3. Analyse der Lebens- und ... - Frauengesundheitszentrum Graz

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21.09.2012 Aufrufe

Zentrales Gefühl in dieser Familie ist die Schuld: Und zwar die Schuld der Mutter an der Behinderung der Tochter. „Mutter: Weil ich bis heute es noch nicht verkraftet habe, ihr das Medikament gegeben zu haben, nicht. Es ist ja eine Medikamentenallergie Und ich war diejenige, die ihr das Kinderaspirin gegeben hat, nicht.“ Helen Lewis beschreibt Schuld nicht als eigenständiges Gefühl ist, sondern eng zusammenhängend mit einem grundlegenden Schamgefühl, das von Ärger überdeckt wird und sich nach innen gegen sich selbst richtet. 45 Es wird als lebenslange Gefühlsfalle beschrieben, wobei das Gefühl der Scham das des Ärgers bedingt und zu Handlungen führt, die wiederum dasselbe Gefühl wachrufen. Zur Scham über die anhaltende Sehbehinderung der Tochter, verbunden mit dem Ärger, dafür mitverantwortlich zu sein, gesellt sich die Schuld. Dieses Schuldgefühl veranlasst die Mutter, übermäßig viel für die Tochter zu tun. Und dennoch führt dieses Tun nicht zur Entlastung. Im Gegenteil, es ruft weitere Schuldgefühle hervor: eben die Schuld, nicht genügend Zeit für die anderen Kinder gehabt zu haben. „Mutter: Das ist eben. Oder jetzt im Nachhinein eben gesehen, dass ich viel zu viel für die B. da war, was vielleicht anders auch gegangen wäre. Und eben die kleinen Geschwister (Pause) eben nicht vernachlässigt, hoffe ich nicht, dass ich sie habe. Das hoffe ich nicht, weil dazu bin ich viel zu viel Mutter. Ahh (lacht verhalten) Aber, eben mir nicht die Zeit genommen habe, die sie gebraucht hätten, die Kinder, nicht.“ Aber auch für Frau A. selbst verstärkt das Schuldgefühl der Mutter die eigene Scham. Um nicht zu stark damit konfrontiert zu werden, sucht sie den Ausweg darin, für sich selbst die Leistungslatte sehr hoch zu legen. Damit scheint sie das Stigma überwinden zu wollen. Oft ist es jedoch zu hoch und wirft die ganze Familie wieder auf die ursprünglichen Gefühle der Scham und Schuld zurück. „Ich versuche einfach alles so gut wie möglich zu machen. Wo ich teilweise schon… Es sind Sachen, wo ich mich halt wahnsinnig überanstrenge. Aber (Pause) das wissen meine Eltern, dann nehmen sie mich gleich gar nicht mit. Ich meine, ich bin dann zwar oft beleidigt, weil ich es einfach gerne tue, aber mmm, wenn sie einfach wissen, ich habe danach Riesenschmerzen. …“ 45 Scheff, Th.J.; Retzinger, S.M.: Emotions and Violence. Shame and Rage in Destructive Conflicts. Lexington Books/USA 1991, S. 13 80

Vor allem scheinen sie jedoch als Familie in einer Spirale gefangen zu sein, die einen Kontakt nach außen nur bedingt ermöglicht. „Und (Pause) bin eigentlich ziemlich vereinsamt, also. Ich habe eben meine Geschwister gehabt (spricht stockend), meine Familie, meine kleine Welt. War ein sehr verspieltes, verträumtes Kind, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite, ja, von der Realität (Pause) sehr sehr geprägt.“ Am stärksten zeigt sich die Struktur dieser Familie im Umgang mit den Anforderungen an die Mobilität: Während der monatelangen Krankenhausaufenthalte wurde täglich eine Wegstrecke von über 100 km zurückgelegt. Später war es notwendig, Frau A. in die Ausbildung oder Arbeit zu fahren, heute geht es um den Weg zur Arbeit und um Freizeitmöglichkeiten, denen Frau A. nicht ohne die Unterstützung der Familie nachgehen kann. „Ich habe meine Ausbildungen alle in G. gemacht und ich bin täglich hin und her chauffiert worden und (Pause) (Luftholen) ja, da war jeder eigentlich voll eingespannt. Ob das meine Schwestern waren, ob das mein Schwager war (Lachen), meine Eltern. Wer halt irgendwie Zeit gehabt hat, hat mich halt gebracht und geholt. Und ja (Pause) das über eine sehr sehr lange Zeit. (Pause)“ Scham zeigt sich hier auch in der Tatsache, dass Frau A. die ungeheuren Leistungen, die damit verbunden ist, zwar benennt, sie aber gleich auch wieder kleinredet: „Es sind so…so Kleinigkeiten… (Pause)…aber…aber das erschwert es gewaltig.“ Aber auch im verunsicherten Auftreten nach außen ist die „Familienschande“ deutlich zu spüren. Immer wieder weist Frau A. darauf hin, dass vor allem eine ihrer Schwestern große Probleme hat, mit ihr z.B. einkaufen zu gehen, oder auch darüber mit ihren Freunden zu sprechen. Also ich (Pause) wenn ich so unterwegs war mit meiner Schwester oder oder mit einer Kollegin oder so… Ich habe das nie gemocht irgendwo (?) dieses Einhängen. Das ist etwas, was ein bissl so (Pause) (Luftholen) nicht… was auch nicht jedem liegt. Also meine Schwester hat das nie mögen. Die mag das heute noch nicht. (Pause) Die hat mich immer an der Hand genommen. Und sie hat sehr sehr viel zurückstecken müssen. Durch meine Krankheit. Und da war sowieso immer diese Hemmschwelle (Pause) es war nie wirklich so diese innige Schwesternliebe. Das hat es nicht gegeben. Wir haben wirklich im Verhältnis (spricht stockend) ganz ganz wenig miteinander gemacht. 81

Zentrales Gefühl in dieser Familie ist die Schuld: Und zwar die Schuld <strong>der</strong> Mutter an<br />

<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Tochter.<br />

„Mutter:<br />

Weil ich bis heute es noch nicht verkraftet habe, ihr das Medikament gegeben<br />

zu haben, nicht. Es ist ja eine Medikamentenallergie<br />

Und ich war diejenige, die ihr das Kin<strong>der</strong>aspirin gegeben hat, nicht.“<br />

Helen Lewis beschreibt Schuld nicht als eigenständiges Gefühl ist, son<strong>der</strong>n eng<br />

zusammenhängend mit einem gr<strong>und</strong>legenden Schamgefühl, das von Ärger<br />

überdeckt wird <strong>und</strong> sich nach innen gegen sich selbst richtet. 45 Es wird als<br />

lebenslange Gefühlsfalle beschrieben, wobei das Gefühl <strong>der</strong> Scham das des Ärgers<br />

bedingt <strong>und</strong> zu Handlungen führt, die wie<strong>der</strong>um dasselbe Gefühl wachrufen.<br />

Zur Scham über die anhaltende Sehbehin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Tochter, verb<strong>und</strong>en mit dem<br />

Ärger, dafür mitverantwortlich zu sein, gesellt sich die Schuld. Dieses Schuldgefühl<br />

veranlasst die Mutter, übermäßig viel für die Tochter zu tun. Und dennoch führt<br />

dieses Tun nicht zur Entlastung. Im Gegenteil, es ruft weitere Schuldgefühle hervor:<br />

eben die Schuld, nicht genügend Zeit für die an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> gehabt zu haben.<br />

„Mutter:<br />

Das ist eben. O<strong>der</strong> jetzt im Nachhinein eben gesehen, dass ich viel zu viel für<br />

die B. da war, was vielleicht an<strong>der</strong>s auch gegangen wäre. Und eben die kleinen<br />

Geschwister (Pause) eben nicht vernachlässigt, hoffe ich nicht, dass ich sie<br />

habe. Das hoffe ich nicht, weil dazu bin ich viel zu viel Mutter. Ahh (lacht<br />

verhalten) Aber, eben mir nicht die Zeit genommen habe, die sie gebraucht<br />

hätten, die Kin<strong>der</strong>, nicht.“<br />

Aber auch für Frau A. selbst verstärkt das Schuldgefühl <strong>der</strong> Mutter die eigene<br />

Scham. Um nicht zu stark damit konfrontiert zu werden, sucht sie den Ausweg darin,<br />

für sich selbst die Leistungslatte sehr hoch zu legen. Damit scheint sie das Stigma<br />

überwinden zu wollen. Oft ist es jedoch zu hoch <strong>und</strong> wirft die ganze Familie wie<strong>der</strong><br />

auf die ursprünglichen Gefühle <strong>der</strong> Scham <strong>und</strong> Schuld zurück.<br />

„Ich versuche einfach alles so gut wie möglich zu machen. Wo ich teilweise<br />

schon… Es sind Sachen, wo ich mich halt wahnsinnig überanstrenge. Aber<br />

(Pause) das wissen meine Eltern, dann nehmen sie mich gleich gar nicht mit.<br />

Ich meine, ich bin dann zwar oft beleidigt, weil ich es einfach gerne tue, aber<br />

mmm, wenn sie einfach wissen, ich habe danach Riesenschmerzen. …“<br />

45 Scheff, Th.J.; Retzinger, S.M.: Emotions and Violence. Shame and Rage in Destructive Conflicts.<br />

Lexington Books/USA 1991, S. 13<br />

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