FRANKREICH HEUTE Literatur infarkt seines Vaters ins Wanken. Das ist die Ausgangsbasis für einen komplexen Roman, der in seinem Verlauf vom Politthriller (man begegnet unter anderem einem gewissen « Bruno Juge », seines Zeichens Finanzminister, der gerade in den Wahlkampf einsteigt und dem eine gewisse Ähnlichkeit mit dem derzeitigen Finanzminister Bruno Le Maire nicht abzusprechen ist) zum Familienroman wechselt, von Science-Fiction (Frankreich im Jahr 2027) zu einer bewegenden Liebesgeschichte … Wie in allen seinen Büchern wechselt Houellebecq auch hier die Genres und bricht mit allen herkömmlichen Regeln. Der nicht klassifizierbare Autor verstört auf diese Weise, sorgt für Wirbel, macht neugierig. Literaturkritiker versuchen immer wieder, ihn in die herkömmlichen Schubladen zu stecken, was ihnen am Ende dann doch nicht gelingt. Der Leser freut sich darüber, weil er dadurch offensichtlich in den Büchern das findet, was er mag. Diese Technik ist sowohl innovativ als auch listig. Indem sie alles Herkömmliche über den Haufen wirft, stellt sie eine Art von « Befreiung » der Literatur dar, die auf diese Weise weniger auf traditionelle Genres eingeengt wird. Die Welt beobachten Houellebecqs Stil, mit dem er sich an seine Leser, vor allem an die Franzosen, wendet, ist besonders. Er verstrickt sich nicht in Umschreibungen, sondern vermittelt das Bild, das er von Frankreich hat, auf direkte Art. Humorvoll, bissig, ernst: Mit einer perfekten Mischung gelingt es dem Autor besser als anderen, aktuellen Mehrheitsmeinungen und vorgefassten Klischees den Garaus zu machen. Auch auf die Gefahr hin, damit zu schockieren, gar zu kränken. Als ob das Teil seiner Persönlichkeit sei. Im Übrigen besteht kein Zweifel daran, dass der Autor sich nicht um sein Image schert, dennoch respektieren ihn alle. Houellebecq ist ein bisschen der alte Brummbär, bei dem man nicht weiß, wo man ihn beim Familientreffen hinsetzen soll: In sich gekehrt, immer ein Glas oder einen Zigarettenstummel in der Hand, murmelt er in seiner Ecke kaum verständlich vor sich hin. Er ist in der Lage, während der ganzen Mahlzeit zu schweigen, die anderen zu beobachten und mal mit einem zärtlichen, mal mit einem streng forschenden Blick zu bedenken. Manchmal wacht er jedoch aus seiner Lethargie auf und ergreift sogar das Wort. In diesen Fällen beeindruckt er mit treffenden Bemerkungen, einem scharfen Blick oder gar mit bissigem Humor … Im Grunde ist er ein bisschen so, wie wir alle gerne wären: Jemand, der sich Zeit nimmt, sich den Luxus gönnt, die Welt zu beobachten, und vor allem jemand, der es wagt, genau das zu sagen, was er denkt. Schreiben und gehört werden Und vielleicht liegt gerade darin der Schlüssel des « Phänomens »: Es ist, als ob Houellebecq in der Tat in seiner « Ecke » all das tut, was die Franzosen nicht – oder nicht mehr – machen: sich Zeit nehmen und das Verhalten, die Gewohnheiten, die Gesellschaft, Frankreich beobachten. Einige werden sagen, dass genau das die Eigenart von Schriftstellern und der Literatur ist. Und sie haben recht. Doch Houellebecq macht es anders: Mit seinen Romanen gelingt es ihm besser als den meisten anderen französischen Gegenwartsautoren, die Franzosen dazu zu bewegen, ihre Gesellschaft zu hinterfragen. Manchmal brüskiert er sie dabei. Er hält ihnen nicht nur ein Buch hin, sondern eine Art Spiegel, seinen Spiegel des Landes. Ein Spiegel, der oft vergrößert und verzerrt. Das Frankreich, das man darin sieht, ist ungeschminkt, meist im Niedergang begriffen, depressiv, desillusioniert, zukunftslos. Sein – sehr persönliches – Porträt ist niemals schmeichlerisch. Im Gegenteil. Und obwohl man den Franzosen nachsagt, sie seien stolz und hingen am Image ihres Landes, wenden sie sich nicht ab. Nein. Sie beobachten dieses Spiegelbild interessiert, als würden sie es gerade entdecken. Beim Erscheinen eines neuen Romans diskutieren sie sogar darüber. Denn darin ist Houellebecq stark: Bei jeder neuen Veröffentlichung ist es so, als ob es ihm, dem genialen Schriftsteller, gelungen sei, die Worte zu finden, welche die sensiblen Ohren der Franzosen bereit sind, zu hören. Worte, mit denen er offen und direkt über ihr Land spricht. Es ist nicht mehr und nicht weniger als seine ganz eigene Art, ihnen ins Ohr zu schreiben … * Vernichten, Michel Houellebecq, Dumont, 624 Seiten, 28 €, ISBN 978-3832181932 68 · Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2022</strong>
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