Nr. 82 - Frühling 2022

FRANKREICH HEUTE Restaurierung
Notre-Dame
de Paris
Umstrittene Neugestaltung
des Innenraums
« Zukünftiges Disneyland », « ein Dekor wie für
Star Wars », « Affront gegen das Kulturerbe » …
Liest man in der französischen Presse die Überschriften
der jüngst erschienenen Artikel, die sich
mit der Neugestaltung des Innenraumes der Kathedrale
Notre-Dame de Paris im Rahmen der
Restaurierungsmaßnahmen nach dem schrecklichen
Brand vom 15. April 2019 beschäftigen,
sagt man sich, dass polemische Auseinandersetzungen
im Hexagon wahrlich heftig sein können.
Es ist eine emotional und medial geführte Diskussion
um das Kulturerbe, wie nur Franzosen
sie führen können …
Am 7. Dezember 2021 veröffentlichten mehr als 100
Persönlichkeiten des Landes gemeinsam eine besorgniserregende
Stellungnahme mit dem Titel
« Notre-Dame de Paris: Was das Feuer verschont hat, will
die Diözese zerstören », die sowohl in der Tageszeitung Le
Figaro als auch auf der anerkannten Website La Tribune de
l ’Art erschien. Zu den Unterzeichnern zählten Künstler,
Politiker, Schriftsteller, Professoren, Architekten, Philosophen.
Das « Sahnehäubchen » der vielen Unterzeichner
aus der « Welt der Intellektuellen » ist einer der beliebtesten
Fernsehmoderatoren Frankreichs, der mit Fug und Recht
seit einigen Jahren als Monsieur Patrimoine bezeichnet
wird: Stéphane Bern. Der Grund des Zorns: eine « sehr
tiefe Besorgnis angesichts der Pläne des Pariser Erzbistums,
den Innenraum der Kathedrale Notre-Dame grundlegend
umzugestalten ».
Meister der Polemik
Bereits am Tag nach dem Brand hatte Staatspräsident
Emmanuel Macron mit seinem Vorschlag, die komplett
zerstörte Turmspitze von Notre-Dame durch eine
zeitgenössische Variante zu ersetzen, im ganzen Land
kontroverse Diskussionen ausgelöst: Schon damals lieferten
sich Anhänger des Wiederaufbaus einer « moderneren
» Kathedrale (ein Vorschlag, der zwischenzeitlich
verworfen wurde) und Verfechter eines « identischen »
Wiederaufbaus (das inzwischen verabschiedete Szenario)
einen erbitterten Schlagabtausch. Diesmal ist es nun
die Innengestaltung der Kathedrale, über die nicht nur
diskutiert, sondern regelrecht polemisiert wird. Aber so
sind die Franzosen. Eigentlich könnten sie sich über den
spektakulären Wiederaufbau von Notre-Dame freuen,
der nach einhelliger Meinung internationaler Spezialisten
äußerst zügig vonstattengeht. Denn die großen
Fortschritte werden es wohl möglich machen, dass der
angekündigte Zeitplan – die Einweihung ist für 2024
vorgesehen – eingehalten wird. Stattdessen ziehen es
diese verflixten Gallier vor, sich über die Neugestaltung
des Innenraums im Rahmen der Renovierungsarbeiten
zu streiten – und das nicht gerade zurückhaltend!
Aber wie konnte es dazu kommen? Die 100 prominenten
Persönlichkeiten veröffentlichten ihre Stellungnahme
am 7. Dezember 2021, weil sie wussten, dass
die Commission nationale du patrimoine et de l’architecture
(CNPA), eine öffentliche Instanz, die seit 1837 die Leitlinien
in Sachen Restaurierung von Denkmälern vorgibt,
einige Tage später per Videokonferenz zusammenkommen
und über das von der Pariser Diözese erstellte
Konzept für die Neugestaltung des Innenraums der
Kathedrale beraten würde. Der perfekt getimte mediale
Auftritt hatte also einerseits das Ziel, die Öffentlichkeit
über ihre Befürchtungen zu informieren, doch es ist
mehr als offensichtlich, dass man damit zugleich Druck
auf die Mitglieder der genannten Kommission ausüben
wollte.
78 · Frankreich erleben · Frühling 2022