24.02.2022 Aufrufe

Leseprobe_Franke_Die kataleptische Starre

  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Stefan <strong>Franke</strong><br />

<strong>Die</strong><br />

<strong>kataleptische</strong><br />

<strong>Starre</strong><br />

Novelle


<strong>Die</strong> <strong>kataleptische</strong> <strong>Starre</strong>


STEFAN FRANKE<br />

DIE KATALEPTISCHE<br />

STARRE<br />

Novelle


Mit freundlicher Unterstützung<br />

der MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien<br />

Stefan <strong>Franke</strong>: <strong>Die</strong> <strong>kataleptische</strong> <strong>Starre</strong><br />

Novelle<br />

Wien, Hollitzer Verlag, 2022<br />

Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović<br />

Satz: Daniela Seiler<br />

Hergestellt in der EU<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© HOLLITZER Verlag, 2022<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99012-976-0


Unser Ich besteht aus der Schichtung aufeinanderfolgender<br />

Zustände. Doch diese Schichtenbildung ist nicht starr wie<br />

eine Gebirgsformation. Immer wieder führen Aufbrüche<br />

im Innern alte Lagen an die Oberfläche empor.<br />

Marcel Proust


6:00 UHR MORGENS<br />

E<br />

s regnete. Irgendwo schlug ein Fenster unablässig<br />

gegen einen verzogenen Rahmen. Er<br />

lag in seinem Boxspringbett, allein, wie so oft. In<br />

der Nacht hatte er noch Angebote geschrieben und<br />

kaum geschlafen. Das enervierende Klappern wurde<br />

lauter und ließ ihn aus seinem kurzen, unergiebigen<br />

Schlaf erwachen. Er öffnete die Augen und blickte<br />

gedankenverloren an die Decke. Einen kurzen Moment<br />

lang wusste er nicht, wo er sich befand. Das<br />

Zimmer schien kleiner geworden zu sein, es musste<br />

geschrumpft sein … Aber nein, das bildete er sich<br />

bestimmt nur ein.<br />

Er fühlte sich elend, sein ganzer Körper brannte,<br />

und irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Tag<br />

nichts Gutes bringen würde. Aus der Ferne drang<br />

Sirenengeheul an sein Ohr, auf- und abschwellend,<br />

langsam immer leiser werdend. Er setzte sich auf,<br />

verharrte einen Augenblick im Bett und rieb sich<br />

die vom Schlaf verklebten Augen.<br />

Schließlich stand er auf, schlüpfte ungelenk in seine<br />

Jogginghose und wankte, leicht benommen vom<br />

Schlaf, ins Badezimmer. Wie jeden Morgen stand er<br />

vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch. Mit<br />

seinem Aussehen war er schon seit Längerem unzufrieden.<br />

Es war ihm unerträglich geworden, wie dicke<br />

Falten seine Stirn zerfurchten, dunkle Tränensäcke<br />

7


schamlos – quasi über Nacht – immer größer wurden.<br />

Und das trotz der ständigen Eismasken, die<br />

er auftrug – als ob das etwas helfen würde. Es war<br />

zum Verzweifeln. Am liebsten hätte er seinen Ärger<br />

darüber hinausgeschrien, aber dafür war er zu<br />

diszipliniert. Er wollte seine Kraft nicht leichtfertig<br />

verschwenden.<br />

Also wusch er sich stoisch und versuchte sein<br />

morgendliches Ritual – Dehnübungen beim Zähneputzen<br />

sollen angeblich die Rückenmuskulatur<br />

stärken – einzuhalten. In solchen Dingen war er<br />

konsequent. Er blickte wieder in den Spiegel und<br />

sah einen müden, ausgelaugten Kerl. Ihm wurde<br />

schlecht und er übergab sich in das Waschbecken.<br />

Ein hervorragender Start in den Tag! Zumindest seinen<br />

Sarkasmus hatte er nicht verloren. Es kann nur<br />

besser werden, dachte er angewidert und wischte<br />

sich den Mund ab.<br />

Gestern war er noch im Felice gewesen, ein Arbeitsessen<br />

mit einem Kunden, der extra aus der<br />

Provinz angereist war, um in den Genuss dieses<br />

Nobelrestaurants zu kommen. Er hasste diese öden<br />

Geschäftsessen, die meist über Smalltalk nicht hinausgingen.<br />

Worüber sollte er sich auch mit seinen<br />

Kunden unterhalten, mit denen er sich privat niemals<br />

getroffen hätte? Doch er war ein Meister der<br />

Gesprächsführung, durchschaute sein Gegenüber<br />

schon nach wenigen Minuten, erkannte Schwächen<br />

und Stärken, forcierte, wenn es nötig war, nahm<br />

sich zurück, wenn es die Situation erforderte. Seine<br />

Kunden, vor allem die weiblichen, waren begeistert<br />

8


und schienen hocherfreut, ihn als Gesprächspartner<br />

zu haben, da sie sich verstanden fühlten.<br />

Wie sie sich doch alle täuschten. Er war kein Frauenflüsterer,<br />

kein verständnisvoller Zuhörer, kein<br />

Gentleman der alten Schule. Im Gegenteil – er fürchtete<br />

diese Treffen und versuchte, sie auf ein Minimum<br />

zu beschränken. Doch das Geschäft erforderte solche<br />

Opfer, daher überwand er seinen Widerwillen. Und<br />

er spielte seine Rolle fabelhaft.<br />

Sein Spesenkonto überzog er ständig, was oft<br />

zu Diskussionen mit der Geschäftsleitung führte.<br />

Konnte man es nicht auch billiger geben, vor allem<br />

in Zeiten, da das Wort Compliance bei den Firmen<br />

großgeschrieben wurde, war die immer wiederkehrende<br />

Frage aus der Chefetage.<br />

Nein, er konnte es nicht billiger geben, seine Erfolge<br />

und die des Verlages hingen davon ab, und die<br />

meisten Geschäftspartner liebten diese Art der Zuwendung.<br />

Allein der Gedanke an den gestrigen Abend ließ<br />

ihn erschaudern. Widerwillig ging er in die Küche<br />

und setzte Teewasser auf. Im Zimmer war es kalt,<br />

fast frostig.<br />

<strong>Die</strong> Kälte stieg in ihm hoch, umklammerte ihn<br />

förmlich, setzte sich in seinem Körper fest; offenbar<br />

war die Fußbodenheizung ausgefallen. Darum würde<br />

er sich später kümmern, dachte er, jetzt wollte<br />

er den Tag einmal ganz smooth beginnen lassen. Mit<br />

klammen Fingern zündete er sich eine Zigarette an<br />

und sog hastig daran.<br />

9


Er setzte sich auf seinen heiß geliebten Thonet-<br />

Sessel und wartete auf das Piepen des Teekochers.<br />

Auf dem Küchentisch lagen eine aufgerissene<br />

Packung Johanniskrautkapseln, Brotkrumen und<br />

eine alte Tageszeitung. Gedankenverloren blätterte<br />

er darin. Bei den Jahreshoroskopen blieb er hängen.<br />

Normalerweise las er solche Prophezeiungen nie,<br />

aber diesmal machte er eine Ausnahme, anscheinend<br />

war er wirklich angeschlagen und leicht kränklich.<br />

Gleich beim ersten Satz musste er laut auflachen:<br />

In beruflicher Hinsicht dürfte es ein durchaus erfolgreiches<br />

Jahr werden, da es viele Überraschungen für Sie bereithält.<br />

Was sollte das bedeuten? Überraschungen konnte er<br />

nicht ausstehen, überdies konnte man auch negativ<br />

überrascht werden. Verärgert schlug er die Zeitung<br />

zu, stand langsam auf und ließ den Teebeutel in die<br />

Tasse mit heißem Wasser gleiten.<br />

Vier Stockwerke unter ihm stand sein neuer<br />

Sportwagen, ein italienisches Modell, ganz in Rot,<br />

in einem Top-Zustand und mit allem D&D, wie sein<br />

bester Freund immer zu sagen pflegte. Von 0 auf<br />

100 in nur 3,8 Sekunden und mit einem maximalen<br />

Drehmoment von 485 Newtonmetern war der<br />

Wagen eine wahre Rakete, fast nicht zu bändigen.<br />

Heute würde er damit ins Büro fahren, beschloss er.<br />

Doch nicht einmal dieser Gedanke vermochte ihn<br />

aufzuheitern.<br />

<strong>Die</strong> vergangenen fünf Jahre waren eine Qual, ein<br />

nicht zu beschreibender Horror, eine selbst auferlegte<br />

Tortur gewesen, die er irgendwann beenden<br />

musste. Eigentlich wollte er in der Partitur seines<br />

10


Lebens die Fermaten selbst setzen, aber bisher war<br />

das nur ein frommer Wunsch geblieben.<br />

Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr.<br />

Um diese Zeit war seine Chefin schon längst im<br />

Büro und checkte ihre E-Mails. In dreißig Minuten<br />

würde sie sich bei ihm melden: der erste von unzähligen<br />

Kontrollanrufen.<br />

Sein Büro lag am Stadtrand, weit von der Innenstadt<br />

entfernt, doch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

gut erreichbar. Er arbeitete in einem unbeschreiblich<br />

hässlichen Glaskasten, der sich im Sommer<br />

so sehr aufheizte, dass die Klimaanlage durchgehend<br />

auf Hochtouren laufen musste. Im Winter dagegen<br />

war es eiskalt und die Mitarbeiter fühlten sich wie<br />

Tiefkühlkost. <strong>Die</strong> Krankenstände stiegen dann rasant.<br />

Das Designer-Duo Bertrand & Durant, das für den<br />

Entwurf verantwortlich war, hatte daran wohl keinen<br />

Gedanken verschwendet und die Pritzker-Preis-<br />

Jury mit ihrem modernen und gleichzeitig energiesparenden<br />

Konzept überzeugt. Auch die Fachpresse<br />

war von dem Bau begeistert gewesen.<br />

Verdammte Architekten, dachte er jedes Mal,<br />

wenn er das Gebäude betrat.<br />

In den letzten Monaten gelang es ihm nicht, einen<br />

Gedanken in Ruhe zu Ende zu denken. Es gab keinen<br />

Platz für Privates, nichts machte ihm Spaß. Und so etwas<br />

wie Quality Time – wie man heutzutage so schön<br />

sagt – hatte er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr<br />

erlebt. Sein Lebensmotto war zusammengeschrumpft<br />

auf die Devise: »Funktionieren, funktionieren, funktionieren<br />

und noch einmal funktionieren …«<br />

11


Er legte die Zigarette in einen Aschenbecher, der<br />

einmal seinem Großvater gehört hatte. Am Boden<br />

des Aschenbechers war die Abbildung eines Wagens<br />

zu sehen: ein Rolls-Royce, Baujahr 1904. Er erfreute<br />

sich jedes Mal an dem alten Stück: Königlich<br />

privilegierte Porzellanfabrik, kurz Königl. pr. Tettau<br />

war darauf zu lesen. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts<br />

galt feinstes Tettau-Porzellan bei Hofe als<br />

Ausdruck vollendeter Tischkultur, so hatte es sein<br />

Großvater bei größeren Familienzusammenkünften<br />

immer erzählt. Seitdem faszinierten ihn die Produkte<br />

der ältesten Porzellanfabrik Bayerns, gegründet<br />

1794 unter Mitwirkung des berühmten Naturforschers<br />

Alexander von Humboldt.<br />

Er drehte das kleine Küchenradio auf. Leise Klaviermusik<br />

drang an sein Ohr. Mit einer lässigen<br />

Handbewegung strich er sich die Haare zurück. Er<br />

spürte, wie ihn die Musik beruhigte. Ein wohliges<br />

Gefühl stieg in ihm auf. Er kannte das Stück, das<br />

er in seiner Jugend unzählige Male gehört hatte:<br />

Les Tendres Plaintes von Jean-Philippe Rameau. Sein<br />

Großvater war ein begnadeter Pianist gewesen und<br />

hatte es tage- und nächtelang – zum großen Ärger<br />

der Nachbarn – rücksichtslos einstudiert. Er hörte<br />

aufmerksam zu. Alte, fast vergessene Bilder tauchten<br />

währenddessen in seiner Erinnerung auf.<br />

An der Wand hing ein Porträt seiner Mutter:<br />

Jung und schön strahlte die lebenslustige Dreiundzwanzigjährige<br />

darauf. Für ihn war sie – nach wie<br />

vor – die schönste Frau der Welt.<br />

Er lächelte ihr zu.<br />

12


Am unteren Rand des Bildes war ein in krakeliger<br />

Schrift verewigtes Gedicht zu lesen. Er kannte die<br />

erste Strophe auswendig.<br />

Spät im Jahre, tief im Schweigen<br />

dem, der ganz sich selbst gehört,<br />

werden Blicke niedersteigen,<br />

neue Blicke, unzerstört.<br />

Er wusste nicht, was seiner Mutter in ihrer Jugend widerfahren<br />

war, ob sie geschlagen, gedemütigt oder geliebt<br />

worden war, darüber hatten sich die Großeltern<br />

immer ausgeschwiegen. Aber eines wusste er nur zu<br />

gut: dass sie es irgendwann in dieser Scheißwelt nicht<br />

mehr ausgehalten und den einzigen Ausweg genommen<br />

hatte, der ihr sinnvoll erschienen war.<br />

Lange sah er das Porträt seiner Mutter an, und er<br />

spürte, wie sich auf einmal ein unglaublicher Zorn in<br />

ihm ausbreitete. Dass das Leben nicht mehr für seine<br />

Mutter zu bieten gehabt hatte, machte ihn rasend.<br />

Plötzlich Stille! Völlig unerwartet und abrupt<br />

endete die Musik. Es folgte eine unerträglich lange<br />

Pause, eine gefühlte Ewigkeit hörte man absolut<br />

nichts. Dann meldete sich der Moderator zu Wort.<br />

Es tue ihm leid, aber der Computer habe das Stück<br />

irrtümlich aus unerfindlichen Gründen unterbrochen.<br />

Und er selbst sei von der Schönheit der Komposition<br />

so überwältigt gewesen, dass er völlig in<br />

Gedanken versunken auf die weitere Moderation<br />

vergessen habe.<br />

Er lachte laut auf. <strong>Die</strong> Offenheit des Sprechers<br />

amüsierte ihn.<br />

13


Nach dem Frühstück – er trank gerade die zweite<br />

Tasse Tee – klingelte sein Handy. Er seufzte. Seine Position<br />

als Untergebener wurde ihm jeden verdammten<br />

Tag deutlicher bewusst. Es war seine Chefin. Sie<br />

war Mitte dreißig, hübsch, intelligent, ehrgeizig, jedoch<br />

ungerecht und intrigant. Sie hieß Annegrit. Was<br />

für ein Name! Er klang irgendwie nach Angriff, nach<br />

Zerstörung, unheimlich und gefährlich.<br />

Scheiße, dachte er.<br />

Er schaltete das Radio ab, dann nahm er den Anruf<br />

entgegen. Seine Hände waren schweißnass.<br />

»Peter? Wo bist du?«, fragte sie nervös.<br />

»Wo ich bin?«<br />

»Du hast meine gestrige Mail noch nicht beantwortet.<br />

Dass ich das absolut nicht leiden kann, sollte<br />

dir mittlerweile bekannt sein«, schrie sie in den<br />

Hörer.<br />

»Sei mir nicht böse, aber wenn du mir eine Nachricht<br />

um Mitternacht schickst, antworte ich ganz<br />

bestimmt nicht.«<br />

»<strong>Die</strong> vierte Umschlagseite ist noch zu verkaufen,<br />

verstehst du, und wir haben nächste Woche Deadline,<br />

aber das weißt du doch«, sagte sie schneidend.<br />

Eine schöne Stimme hat sie nicht, dachte er.<br />

»Ich bin ja schon unterwegs«, sagte er ruhig.<br />

»Das will ich hoffen. Bist du eigentlich noch zu<br />

Hause?«<br />

»Ja!«<br />

»Wir haben keine Umsätze und du verbringst den<br />

Vormittag gemütlich auf der Couch?« Ihre Stimme<br />

wurde wieder lauter.<br />

14

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!