Leseprobe_Franke_Die kataleptische Starre
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Am unteren Rand des Bildes war ein in krakeliger<br />
Schrift verewigtes Gedicht zu lesen. Er kannte die<br />
erste Strophe auswendig.<br />
Spät im Jahre, tief im Schweigen<br />
dem, der ganz sich selbst gehört,<br />
werden Blicke niedersteigen,<br />
neue Blicke, unzerstört.<br />
Er wusste nicht, was seiner Mutter in ihrer Jugend widerfahren<br />
war, ob sie geschlagen, gedemütigt oder geliebt<br />
worden war, darüber hatten sich die Großeltern<br />
immer ausgeschwiegen. Aber eines wusste er nur zu<br />
gut: dass sie es irgendwann in dieser Scheißwelt nicht<br />
mehr ausgehalten und den einzigen Ausweg genommen<br />
hatte, der ihr sinnvoll erschienen war.<br />
Lange sah er das Porträt seiner Mutter an, und er<br />
spürte, wie sich auf einmal ein unglaublicher Zorn in<br />
ihm ausbreitete. Dass das Leben nicht mehr für seine<br />
Mutter zu bieten gehabt hatte, machte ihn rasend.<br />
Plötzlich Stille! Völlig unerwartet und abrupt<br />
endete die Musik. Es folgte eine unerträglich lange<br />
Pause, eine gefühlte Ewigkeit hörte man absolut<br />
nichts. Dann meldete sich der Moderator zu Wort.<br />
Es tue ihm leid, aber der Computer habe das Stück<br />
irrtümlich aus unerfindlichen Gründen unterbrochen.<br />
Und er selbst sei von der Schönheit der Komposition<br />
so überwältigt gewesen, dass er völlig in<br />
Gedanken versunken auf die weitere Moderation<br />
vergessen habe.<br />
Er lachte laut auf. <strong>Die</strong> Offenheit des Sprechers<br />
amüsierte ihn.<br />
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