Politik, dem Gesundheitswesen<br />

und der Wirtschaft ein. Der Verein finanziert sich fast ausschließlich aus Spenden.<br />

www.muko.info<br />

ANZEIGE<br />

Die digitale Plattform<br />

mit Informationen und<br />

Services rund um CF.<br />

www.CFSource.de<br />

AT-32-2200005


16 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Pulmonale Arterielle<br />

Hypertonie (PAH) –<br />

Wenn (zu) hoher Blutdruck in der<br />

Lunge den Atem nimmt<br />

Text Doreen Brumme<br />

Prof. Dr. med.<br />

Hanno Leuchte<br />

Chefarzt für Innere<br />

Medizin II und<br />

Ärztlicher Direktor<br />

am Krankenhaus<br />

Neuwittelsbach,<br />

Klinik der Barmherzigen<br />

Schwestern<br />

München<br />

D<br />

ie Pulmonale Arterielle Hypertonie<br />

(PAH) ist eine seltene Erkrankung,<br />

die den Blutdruck in den Lungenadern<br />

erhöht, was kurzatmig<br />

macht und das Herz belastet. Unbehandelt<br />

ist die PAH lebensbedrohlich. Prof. Dr. med.<br />

Hanno Leuchte, Chefarzt für Innere Medizin<br />

II und Ärztlicher Direktor am Krankenhaus<br />

Neuwittelsbach, zeigt im Interview Warnsignale<br />

und Risikogruppen für eine PAH auf<br />

und erklärt bewährte Behandlungen.<br />

Womit bekommen es Patienten zu tun, die<br />

an PAH leiden?<br />

Die sich meist auf leisen Sohlen einschleichende<br />

Blutdruckerhöhung in den<br />

Lungenadern beeinträchtigt den Blutfluss<br />

in den Lungengefäßen. Das führt zu einer<br />

Mehrbelastung des rechten Herzens. Es gilt:<br />

Je weiter die Erkrankung an den Lungenadern<br />

fortschreitet, desto mehr leidet das<br />

Herz. Unbehandelt führt die PAHinnerhalb<br />

weniger Jahre zu erheblichen körperlichen<br />

Beeinträchtigungen und letztlich zum Tod.<br />

Erfreulicherweise gibt es mittlerweile gute<br />

Behandlungsoptionen.<br />

Wie zeigt sich die PAH?<br />

PAH-Patienten berichten von eingeschränkter<br />

Leistungsfähigkeit und Kurzatmigkeit.<br />

Das sind beides Beschwerden, die sich in<br />

Ruhemomenten oft noch gut ausgleichen<br />

lassen. Eine körperliche Belastung jedoch,<br />

zum Beispiel das Treppensteigen, wird der<br />

Lunge im Zusammenspiel mit dem Herzen<br />

schnell zu viel. Typisch ist, dass die Kurzatmigkeit<br />

nicht trainierbar ist und sich in der<br />

Regel verstärkt, wenn auch langsam. Zunehmende<br />

Wassereinlagerungen in den Beinen<br />

(Ödeme) und/oder starkes Herzklopfen unter<br />

Belastung, oft gefolgt von einer größeren<br />

Erschöpfung, gehören ebenfalls zu den<br />

Symptomen. Bei manchen Patienten färben<br />

sich auch die Lippen oder Fingerspitzen blau<br />

(Zyanose).<br />

Wie viele Betroffene gibt es in<br />

Deutschland?<br />

Man geht hierzulande von zwei- bis fünftausend<br />

Fällen aus, wobei eine Dunkelziffer<br />

zu befürchten ist. Dazu muss man wissen,<br />

dass auch in Deutschland nicht selten<br />

mehrere Jahre vom Auftreten klassischer<br />

Symptome bis zur sicheren Diagnose vergehen.<br />

Wen trifft die PAH?<br />

Während die PAH früher im Wesentlichen als<br />

eine Erkrankung junger Frauen galt, wissen<br />

wir heute, dass sie Menschen jeden Alters<br />

trifft. Das mittlere Erkrankungsalter liegt in<br />

Deutschland bei etwa 65 Jahren.<br />

Gibt es Risikogruppen?<br />

Ein Risiko besteht für Patienten<br />

mit Bindegewebserkrankungen, insbesondere<br />

der Systemsklerose und der Sonderform<br />

CREST-Syndrom,<br />

mit angeborenem Herzfehler, auch wenn<br />

dieser bereits korrigiert wurde,<br />

mit Lebererkrankungen,<br />

mit diversen Infektionskrankheiten.<br />

Zudem können verschiedene Medikamente<br />

und Stimulanzien die Entwicklung einer<br />

PAH fördern, falls eine Anfälligkeit vorliegt.<br />

Wie wird die PAH diagnostiziert?<br />

Auch wenn die PAH eine Lungenerkrankung<br />

ist, lässt sie sich nicht so herkömmlich wie<br />

eine solche diagnostizieren. Der Grund: Die<br />

PAH spielt sich an den Lungengefäßen ab.<br />

Mit verschiedenen Messungen, sowohl der<br />

Funktion der Lunge samt Gasaustausch als<br />

auch des Herzens, beispielsweise per Herzultraschall,<br />

lässt sich die PAH diagnostizieren.<br />

Ergänzend stützen Blutwerte und bestimmte<br />

bildgebende Verfahren wie Computertomografie<br />

die Diagnose. Mitunter ist zudem eine<br />

spezielle Belastungsuntersuchung nötig.<br />

Wichtig: Eine Katheteruntersuchung der<br />

rechten Herzkammer ist zwingend erforderlich<br />

– entweder für die sichere Diagnose<br />

der Lungenhochdruckerkrankung oder um<br />

sie auszuschließen. Diese Untersuchungen<br />

machen darauf spezialisierte Zentren gemäß<br />

den Empfehlungen der europäischen und<br />

deutschen Leitlinien, in der Regel während<br />

eines kurzen stationären Aufenthaltes. Die<br />

Herzkatheteruntersuchung bestätigt einerseits<br />

die Diagnose. In bestimmten Konstellationen<br />

lassen sich währenddessen auch Tests<br />

machen, die andererseits erste Rückschlüsse<br />

auf die mögliche individuelle Behandlung<br />

erlauben.<br />

Wie lässt sich die PAH behandeln?<br />

Erfreulicherweise gibt es inzwischen eine<br />

ganze Reihe medikamentöser Therapien für<br />

die PAH. Die Medikamente sind allerdings<br />

nicht leicht einzusetzen, der behandelnde<br />

Spezialist braucht dafür sehr viel Erfahrung.<br />

Und weil diese Therapien nur zum Behandeln<br />

der seltenen PAH oder CTEPH (Chronisch<br />

thromboembolische pulmonale<br />

Hypertonie, eine weitere Form der Lungenhochdruckerkrankung)<br />

zugelassen sind, ist<br />

die Behandlung in den schon erwähnten<br />

Spezialzentren dringend ratsam.<br />

Auch wenn die PAH eine Lungenerkrankung ist,<br />

lässt sie sich nicht so herkömmlich wie eine solche<br />

diagnostizieren.<br />

Was erschwert die Medikation?<br />

In der Regel müssen mehrere Medikamente<br />

miteinander kombiniert werden. Welche und<br />

wie viel davon jeweils zum Einsatz kommen,<br />

das hängt auch davon ab, welche Therapieziele<br />

für die Patienten definiert werden.<br />

Oftmals erfolgt dann eine Risikoanalyse.<br />

Und da insbesondere ältere Patienten oft<br />

Begleiterkrankungen haben, ist es entscheidend,<br />

die einzelnen Therapien richtig<br />

zu balancieren.<br />

Wie steht es um die Behandlungsaussichten?<br />

Beim Behandeln der PAH – und auch der<br />

erwähnten CTEPH – sind wir mittlerweile<br />

sehr erfolgreich. Wobei der Behandlungserfolg<br />

auch immer davon abhängt, inwieweit<br />

Begleiterkrankungen zu Belastungseinschränkungen<br />

und mehr führen.<br />

Mit den aktuellen Behandlungen können wir<br />

heute in der Regel nicht nur die Krankheitsverläufe<br />

stabilisieren, sondern auch die<br />

Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig<br />

verbessern. Das zeigt sich insbesondere mit<br />

einer (wieder) zunehmenden Leistungsfähigkeit<br />

und abnehmenden Kurzatmigkeit im<br />

Alltag. Vor allem junge Menschen mit dieser<br />

seltenen Diagnose können dank dessen ein<br />

Leben mit nur geringen Einschränkungen<br />

führen. Was nicht darüber hinwegtäuschen<br />

soll, dass es auch schwere Verläufe gibt, die<br />

letztendlich nur mit einer Lungentransplantation<br />

zu behandeln sind.<br />

pulmonale hypertonie e.v.<br />

Der pulmonale hypertonie e. v. (ph e.v.) unterhält einen Informationsdienst zum Krankheitsbild Lungenhochdruck. Er gibt Informationen<br />

über Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie weiter und vermittelt Kontakte zu spezialisierten Ärzten und Kliniken. Er<br />

bietet Unterstützung bei Fragen zur medizinischen und sozialen Versorgung und veranstaltet bundesweite Patiententreffen mit<br />

Angehörigen.<br />

www.phev.de


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

17<br />

„Es ging um Leben und Tod“<br />

Als wir Carolin Thurmann kennenlernen, erleben wir eine lebenslustige,<br />

starke Frau. Dass sie schwer krank ist, sieht man ihr<br />

auf den ersten Blick nicht an. Im Interview spricht sie über ihr<br />

Leben mit PAH (Pulmonaler Arterieller Hypertonie).<br />

Text Paul Howe<br />

Frau Thurmann, Sie leiden an der Erkrankung<br />

PAH. Können Sie uns erzählen, wie sich die<br />

Erkrankung bei Ihnen geäußert hat und wie die<br />

Diagnose gestellt wurde?<br />

Es fing in der Grippewelle 2015 an, auch ich wurde<br />

krank, habe es aber erst einmal ignoriert und bin<br />

weiter arbeiten gegangen. Doch es wurde immer<br />

schlimmer. Ich war schon nach ein paar Treppenstufen<br />

aus der Puste, meine Belastungsgrenze sank<br />

von Tag zu Tag. Plötzlich traten starke Wassereinlagerungen<br />

in den Beinen auf, die Untersuchungen an<br />

Herz, Lunge und das Blutbild ergaben jedoch keinen<br />

Befund. Allerdings wurde eine Schilddrüsenunterfunktion<br />

festgestellt. Schilddrüsenhormone sowie<br />

vorübergehend Entwässerungstabletten wurden verordnet.<br />

Die Wassereinlagerungen blieben, zusätzlich<br />

löste die Schilddrüsenmedikation Migräneanfälle<br />

aus. Neue Symptome wie blaue Lippen, Atemnot und<br />

Husten kamen hinzu. Da ich etwas übergewichtig<br />

bin, hörte ich von den Ärzten immer wieder, dass ich<br />

abnehmen solle und es mir dann besser gehe – das<br />

war schrecklich für mich, und meine Selbstzweifel<br />

stiegen. Ich versuchte abzunehmen, doch die Probleme<br />

blieben, verschlechterten sich sogar, Übelkeit<br />

und Erbrechen kamen hinzu.<br />

Warum sind Sie nicht zum Arzt gegangen?<br />

Meine Hochzeit stand kurz bevor. Darauf hatte ich mich so<br />

lange gefreut und alles sollte perfekt sein. Ich hatte Angst,<br />

dass ich sie absagen muss. Also zog ich das durch und vereinbarte<br />

danach einen Arzttermin, um hoffentlich endlich den<br />

Grund für meinen schlechten Gesundheitszustand herauszufinden.<br />

Doch dazu kam es gar nicht mehr. In der Nacht vor<br />

dem Termin wachte ich mit Schmerzen in den Beinen und<br />

akuter Luftnot auf. Der erste Gedanke, ein schlechter Traum,<br />

war jedoch nicht die Ursache. Mein Mann fuhr mich zum<br />

ärztlichen Notdienst. Der Notarzt nahm mich überhaupt<br />

nicht ernst, sagte nur, dass ich Sport machen solle und es<br />

dann schon besser werde. Dennoch wollte er eine Zweitmeinung<br />

und zog die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses<br />

hinzu. Die stellten eine Sauerstoffsättigung von 62%<br />

fest – dass ich überhaupt noch bei Bewusstsein war, war ein<br />

Wunder. Sie gaben mir Sauerstoff, doch der Wert stieg nicht<br />

an. Zudem wurde eine Herzschädigung festgestellt, die<br />

Ursache kannte aber niemand. 24 Stunden später wurde ich<br />

in die Lungenklinik Löwenstein verlegt. Ich war ein absoluter<br />

Notfall – es ging um Leben und Tod. In derselben Nacht<br />

kam dann auch die Diagnose: pulmonale Hypertonie. Eine<br />

medikamentöse Therapie wurde eingeleitet und mir ging<br />

es schnell besser. Meine Behandlung beinhaltet heute eine<br />

Kombinationstherapie plus Langzeit-Sauerstofftherapie.<br />

Wie sieht Ihr Alltag nun aus, da Sie in Behandlung<br />

sind?<br />

Ich bin froh, dass ich weiß, was ich habe. Dennoch ist<br />

mein Leben nicht mehr das, was es mal war. Vieles, was<br />

ich mir für mein Leben gewünscht habe, ist einfach nicht<br />

mehr möglich. Den Kinderwunsch loszulassen, war besonders<br />

schwer und schmerzt bis heute. Lange habe ich<br />

versucht, mich ins Arbeitsleben zurückzukämpfen, bis<br />

ich einsehen musste, dass ich damit meiner Gesundheit<br />

eher schade – somit bin ich heute berentet. Was mich<br />

lange sehr belastet hat, waren die Blicke der anderen<br />

Menschen. Eine junge Frau mit Sauerstoffgerät, dafür<br />

scheinen viele kein Verständnis zu haben. Auch viele<br />

Freunde und Bekannte haben sich von uns abgewandt.<br />

Ich habe lange gebraucht, um das zu akzeptieren. 2016<br />

habe ich angefangen, einen Blog im Internet zu schreiben.<br />

Ich habe mir dabei all die vielen Fragen, auf die ich<br />

keine Antworten erhalten habe, alles, was mich bedrückte,<br />

richtiggehend von der Seele geschrieben. Ich erfahre<br />

durch den Austausch mit anderen Betroffenen, dass ich<br />

mit meinem Blog genau das zum Ausdruck bringe, was<br />

andere gleichermaßen empfinden, selbst aber nicht wagen,<br />

auszusprechen. Durch den Blog hat sich eine neue<br />

Aufgabe entwickelt, ein neuer Sinn ist entstanden, der<br />

mich glücklich macht.<br />

ANZEIGE<br />

„Die Diagnose dauert oft sehr lange“<br />

Weltweit gibt es schätzungsweise 8.000 seltene Krankheiten und für viele existieren noch keine Behandlungsoptionen.<br />

Das forschende Pharmaunternehmen Janssen Deutschland engagiert sich bei mehreren seltenen Krankheitsbildern<br />

und wir sprachen darüber mit der Medizinischen Direktorin im Bereich PAH, Dr. Ursula Kleine-Voßbeck.<br />

Dr. Ursula<br />

Kleine-Voßbeck<br />

Medizinische<br />

Direktorin<br />

im Bereich<br />

PAH, Janssen<br />

Deutschland<br />

Mit freundlicher<br />

Unterstützung der<br />

Janssen-Cilag<br />

GmbH<br />

Welche Besonderheiten birgt die Forschung<br />

an Therapien gegen seltene<br />

Krankheiten?<br />

Um neue Medikamente zu entwickeln,<br />

sind umfassende klinische Studien notwendig.<br />

Diese sind bei der limitierten<br />

Zahl der Patient:innen sowie wenigen<br />

spezialisierten Behandlungszentren häufig<br />

sehr schwer durchzuführen und dauern<br />

entsprechend lange. Auf der anderen<br />

Seite haben die betroffenen Menschen<br />

oft eine unglaublich hohe Bereitschaft,<br />

an den Studien mitzuwirken. Sie möchten<br />

helfen, dass die eigene Erkrankung besser<br />

erforscht wird.<br />

Vor welchen Schwierigkeiten stehen<br />

Patient:innen mit seltenen Krankheiten?<br />

Die Diagnose dauert oft sehr lange, weil<br />

in der Regel zunächst häufigere Krankheiten<br />

vermutet werden. Dadurch kann kostbare<br />

Zeit für die Patienten verloren<br />

gehen und sie werden in einem „kränkeren“<br />

Zustand diagnostiziert. Bei Atemnot<br />

denken z.B. viele zuerst an Asthma und<br />

nicht an Lungenhochdruck. Dann kann es<br />

sein, dass die Behandlungszentren<br />

schwer zu finden sind oder dort Wartezeiten<br />

bestehen. Die Odyssee durch das<br />

Gesundheitssystem bis zur Diagnose<br />

kann bei Betroffenen das Vertrauen in die<br />

Medizin erschüttern und im Extremfall zur<br />

Depression führen. Manchmal finden<br />

Patient:innen in Selbsthilfegruppen Unterstützung,<br />

aber auch diese sind natürlich<br />

seltener als bei häufigeren<br />

<strong>Erkrankungen</strong>.<br />

In welchen seltenen Krankheitsgebieten<br />

forscht Janssen beispielsweise?<br />

Wir engagieren uns zum Beispiel im<br />

Bereich Lungenhochdruck und seltenen<br />

hämatologischen <strong>Erkrankungen</strong> wie Amyloidose<br />

und Morbus Waldenström.<br />

Außerdem forschen wir an Behandlungsmöglichkeiten<br />

für einige seltene Lungenkrebsarten,<br />

der seltenen Muskelschwäche<br />

Myasthenia gravis sowie weiteren<br />

Autoimmunkrankheiten. Auch die bisher<br />

unheilbare Netzhauterkrankung Retinitis<br />

pigmentosa sowie die Farbenblindheit<br />

Achromatopsie stehen bei uns im Fokus.<br />

Der medizinische Bedarf ist bei den<br />

seltenen Krankheiten sehr groß und wir<br />

wollen für die Betroffenen einen echten<br />

Unterschied machen.<br />

Wie will Janssen dazu beitragen, die<br />

Versorgung bei seltenen Krankheiten<br />

zu verbessern?<br />

Neben der Forschung liegt ein wichtiger<br />

Schwerpunkt in der Aufklärung – sowohl<br />

in der Öffentlichkeit als auch gezielt bei<br />

Ärzt:innen, der Selbsthilfe sowie in der<br />

Lehre. Außerdem wollen wir die Diagnostik<br />

beschleunigen und setzen zusammen<br />

mit Partnern auf neue Technologien, die<br />

zum Beispiel Biomarker und künstliche<br />

Intelligenz nutzen.<br />

Lungenhochdruck:<br />

Manchmal gar nicht selten<br />

Die pulmonale arterielle Hypertonie (PAH), eine spezielle<br />

Form des Lungenhochdrucks, kommt selten vor. Allerdings<br />

tritt bei manchen Menschen die Krankheit gar<br />

nicht so selten auf – wer sind die Risikogruppen?<br />

Ein erhöhtes PAH-Risiko haben beispielsweise Menschen<br />

mit einem angeborenen Herzfehler. Schätzungsweise<br />

entwickeln bis zu zehn Prozent der Betroffenen<br />

eine PAH – selbst Jahrzehnte nach erfolgreicher Korrektur<br />

des Herzfehlers. Außerdem sind chronische Bindegewebserkrankungen<br />

wie die systemische Sklerose<br />

mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko verbunden. Für<br />

diese Risikogruppen ist daher ein regelmäßiger Check<br />

in spezialisierten Zentren zu empfehlen.<br />

PAH ist behandelbar<br />

Die PAH lässt sich heute häufig langfristig gut behandeln.<br />

Je frühzeitiger im Verlauf die Krankheit<br />

erkannt wird, desto besser. „Bei fast der Hälfte<br />

der Menschen mit PAH wird die Erkrankung nicht<br />

richtig diagnostiziert. Deshalb ist es uns so wichtig,<br />

über Lungenhochdruck aufzuklären“, erläutert<br />

Dr. med. Stefanie Walther, Commercial Director Rare and<br />

Infectious Diseases bei Janssen Deutschland.<br />

Weitere Informationen zur Krankheit, Anlaufstellen und<br />

Erfahrungsberichte bietet das Portal<br />

JanssenWithMe.de<br />

EM-87932


18 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

Morbus Fabry –<br />

Das Chamäleon unter den seltenen Krankheiten<br />

Bei der Erkrankung Morbus Fabry kommt es zur übermäßigen Speicherung von<br />

Stoffwechselprodukten. Im Interview erklärt Dr. med. Jessica Kaufeld, Nierenexpertin<br />

aus dem Fabry-Zentrum der Medizinischen Hochschule Hannover, warum das dazu<br />

führt, dass sich die Krankheit vielfältig wie ein Chamäleon zeigt.<br />

Text Doreen Brumme<br />

Dr. med.<br />

Jessica Kaufeld<br />

Nierenexpertin aus<br />

dem Fabry-Zentrum<br />

der Medizinischen<br />

Hochschule<br />

Hannover<br />

Warum gilt Morbus Fabry als das<br />

Chamäleon unter den seltenen <strong>Erkrankungen</strong>?<br />

Die erblich bedingte Speichererkrankung<br />

Morbus Fabry führt zu Störungen beim<br />

Abbau bestimmter Fette (Lipide). Insbesondere<br />

das Globotriaosylceramid (kurz<br />

Gb 3<br />

) lagert sich übermäßig stark in einer<br />

Vielzahl von Organen ab. Das beeinträchtigt<br />

nach und nach deren Funktion.<br />

Je nachdem welches Organ betroffen<br />

ist, ergeben sich andere Symptome. Die<br />

Erkrankung erscheint daher so vielfältig<br />

wie ein Chamäleon.<br />

Was passiert bei der Erkrankung im<br />

Körper?<br />

Die Stoffwechselstörung beruht auf einem<br />

Mangel am Enzym Alpha-Galaktosidase A.<br />

Dieses sorgt normalerweise dafür, dass<br />

Fettstoffe aufgespalten und verarbeitet<br />

werden können. Morbus-Fabry-Patient*innen<br />

stellen das Enzym kaum bis<br />

gar nicht her. Dies führt unter anderem<br />

zu Herz-, Nieren- und Nervenproblemen.<br />

Daher spricht man im weiteren Verlauf<br />

auch von einer Multiorganerkrankung.<br />

Was sind erste Anzeichen für einen<br />

Morbus Fabry?<br />

Klassische Anzeichen sind beispielsweise<br />

Brennschmerzen in Händen und<br />

Füßen und ein spezieller Hautausschlag<br />

(stecknadelkopfgroße dunkelrot-violette<br />

Papeln). Häufig berichten Patienten von<br />

Herzproblemen wie Herzrasen, Magenproblemen,<br />

Müdigkeit und Erschöpfung.<br />

Findet man keine gute Erklärung, sollte<br />

man an Morbus Fabry denken.<br />

Viele Morbus-Fabry-Patient*innen<br />

leiden Jahre, bis sie endlich ihre Diagnose<br />

bekommen. Woran liegt das?<br />

Die Vielfalt möglicher Symptome ist immens<br />

und viele davon könnten durchaus<br />

auch andere Ursachen haben. Meist<br />

kommt es erst zur Diagnose, wenn sich<br />

mit Fortschreiten der Erkrankung immer<br />

mehr Beschwerden zeigen und diese<br />

ganzheitlich und von Mediziner*innen<br />

verschiedener Disziplinen gemeinsam<br />

betrachtet werden. Bei unseren Patient*innen<br />

kann der Leidensweg bis dahin<br />

im Schnitt bis zu zwölf Jahre dauern.<br />

Wie lässt sich der Leidensweg<br />

abkürzen?<br />

Mit Aufklärung. Denn ein früher Verdacht<br />

könnte schneller zur sicheren<br />

Diagnose und damit zur Behandlung<br />

führen. Wir wissen längst, dass der Morbus<br />

Fabry von einem Gendefekt verursacht<br />

wird und dass das veränderte Gen<br />

auf dem X-Chromosom der Geschlechtschromosomen<br />

sitzt. Deshalb könnte<br />

auch der Hinweis eines Familienmitgliedes<br />

mit Symptomen dienlich sein. Oder<br />

das Wissen einer Ärztin oder eines Arztes<br />

darüber, dass zum Beispiel der Nachweis<br />

von Eiweiß im Urin nicht nur unnormal<br />

ist, sondern ein Anzeichen für Morbus<br />

Fabry sein kann. Wer mit einem solchen<br />

Befund bei uns im Zentrum nachfragt,<br />

sei es der*die behandelnde Arzt*Ärztin<br />

oder der*die Betroffene selbst, kann<br />

sofort mit der Hilfe und Expertise eines<br />

multidisziplinären Teams rechnen.<br />

Wie behandeln Sie Morbus Fabry?<br />

Morbus Fabry lässt sich mit einer<br />

lebenslangen Enzymersatztherapie als<br />

Infusion behandeln. Eine alternative<br />

Therapie besteht in einer Kapsel zum<br />

Einnehmen, die die Enzymaktivität<br />

unterstützt, aber nur für spezielle Fabry-Patienten<br />

geeignet ist (sog. Chaperontherapie).<br />

Über die Indikation und<br />

die Art der Behandlung entscheidet das<br />

Fabry-Zentrum. Die Therapien haben<br />

möglicherweise auch Nebenwirkungen,<br />

die ebenfalls durch die Spezialisten<br />

überwacht werden müssen.<br />

Was wünschen Sie Morbus-Fabry-Patient*innen<br />

für die Zukunft?<br />

Ich wünsche mir schnellere Diagnosen<br />

und damit kürzere Leidenswege für die<br />

Patient*innen. Ganz weit oben auf meiner<br />

Wunschliste stehen zudem Therapieformen,<br />

die leichter oder seltener<br />

anzuwenden sind. Weniger Nebenwirkungen<br />

sind ebenso wünschenswert.<br />

Voller Hoffnung schaue ich derzeit<br />

auf die Arbeit der Kolleg*innen in der<br />

Forschung, denn neue Methoden in der<br />

Diagnostik und den Therapien für Morbus<br />

Fabry sind schon in der klinischen<br />

Erprobung.<br />

Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. – Zusammen stärker!<br />

An Morbus Fabry sind in ganz Deutschland etwa 1.200 Menschen erkrankt, mit einer hohen Dunkelziffer. Es ist eine Erbkrankheit, die zu Beginn sehr unspezifische<br />

Auswirkungen hat: Schmerzen in den Gelenken, Flecken auf der Haut oder extreme Müdigkeit. So wird die Krankheit häufig erst festgestellt,<br />

wenn sie schon große Schäden angerichtet hat: starke Nierenschädigung, Schlaganfall in jungen Jahren oder extreme Vergrößerung des Herzmuskels.<br />

Unbehandelt sterben Patienten rund 25 Jahre früher.<br />

Seit 20 Jahren gibt es für Patienten mit Morbus Fabry wirkungsvolle Therapien, die die Erkrankung stoppen oder verlangsamen. Je früher sie erkannt<br />

wird, umso geringer sind die bleibenden Schäden. Doch gibt es nur wenige gute Behandlungszentren für diese seltene Erkrankung. Es ist wichtig, dass<br />

wir als Gruppe von betroffenen Patienten sichtbarer werden, uns gegenseitig mit Informationen über Kliniken und neue Therapieansätze versorgen –<br />

auch im persönlichen Austausch. Mit 120 Mitgliedern versucht die Morbus Fabry Selbsthilfegruppe (MFSH) unter anderem, in der Politik und in der Forschung<br />

auf dieses Krankheitsbild aufmerksam zu machen. Informieren Sie sich weiter unter:<br />

www.fabry-shg.org


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

19<br />

Wenn die Diagnose 18 Jahre dauert<br />

Ein Gespräch mit Conny Rudolph, Morbus-Fabry-Patientin, über die jahrelange Odyssee<br />

bis zur Diagnose ihrer seltenen Erkrankung und ein neues Leben mit der Therapie.<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Sie sind Morbus-Fabry-Patientin und haben einen langen Weg<br />

gehen müssen, bis Sie die Diagnose erhalten haben. Wann sind<br />

die ersten Beschwerden aufgetreten und wann wurde letztlich die<br />

Diagnose gestellt?<br />

Ich habe die Krankheit wohl seit meiner Kindheit. Die Diagnose habe<br />

ich allerdings erst im Dezember 2017 erhalten. Als Kind litt ich unter<br />

Schmerzen, bei Hitze konnte ich nicht am Sport teilnehmen. Ärzte und<br />

Eltern haben es auf das Wachstum geschoben. Mit Anfang 20 kamen Migräne<br />

und Schmerzkrisen an Händen und Füßen hinzu. 2003 hatte ich<br />

einen Schlaganfall, der zu spät erkannt wurde. Man diagnostizierte eine<br />

psychogene Lähmung, mit der aber niemand etwas anfangen konnte.<br />

Dann wurden die Schmerzen immer schlimmer. Schmerzmittel halfen<br />

nicht.<br />

Die Odyssee ging weiter: Man diagnostizierte eine Ablösung der Netzhaut<br />

an meinem Auge, korrigierte den Befund aber wieder. 2015 war der<br />

berufliche und private Stress so groß, dass ich wegen meiner Depression<br />

mit Medikamenten behandelt wurde. Allerdings merkte ich, dass die<br />

Antidepressiva meine Schmerzen minderten. An dieser Stelle wurde<br />

meine Neurologin hellhörig. Daraufhin diagnostizierten Ärzte jedoch<br />

bei den folgenden Untersuchungen fälschlicherweise erst MS und dann<br />

vaskuläre Demenz. Meine Erkrankung war für keinen Arzt greifbar.<br />

Irgendwann entschied sich meine Neurologin für eine Genomuntersuchung.<br />

Eines Tages, an einem Donnerstagnachmittag rief sie mich an<br />

und fragte, ob ich sitze. Sie teilte mir nach 18 Jahren meine Diagnose<br />

mit. Ich habe Morbus Fabry.<br />

Wie ging es nach der Diagnose weiter und wo haben Sie Hilfe<br />

gefunden?<br />

Leider hörte die Odyssee nicht auf: Ich musste ein halbes Jahr auf einen<br />

Termin in einem medizinischen Zentrum warten. Dort teilten die Ärzte<br />

mir mit, dass mein Morbus Fabry angeblich nicht krankheitsrelevant<br />

sei. Das war für mich völlig absurd, denn meine sehr zahlreichen Symptome<br />

waren ja offensichtlich. Bei einem MRT hatte sich inzwischen<br />

herausgestellt, dass ich wohl in der Vergangenheit mehrere Schlaganfälle<br />

und damit Zellschädigungen im Gehirn gehabt hatte, ohne dies zu<br />

bemerken. Dennoch gab man mir keine Behandlung. An diesem Punkt<br />

war ich komplett verzweifelt.<br />

Ich wollte nichts mehr mit Ärzten zu tun haben. Hinzu kam die für mich<br />

anstrengende Anfahrt und Wartezeit vor Ort. 2019 schlug mir meine<br />

Neurologin einen zweiten Versuch in einem Zentrum in Dresden vor.<br />

Anfang 2020 untersuchte man dort gefühlt jede meiner Zellen. Die Ärzte<br />

nahmen auch meine Hautauffälligkeiten ernst, genauso wie meine<br />

inzwischen verdickte Herzwand. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte<br />

jedoch meine Infusionstherapie nicht starten. Im Juli 2020 wurde ich<br />

dann endlich behandelt, sechsmal in der Klinik alle 14 Tage. Seit Oktober<br />

2020 therapieren mich Krankenschwestern bei mir zu Hause. Das<br />

lässt sich natürlich leichter in meinen Alltag integrieren. Diese Therapie<br />

mit Medikamenten erhalte ich nun ein Leben lang.<br />

Wie sieht Ihr Leben nun aus und welche Rolle spielt Ihre<br />

Erkrankung im Alltag?<br />

Ich bin äußerst zufrieden. Der Umgang mit meinen Schmerzen ist um<br />

Welten besser. Seit vielen Jahren kann ich endlich richtig schlafen. Das<br />

bisherige Schlafdefizit hatte Unausgeglichenheit, Unkonzentriertheit<br />

und Vergesslichkeit zur Folge. Jeder Stress im Beruf war vorher ein weiterer<br />

Trigger für Schmerzen. Jetzt kann ich auch bei meiner Tätigkeit<br />

als Sachbearbeiterin mehr Ruhe ausstrahlen.<br />

Was würden Sie anderen Betroffenen gern mit auf den Weg geben?<br />

Typische Tipps wie Arztwechsel oder mehr Informationen waren<br />

in Ihrem Fall ja nicht hilfreich.<br />

Man sollte sich unbedingt einen Anker suchen, der einen aufrichtet.<br />

Man muss sich trauen, den Arzt zu wechseln, wenn der einen nicht<br />

versteht. Es ist heute natürlich schwer, weil Ärzte terminlich überlastet<br />

sind. Auch bei undefinierten Symptomen sollte man nicht die Hoffnung<br />

aufgeben. Zentren für seltene <strong>Erkrankungen</strong> sind sehr interessiert und<br />

hilfreich. Leider sind sie vor allem in großen Städten zu finden. Es lohnt<br />

sich dennoch, einen langen Anfahrweg für den richtigen Ansprechpartner<br />

in Kauf zu nehmen.<br />

Conny<br />

Rudolph<br />

Morbus-<br />

Fabry-<br />

Patientin<br />

ANZEIGE<br />

Morbus Fabry in der Familie?<br />

Informationen für Betroffene und deren Angehörige<br />

NP/GAL/001/190/DE02-22<br />

Morbus Fabry ist eine genetische Erkrankung,<br />

die über mehrere Generationen<br />

einer Familie vererbt werden<br />

kann. Das heißt: Wenn eine Person in<br />

einer Familie die Diagnose Morbus<br />

Fabry hat, können andere Familienangehörige<br />

ebenfalls betroffen sein. [1]<br />

Eine ausführliche Analyse des Familienstammbaums<br />

ist daher sehr wichtig<br />

für Betroffene und deren Angehörige.<br />

Ich bin betroffen – Was nun?<br />

Ist die Diagnose Morbus Fabry gestellt,<br />

dann ist es für Betroffene wichtig zu<br />

wissen, was die eigene Diagnose für<br />

Familienangehörige bedeuten kann<br />

und wer aufgrund des Vererbungsmusters<br />

ein erhöhtes Risiko für Morbus<br />

Fabry hat. Hier kommt die neue<br />

Website www.fabryfamilytree.de<br />

ins Spiel, die Betroffenen umfassende<br />

Informationen und Hilfestellungen<br />

an die Hand geben möchte. Dazu gehören<br />

grundlegenden Informationen,<br />

wie die Erkrankung vererbt wird und<br />

wer in der Familie ein erhöhtes Risiko<br />

hat. Über ein Online Stammbaumtool<br />

kann man zusammen mit seinem behandelnden<br />

Arzt seinen individuellen<br />

Fabry-Stammbaum erstellen und für<br />

die persönliche Nutzung herunterladen,<br />

um Angehörige mit erhöhtem<br />

Fabry-Risiko gezielt informieren zu<br />

können. Die Daten werden streng vertraulich<br />

behandelt. Die Website gibt<br />

professionelle Hilfestellung, wie man<br />

Angehörige mit erhöhtem Risiko dann<br />

darauf ansprechen und sie aufklären<br />

kann. Dazu gehört auch eine Briefvorlage,<br />

die man nutzen kann, wenn eine<br />

direkte Ansprache sich schwierig gestalten<br />

sollte.<br />

Informationen für Familienangehörige<br />

mit erhöhtem Fabry Risiko<br />

Auf der Website gibt es aber auch für<br />

Angehörige von Morbus Fabry-Patienten<br />

detaillierte Informationen, die<br />

dabei helfen sollen, die Erkrankung<br />

zu verstehen und warum sie selbst ein<br />

erhöhtes Risiko haben. Dabei ist eines<br />

sehr wichtig: ein erhöhtes Risiko bedeutet<br />

nicht zwangsläufig, dass man<br />

tatsächlich auch betroffen ist. Daher<br />

sollten Angehörige, die laut Stammbaum<br />

ein erhöhtes Risiko haben, unbedingt<br />

einen Arzt ansprechen und<br />

eine genetische Analyse durchführen<br />

lassen. Das kann der eigene Hausarzt<br />

oder aber der Fabry-Spezialist des<br />

betroffenen Angehörigen sein.<br />

Informationen für das Fachpersonal<br />

Aber auch medizinisches Fachpersonal<br />

findet auf der Website Materialien<br />

und Hilfestellungen, wenn es darum<br />

geht, Fabry-Patienten oder deren Angehörige<br />

zu beraten und aufzuklären.<br />

Dazu gehört ebenfalls die Nutzung<br />

des Online Stammbaum-Tools in Zusammenarbeit<br />

mit dem Patienten, sowie<br />

weitere Broschüren, die beim Familienscreening<br />

unterstützen sollen.<br />

Informieren Sie sich unter<br />

www.fabryfamilytree.de<br />

[1] GERMAIN DP. ORPHANET J RARE DIS. 2010; 5:30


20 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

FOTO: SHUTTERSTOCK<br />

Nicht-dystrophe Myotonien –<br />

Wenn Muskelentspannung<br />

ein Problem ist<br />

Die Nicht-dystrophen Myotonien (NDM) sind seltene <strong>Erkrankungen</strong>. Von der<br />

Erbkrankheit Betroffene, in Deutschland sind rund 2.000 Fälle diagnostiziert, können<br />

ihre Muskeln nicht sofort wieder entspannen, wenn sie sie zum Bewegen angespannt<br />

hatten. Vielmehr blockiert die Muskulatur – je nach Ausprägung der NDM mal mehr,<br />

mal weniger stark, sodass die Beweglichkeit und damit auch die Lebensqualität leidet.<br />

Dr. Rudolf Andre Kley hat sich unter anderem auf neuromuskuläre <strong>Erkrankungen</strong><br />

wie NDM spezialisiert. Im Interview erklärt er die Krankheitsursache, ihren typischen<br />

Verlauf und bewährte Therapien.<br />

Text Doreen Brumme<br />

Dr. Rudolf<br />

Andre Kley<br />

Chefarzt der Klinik<br />

für Neurologie und<br />

Klinische Neurophysiologie<br />

mit<br />

Stroke Unit am St.<br />

Marien-Hospital<br />

Borken<br />

Dr. Kley, Sie behandeln unter anderem<br />

NDM-Patient*innen. Was ist<br />

die Herausforderung für Ärzt*innen<br />

beim Diagnostizieren von NDM-<strong>Erkrankungen</strong>?<br />

Das ist ganz klar ihre Seltenheit. Die<br />

meisten Ärzt*innen haben noch nie<br />

eine Patientin oder einen Patienten<br />

mit NDM gesehen und wissen leider<br />

noch zu wenig darüber, sodass sich<br />

die Diagnosestellung verzögern kann.<br />

Zudem gibt es hinsichtlich der Beschwerden<br />

Überschneidungen mit<br />

anderen, viel häufiger vorkommenden<br />

<strong>Erkrankungen</strong>. Die Herausforderung<br />

ist also, trotzdem daran zu denken.<br />

Besteht erst einmal ein Verdacht auf<br />

NDM, lässt sich dieser meist schnell<br />

und sicher bestätigen oder widerlegen.<br />

Zum Beispiel mit klinischen Tests,<br />

mit der Elektromyografie (EMG) oder<br />

mit genetischen Untersuchungen. Am<br />

einfachsten ist es, die Patient*innen<br />

hierfür an einem Neuromuskulären<br />

Zentrum vorzustellen.<br />

Mit welchen Beschwerden kommen<br />

NDM-Patient*innen zu Ihnen?<br />

Die meisten klagen über eine muskuläre<br />

Steifigkeit, die sie im Alltag beeinträchtigt.<br />

Sie können zum Beispiel<br />

bei einem Händedruck eine Hand und<br />

beim Türöffnen die Klinke nicht sofort<br />

wieder loslassen oder erklimmen die<br />

Stufen einer Leiter nur verzögert. Häufig<br />

wird die Muskelsteifigkeit<br />

durch Kälte deutlich verschlimmert<br />

und geht mit Schmerzen einher.<br />

Manchmal kommt es auch zu einer<br />

zeitweisen (bis zu mehreren Stunden<br />

andauernden) Muskelschwäche.<br />

Mitunter leiden die Betroffenen zudem<br />

an einem Erschöpfungssyndrom,<br />

dieses steht jedoch ebenso wie die<br />

Schmerzen nur selten im Vordergrund.<br />

Erste Beschwerden setzen in der Regel<br />

schon in der Kindheit ein. Sie fallen<br />

zum Beispiel beim Schulsport auf, wo<br />

Betroffene, die Eltern oder Lehrkräfte<br />

erkennen, dass Bewegungen nicht so<br />

klappen, wie sie sollten.<br />

Was passiert im Körper Betroffener,<br />

wie wirkt die Erkrankung dort<br />

konkret?<br />

Bei Betroffenen sind spannungsabhängige<br />

Ionenkanäle in den Zellmembranen<br />

der Skelettmuskulatur mutiert,<br />

sodass es zu Fehlfunktionen oder<br />

gar einem Funktionsausfall kommt.<br />

Infolgedessen kommt es zu Erregungsstörungen<br />

der Muskeln. Man<br />

unterscheidet dabei <strong>Erkrankungen</strong><br />

mit Störung eines Chloridkanals, die<br />

häufiger bei Männern als bei Frauen<br />

zu Symptomen führen, von den seltener<br />

vorkommenden Störungen eines<br />

Natriumkanals.<br />

Wie behandeln Sie NDM?<br />

Es gibt ein zugelassenes Medikament<br />

in Tablettenform, das sich zur symptomatischen<br />

Behandlung von NDM gut<br />

bewährt hat. Es bringt den Patient*innen<br />

zumeist eine schnell spürbare<br />

Linderung ihrer Beschwerden. Manche<br />

merken erst unter der Therapie, wie<br />

eingeschränkt sie vorher durch die Muskelsteifigkeit<br />

waren. Auch der Begriff<br />

Jungbrunnen fiel schon mal im Hinblick<br />

auf die medikamentöse Behandlung.<br />

Welche begleitenden Maßnahmen<br />

können Betroffenen zusätzlich zur<br />

medikamentösen Therapie helfen?<br />

Die Patient*innen sollten nach Möglichkeit<br />

plötzliche starke Muskelanspannungen<br />

vermeiden. In leichter<br />

Bewegung zu bleiben, kann hingegen<br />

helfen. Denn viele Patient*innen kennen<br />

den Warm-up-Effekt: Die Muskeln<br />

zeigen sich weniger steif, wenn sie in<br />

Bewegung und damit „warm“ bleiben.<br />

Bei Patient*innen mit einer kaliumsensitiven<br />

Myotonie (PAM) erweist sich<br />

auch eine kaliumarme Ernährungsweise<br />

mitunter als hilfreich.<br />

Wichtig: Stark ausgeprägte NDM können<br />

psychisch belasten, insbesondere dann,<br />

wenn die gestörte Mobilität den Alltag<br />

funktional oder sozial beeinträchtigt. In<br />

diesem Fall sollten sich die Betroffenen<br />

bei Therapeut*innen Hilfe holen.


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

21<br />

„Ich versuche,<br />

so normal wie<br />

möglich zu leben“<br />

FOTO: PFRIVAT<br />

Bei den nicht-dystrophen Myotonien handelt<br />

es sich um seltene, genetisch bedingte<br />

<strong>Erkrankungen</strong> mit Funktionsbeeinträchtigungen<br />

von muskulären Ionenkanälen.<br />

Das charakteristische Symptom ist die<br />

Muskelsteifheit, verursacht durch eine<br />

Störung der Muskelrelaxation, was die<br />

Lebensqualität der Betroffenen negativ<br />

beeinflussen kann. Im Interview spricht<br />

NDM-Patientin Lilly Stenkamp über ihr<br />

Leben mit der Erkrankung.<br />

Lilly Stenkamp versucht,<br />

ihren Alltag so<br />

normal wie möglich<br />

zu gestalten.<br />

Frau Stenkamp, Sie sind von einer nicht-dystrophen<br />

Myotonie betroffen. Wann traten bei Ihnen<br />

erste Beschwerden auf und wie sahen diese aus?<br />

Von Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass es<br />

schon Auffälligkeiten gab, als ich noch ein kleines<br />

Kind war. Ich bin öfters beim Laufen oder Rollerfahren<br />

gestürzt. Anfangs wurde vermutet, dass ein<br />

Bein kürzer sei als das andere. Doch die Beschwerden<br />

begleiteten mich weiterhin. In der weiterführenden<br />

Schule bin ich zum Beispiel im Sportunterricht einfach<br />

hingefallen – mein Bein ließ sich nicht so schnell<br />

nachziehen, um den nächsten Schritt zu machen. Dass<br />

es sich dabei um eine Muskelsteifheit handelt, verursacht<br />

durch eine Störung der Muskelrelaxation, wusste<br />

damals niemand.<br />

Wie lange hat es vom Auftreten der ersten Symptome<br />

bis zur Diagnose gedauert und wer hat letztendlich<br />

die Diagnose gestellt?<br />

Da die Muskelerkrankung vererbt wird, habe ich sie<br />

seit dem Kindesalter. Nur damals wusste das eben niemand.<br />

Ende 2018 war ich wegen meiner Migräne bei<br />

einem Neurologen in Behandlung. Nebenbei habe ich<br />

ihm das mit den Verkrampfungen erzählt. Er hat mich<br />

aufgeklärt, was es sein könnte, und hat anschließend<br />

eine Untersuchung durchgeführt. Diese war positiv<br />

und ich wurde in die Neurologie ins Krankenhaus zu<br />

Prof. Dr. Kley geschickt. Seitdem bin ich bei ihm in<br />

Behandlung. Im Oktober 2019 hatten wir den genauen<br />

Befund und wussten auch, welches Gen betroffen ist.<br />

Wie sieht Ihr Alltag mit der Erkrankung aus?<br />

Eigentlich habe ich einen normalen Alltag. Kritisch<br />

wird es, wenn mir kalt ist oder ich Stress habe. Beanspruche<br />

ich meine Muskeln durch schwere Arbeit<br />

oder Sport, dann merke ich, wie ich bei jeder nachfolgenden<br />

Bewegung verkrampfe. Ich bin dann schon<br />

sehr eingeschränkt, meine Bewegungen werden sehr<br />

langsam. Die Anspannung eines Muskels klappt dann<br />

zwar problemlos, die Entspannung jedoch nicht. Um<br />

meine Faust zu öffnen, brauche ich einige Sekunden<br />

länger – auch wenn ich dagegen ankämpfe. Zwei<br />

Faktoren, die mich bei meinen Bewegungen stark einschränken,<br />

sind Kälte und Adrenalin. Es lässt sich aber<br />

natürlich nicht immer vermeiden, in solche Situationen<br />

zu kommen.<br />

Wie wird Ihre Erkrankung behandelt?<br />

Ich habe ein Medikament bekommen, das sich positiv<br />

auf NDM-Patienten ausgewirkt hat. Andere Behandlungsmethoden<br />

gibt es zu dieser Krankheit nicht. Man<br />

lebt einfach damit, lernt, sich selbst einzuschätzen,<br />

und versucht, Dinge zu vermeiden, die sich negativ auf<br />

die Muskeln auswirken.<br />

Welche zusätzlichen Maßnahmen oder Hilfsmittel<br />

helfen Ihnen dabei, die NDM in Schach zu halten?<br />

Ich versuche, Kälte zu meiden, heize meine Wohnung<br />

im Winter stark auf und ziehe mich warm an. Auch<br />

versuche ich, Stress zu umgehen, was nicht immer<br />

leicht ist. Mein emotionaler Zustand wirkt sich ebenfalls<br />

auf die Muskeln aus. Manchmal reicht schon ein<br />

Gedanke, der mir Angst macht, und schon merke ich,<br />

dass ich verkrampfter in den Muskeln geworden bin.<br />

Zudem versuche ich, schwere körperliche Arbeit zu<br />

meiden, und gehe Dinge langsamer an, um eine Verkrampfung<br />

des beanspruchten Muskels zu vermeiden.<br />

Text Paul Howe<br />

ANZEIGE<br />

Anzeige Hormosan 248x123 RZ Pfade.indd 1 29.11.2021 13:59:56


22 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

„Ein unbehandeltes Cushing-<br />

Syndrom verläuft sehr häufig tödlich“<br />

Das Cushing-Syndrom gehört zu den seltenen endokrinologischen <strong>Erkrankungen</strong> und wird im Schnitt erst drei<br />

Jahre nach Auftreten der ersten Symptome diagnostiziert. Das Warten auf die richtige Diagnose, verbunden<br />

mit den durch die Erkrankung ausgelösten Beschwerden, kann eine große Belastung für Betroffene sein. Wir<br />

sprachen mit Dr. med. Leah Braun, die unter anderem Cushing-Patient*innen behandelt.<br />

Text Franziska Manske<br />

Dr. med.<br />

Leah Braun<br />

Assistenzärztin<br />

der Medizinischen<br />

Klinik und Poliklinik<br />

IV am Universitätsklinikum<br />

München<br />

Frau Dr. Braun, was sind die Schwierigkeiten<br />

bei der Diagnosefindung und wo<br />

liegen die Verwechslungsgefahren mit<br />

anderen <strong>Erkrankungen</strong>?<br />

Es gibt verschiedene Schwierigkeiten bei der<br />

Diagnosestellung. Einerseits ist die Erkrankung<br />

so ungewöhnlich, dass selten an ihr<br />

Vorliegen gedacht wird. Im Schnitt werden<br />

in Deutschland nur ungefähr 100 Patienten<br />

pro Jahr neu diagnostiziert. Zudem beginnt<br />

die Erkrankung oft schleichend mit wenigen<br />

Symptomen und das typische klinische Vollbild<br />

der Erkrankung entwickelt sich häufig<br />

erst sehr spät im Krankheitsverlauf. Sehr<br />

viele Symptome überschneiden sich mit anderen<br />

<strong>Erkrankungen</strong> wie dem metabolischen<br />

Syndrom, einer Depression oder einem polyzystischen<br />

Ovar-Syndrom. Dadurch kommt<br />

es leicht zu Fehldiagnosen oder verspäteten<br />

Diagnosen. Auch die Labordiagnostik ist<br />

herausfordernd, da die Erkrankung durch<br />

erhöhte Cortisolwerte definiert ist. Nun gibt<br />

es aber auch viele andere <strong>Erkrankungen</strong> oder<br />

Situationen, die zu hohen Cortisolwerten<br />

führen können. Daher sollten Patienten zur<br />

Abklärung hoher Cortisolwerte in ein hierauf<br />

spezialisiertes Zentrum gehen.<br />

Welche Symptome belasten Betroffene<br />

bis zur Diagnose und dem Start der Therapie<br />

am meisten?<br />

Dies kann ganz unterschiedlich sein. Belastend<br />

sind natürlich einerseits die vielen körperlichen<br />

Stigmata, die mit der Erkrankung<br />

einhergehen können. Dazu zählen beispielsweise<br />

eine Gewichtszunahme im Bereich des<br />

Bauches, Akne, verstärktes Haarwachstum<br />

an ungewöhnlichen Stellen – der sogenannte<br />

Hirsutismus –, Hämatome, eine Rötung des<br />

Gesichts, was als Plethora bezeichnet wird,<br />

und die klassischen lividen Striae, welche<br />

an Bauch und Beinen auftreten. Daneben<br />

entwickeln viele Patienten aber auch eine<br />

Myopathie, also eine Muskelschwäche,<br />

die Betroffene im Alltag einschränkt, oder<br />

eine Osteoporose, die zu schmerzhaften<br />

Wirbelkörperfrakturen führen kann. Die<br />

allermeisten Patienten leiden zudem unter<br />

Depressionen und Schlafstörungen, aber<br />

auch Angststörungen und eine verminderte<br />

kognitive Leistungsfähigkeit treten vermehrt<br />

auf. Neben all diesen sowieso schon belastenden<br />

Symptomen führt der häufig lange<br />

Krankheitsweg – im Schnitt konsultieren die<br />

Patienten mehr als vier Ärzte, bevor die Diagnose<br />

gestellt wird – zu einer zusätzlichen<br />

Belastung.<br />

Das Cushing-Syndrom ist glücklicherweise<br />

gut behandelbar. Wie können sich die<br />

verfügbaren Therapien positiv auf das<br />

Leben Betroffener auswirken?<br />

Ein unbehandeltes Cushing-Syndrom<br />

verläuft sehr häufig tödlich, Patienten mit<br />

unbehandeltem Cushing-Syndrom versterben<br />

meist an kardiovaskulären Ereignissen<br />

wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten oder<br />

an Infektionen. Die Langzeitprognose der<br />

Patienten bessert sich durch eine effektive<br />

Therapie enorm. Deshalb ist eine rasche<br />

und effektive Behandlung essenziell. Es gibt<br />

verschiedene Unterformen des Cushing-Syndroms,<br />

aber alle werden in erster Linie operativ<br />

behandelt. Nach der Operation kommt<br />

es häufig zu einem schnellen Gewichtsverlust<br />

und zu einer raschen Besserung von<br />

metabolischen Komplikationen. Dies bedeutet,<br />

wenn die Patienten unter einem Bluthochdruck<br />

oder einem Diabetes leiden, dann<br />

bessern sich beide Krankheitsbilder häufig<br />

sehr schnell. Viele Patienten benötigen nach<br />

einer Therapie zum Beispiel deutlich weniger<br />

Blutdruckmedikamente.<br />

Gibt es auch belastende Aspekte der<br />

Therapie?<br />

Ja, denn bei der häufigsten Form des Cushing-Syndroms,<br />

dem sogenannten Morbus<br />

Cushing, wird eine Operation an der Hypophyse<br />

(Hirnanhangsdrüse) durchgeführt. Die<br />

Hypophyse produziert zahlreiche Hormone,<br />

die für das tägliche Leben wichtig sind.<br />

Durch die Operation kann es zu Schäden an<br />

der Hypophyse kommen. Falls eine Operation<br />

nicht möglich ist oder nicht erfolgreich war, kann<br />

das Cushing-Syndrom auch medikamentös<br />

behandelt werden. Die verschiedenen<br />

Medikamente führen zu einer Senkung des<br />

Cortisolspiegels, wodurch sich die körperlichen<br />

Begleiterscheinungen bessern. Natürlich<br />

haben diese Medikamente aber auch Nebenwirkungen.<br />

Diese unterscheiden sich von<br />

Präparat zu Präparat. Einige Nebenwirkungen<br />

vergehen nach einer Gewöhnungsphase,<br />

während andere persistieren können. Für<br />

einige Patienten, welche einen Morbus Cushing<br />

haben, kann auch eine Strahlentherapie<br />

infrage kommen. Hierbei ist allerdings zu<br />

beachten, dass der Effekt der Strahlentherapie<br />

oft erst ein bis zwei Jahre nach Behandlung<br />

eintritt. Diese Wartezeit kann belastend<br />

sein. In der Regel wird die Strahlentherapie<br />

daher nur in Kombination mit einer medikamentösen<br />

Therapie durchgeführt.<br />

Wenn die Diagnose gestellt ist, kann<br />

schnell mit einer Behandlung begonnen<br />

werden, um Betroffene in Remission zu<br />

führen. Gibt es auch in dieser Remissionsphase<br />

belastende Aspekte?<br />

Auch hier gibt es viele belastende Aspekte,<br />

die häufig aber wenig im Fokus stehen.<br />

Das eigentliche Problem der Therapie ist<br />

der sogenannte Glukokortikoidentzug:<br />

Das Cushing-Syndrom führt ja, wie gesagt,<br />

zu sehr hohen Cortisolwerten. Nach der<br />

Therapie leiden die Patienten unter dem<br />

Gegenteil, einem Cortisolmangel. Dies<br />

bezeichnet man als Nebenniereninsuffizienz.<br />

Dieser rasche Wechsel von erst sehr<br />

hohen Cortisolwerten zu sehr niedrigen<br />

Cortisolwerten kann mit einer Reihe von<br />

Patienten mit unbehandeltem Cushing-Syndrom<br />

versterben meist an kardiovaskulären Ereignissen<br />

wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten oder an<br />

Infektionen. Die Langzeitprognose der Patienten<br />

bessert sich durch eine effektive Therapie enorm.<br />

Problemen einhergehen: vermehrtem<br />

Schlafbedürfnis, Gelenk- und Muskelschmerzen<br />

und einer depressiven Stimmungslage.<br />

Häufig geht es den Patienten<br />

also in den ersten Monaten nach der Operation<br />

erst mal subjektiv schlechter, bevor sie<br />

sich langsam erholen. Dies ist insofern problematisch,<br />

als das Glukokortikoidentzugssyndrom<br />

nicht sehr bekannt ist und Patienten<br />

daher häufig nicht darauf vorbereitet<br />

werden. Viele Betroffene profitieren von<br />

Schulungsprogrammen zum Umgang mit<br />

der Nebenniereninsuffizienz, von einer<br />

engmaschigen Betreuung, gegebenenfalls<br />

auch von einer Rehabilitation und leichtem<br />

körperlichem Training.<br />

Zudem gibt es bei einigen Formen des<br />

Cushing-Syndroms ein Rückfallrisiko. Alle<br />

Patienten mit Cushing-Syndrom sollten daher<br />

lebenslang in ein Nachsorgeprogramm<br />

aufgenommen werden und einmal jährlich<br />

untersucht werden. Hierbei werden dann<br />

regelmäßig die Cortisolwerte gemessen,<br />

um einen Rückfall, ein Rezidiv, frühzeitig<br />

zu diagnostizieren.


Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />

23<br />

„Wenn Sie Cushing hätten, würden<br />

Sie auch wie ein Cushing aussehen!“<br />

Lars Rößler war vom Cushing-Syndrom betroffen und musste einige Hürden nehmen, bevor er<br />

die richtige Diagnose erhalten hat. Warum seine Erkrankung ihn trotz der notwendigen OP ein<br />

Leben lang begleiten wird, erzählt er uns im Interview.<br />

Lars Rößler<br />

Cushing-Patient<br />

Text Hanna Sinnecker<br />

Aspekte – sie war von vorne bis hinten ein Horror!<br />

Der Schock, knapp an einer Querschnittslähmung<br />

vorbeigeschrammt zu sein und gleichzeitig zu erfahren, dass<br />

man möglicherweise eine schwere Krankheit hatte, von der<br />

man nichts ahnte, war erheblich.<br />

Herr Rößler, Sie waren betroffen vom Cushing-Syndrom.<br />

Wie lange hat es bei Ihnen vom<br />

ersten Auftreten der Beschwerden bis zur Diagnose<br />

gedauert? Gab es Fehldiagnosen und, wenn ja,<br />

welche?<br />

Ab einem Alter von ziemlich genau 40 Jahren zeigten<br />

sich bei mir einige Auffälligkeiten, die ich allenfalls<br />

registrierte, ohne mir große Sorgen zu machen:<br />

leichter Muskelschwund, Neigung zu Blutergüssen,<br />

Atemaussetzer im Schlaf, später dann Bluthochdruck<br />

und eine erhöhte Infektanfälligkeit. Äußerliche<br />

Veränderungen vor allem im Gesicht fielen mir selbst<br />

und anderen erst sehr viel später beim Betrachten<br />

alter Fotos auf. Manches sprach ich durchaus auch<br />

mal bei meinem Hausarzt an, der dazu nachsichtig<br />

lächelnd meinte: „Ja, ja, wir werden alle älter …“ Der<br />

Ernst der Lage wurde mir und allen anderen schlagartig<br />

und recht dramatisch bewusst, als mir mit 47<br />

infolge eines Hebetraumas ein Lendenwirbel brach<br />

und in der Klinik Osteoporose diagnostiziert wurde.<br />

Bei der Ursachensuche konnte auch der Endokrinologe<br />

nicht gleich eine mögliche Primärerkrankung<br />

feststellen, allerdings machte ich selbst mich gleich<br />

mit den erhaltenen Blutwerten an die Internetrecherche.<br />

Obwohl längst nicht alle Symptome bei mir<br />

zutrafen, hatte ich gleich ein mulmiges Gefühl, als ich<br />

auf eine mir bis dahin unbekannte Erkrankung namens<br />

Morbus Cushing stieß. Als ich meinen Hausarzt<br />

darauf ansprach, schien dieser amüsiert und meinte:<br />

„Wenn Sie Cushing hätten, würden Sie auch wie ein<br />

Cushing aussehen.“ In der Tat konnte von der meist<br />

zu beobachtenden Stammfettsucht keine Rede sein,<br />

trotzdem wiesen weitere Tests des Endokrinologen<br />

darauf hin. Eine erste Bildgebung des Kopfes war zwar<br />

unauffällig, sodass die Diagnosefindung erst einmal<br />

weiterging, aber ein zweites MRT machte dann doch ein<br />

vier Millimeter großes Hypophysenadenom sichtbar.<br />

Was war für Sie auf dem Weg zur Diagnose am<br />

belastendsten?<br />

Der Schock, knapp an einer Querschnittslähmung<br />

vorbeigeschrammt zu sein und gleichzeitig zu erfahren,<br />

dass man möglicherweise eine schwere Krankheit<br />

hatte, von der man nichts ahnte, war erheblich.<br />

In den Wochen danach rauchte mir zeitweise der Kopf<br />

vor lauter Recherchen und Grübeleien. Und dann zog<br />

sich die Diagnose nach dem Bruch ja über zehn Monate<br />

hin, bis wir Klarheit hatten. In dieser Zeit standen<br />

durchaus auch mal andere Möglichkeiten im Raum.<br />

So wurde mir recht mulmig, als ich in meinem Laborblatt<br />

sah, dass auch Tumormarker getestet wurden.<br />

Was hat sich nach Diagnosestellung und Therapiebeginn<br />

verbessert? Gab es auch belastende<br />

Aspekte der Therapie für Sie?<br />

Auf der einen Seite war ich froh, nun endlich Klarheit<br />

zu haben. Jedoch besteht die Therapie bei dieser Art<br />

Erkrankung ja nun mal aus einer nicht ungefährlichen<br />

Operation im Kopf. Leider war ich schlecht beraten,<br />

was die Wahl der Neurochirurgie betraf. Und auf den<br />

OP-Termin musste ich infolge dauernder Verschiebungen<br />

nochmals ein halbes Jahr warten. Da war ich<br />

dann mit den Nerven am Ende und wollte nur noch,<br />

dass das Ding endlich rauskam. Leider gab es gleich<br />

mehrere erhebliche Komplikationen in den Tagen<br />

und Wochen nach der OP. Fehler bei der Nachsorge<br />

bescherten mir eine schwere Nebennierenkrise, vor<br />

allem aber kam ich wenige Tage nach Entlassung mit<br />

einer schweren Meningitis in die Klinik zurück. Insofern<br />

hatte die Therapie für mich nicht nur belastende<br />

Sie befinden sich in Remission, d.h. die Symptome<br />

der Erkrankung sind abgeschwächt bzw.<br />

zurückgedrängt. Gibt es für Sie auch in Remission<br />

belastende Aspekte, oder überwiegen die<br />

positiven Faktoren?<br />

In den Veröffentlichungen, die es zu dieser Krankheit<br />

gibt, wie auch in den Erläuterungen der meisten<br />

Ärzte wird oft der Eindruck erweckt, mit der Operation<br />

sei nach jahrelangem Leiden dann alles gut.<br />

In meinem Fall waren die Symptome ja nicht sehr<br />

belastend, deswegen habe ich den Einschnitt infolge<br />

des Bruchs und dann infolge der Operation natürlich<br />

als regelrechten Absturz erlebt. Zwar hatte die OP<br />

den erwünschten Erfolg: Mein Blutdruck war sofort<br />

danach optimal, die Knochendichte verbesserte sich<br />

allmählich, Atemaussetzer im Schlaf gab es auch<br />

keine mehr. Aber alleine die hormonelle Umstellung<br />

war eine Tortur – acht Monate höllische Gelenkschmerzen,<br />

morgendliche Übelkeit, anfallartige<br />

Schwächezustände, um nur einige Beispiele<br />

zu nennen. Und da meine Nebennieren, die viele<br />

Jahre viel zu viel Cortisol produziert haben, nach der<br />

Operation zwei Jahre so gut wie gar nicht und heute,<br />

nach fünfeinhalb Jahren, nur unzureichend arbeiten,<br />

muss ich weiterhin Hydrocortison einnehmen,<br />

mein Stresslevel im Auge behalten und bin<br />

insgesamt sehr viel weniger belastbar geworden. Die<br />

Macht der Hormone habe ich in den letzten Jahren<br />

jedenfalls zur Genüge kennengelernt – so haben<br />

auch meine kognitiven Fähigkeiten (z.B. Kurzzeitgedächtnis<br />

und Multitasking) deutlich nachgelassen.<br />

Zur Operation gab es trotzdem keine Alternative, nur<br />

wüsste ich heute besser als damals, wohin ich mich<br />

wenden müsste.<br />

ANZEIGE<br />

0-22-02-1 Stand Feb. 2022

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!