3. Analyse der Lebens- und ... - Frauengesundheitszentrum Graz
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einzelner Personen <strong>und</strong> auch gesellschaftlicher Strukturen sind es, die die Grenzen<br />
im konkreten Leben behin<strong>der</strong>ter Frauen <strong>und</strong> Männer bestimmen.<br />
„Diese Beteiligtheit an <strong>der</strong> Problematik ist aber im Bewusstsein <strong>der</strong> Nichtbehin<strong>der</strong>ten<br />
nur wenig repräsentiert, weil es auch einer nicht geringen Anstrengung bedarf <strong>und</strong> oft<br />
auch das Selbstbild kränken<strong>der</strong> Einsichten <strong>und</strong> emotionaler Verunsicherungen, um<br />
sich dieser verdrängten psychosozialen Realität <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Handlungsmotiven zu stellen.“ 34<br />
Was kann man sich nun unter ignorierter Scham vorstellen? Wo tritt sie auf? Wie<br />
zeigt sie sich? Wie ist sie strukturell in eine Gesellschaft eingebettet?<br />
Antworten auf diese Fragen haben Thomas J. Scheff <strong>und</strong> Suzanne M. Retzinger in<br />
ihrem Buch „Emotions and Violence“ 35 gesammelt.<br />
Bereits 1902 meinte C.H. Cooley 36 in seiner <strong>Analyse</strong> <strong>der</strong> Natur des Selbst,<br />
menschliches Bewusstsein sei deshalb sozial, weil es viel Zeit damit verbringt, das<br />
eigene Leben im „Bewusstsein <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en“ zu sehen. Dies wird einem meist erst<br />
dann bewusst, wenn man einmal nicht so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> höflich aufgenommen wird,<br />
wie man es gewohnt ist, <strong>und</strong> deshalb in einem Angst, ein Gefühl des<br />
Ausgeschlossen-Seins <strong>und</strong> <strong>der</strong> Hilflosigkeit aufkommt. Daraus folgert er, dass wir<br />
uns immer entwe<strong>der</strong> in einem Zustand von Stolz o<strong>der</strong> Scham befinden, je nachdem<br />
wie wir von den an<strong>der</strong>en aufgenommen o<strong>der</strong> zurückgewiesen werden, auch wenn<br />
dies uns nicht bewusst ist.<br />
Diese Gefühle erwachsen aus dem angeborenen sozialen Charakter <strong>der</strong><br />
menschlichen Natur. E. Goffman verstärkt noch, indem er sagt, dass wir uns ständig<br />
fürchten, von den an<strong>der</strong>en negativ beurteilt zu werden 37 . Überhaupt sei Verlegenheit<br />
ein zentrales Moment im zwischenmenschlichen Kontakt: Wenn wir uns jemandem<br />
gegenüber vorstellen/präsentieren, laufen wir immer Gefahr, nicht adäquat, d.h.<br />
unserem Selbstbild entsprechend, akzeptiert <strong>und</strong> angenommen zu werden. Goffman<br />
analysiert dabei aber nicht nur eklatante Beleidigungen. Er sieht dies auch in vielen<br />
subtilen Formen <strong>der</strong> Missachtung: sogar ein verfehlter Rhythmus im Gespräch, ein<br />
abgewandter Blick o<strong>der</strong> ein direktes Anstarren für eine Sek<strong>und</strong>e zu lang... <strong>und</strong><br />
34<br />
Lukan, U.: Was macht Behin<strong>der</strong>ung so “schrecklich interessant?” Psychodynamische Aspekte in <strong>der</strong><br />
Begegnung zwischen Menschen mit <strong>und</strong> ohne Behin<strong>der</strong>ung. In: Prettenthaler-Ziegerhofer, A.(Hrsg.) Menschen<br />
mit Behin<strong>der</strong>ung. Leben wie an<strong>der</strong>e auch? Univerlag <strong>Graz</strong> 2006. S.41<br />
35<br />
Scheff, Th.J.; Retzinger, S.M.: Emotions and Violence. Shame and Rage in Destructive Conflicts, Canada<br />
1991<br />
36<br />
Siehe Cooley, C.H.: Human Nature and the Social Or<strong>der</strong>. New York: Scribner`s 1902, zitiert in<br />
Scheff/Retzinger, S.9<br />
37<br />
Siehe Goffman, E.: Stigma. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall 1963, zitiert in: Scheff/Retzinger, S.9<br />
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