Nr. 82 - Frühling 2022
Land-Art XXL: Saype, von Belfort in die weite Welt Château des Milandes: "Mein Leben, das ist Joséphine!" Brouage: die Zitadelle der geplatzten Träume Rezept: La Madeleine de Proust
Land-Art XXL: Saype, von Belfort in die weite Welt
Château des Milandes: "Mein Leben, das ist Joséphine!"
Brouage: die Zitadelle der geplatzten Träume
Rezept: La Madeleine de Proust
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FRANKREICH HEUTE Literatur<br />
infarkt seines Vaters ins Wanken. Das ist die Ausgangsbasis<br />
für einen komplexen Roman, der in seinem Verlauf<br />
vom Politthriller (man begegnet unter anderem einem<br />
gewissen « Bruno Juge », seines Zeichens Finanzminister,<br />
der gerade in den Wahlkampf einsteigt und dem eine<br />
gewisse Ähnlichkeit mit dem derzeitigen Finanzminister<br />
Bruno Le Maire nicht abzusprechen ist) zum Familienroman<br />
wechselt, von Science-Fiction (Frankreich im Jahr<br />
2027) zu einer bewegenden Liebesgeschichte … Wie in<br />
allen seinen Büchern wechselt Houellebecq auch hier die<br />
Genres und bricht mit allen herkömmlichen Regeln. Der<br />
nicht klassifizierbare Autor verstört<br />
auf diese Weise, sorgt für Wirbel,<br />
macht neugierig. Literaturkritiker<br />
versuchen immer wieder, ihn in<br />
die herkömmlichen Schubladen zu<br />
stecken, was ihnen am Ende dann<br />
doch nicht gelingt. Der Leser<br />
freut sich darüber, weil er dadurch<br />
offensichtlich in den Büchern das<br />
findet, was er mag. Diese Technik<br />
ist sowohl innovativ als auch listig.<br />
Indem sie alles Herkömmliche<br />
über den Haufen wirft, stellt sie<br />
eine Art von « Befreiung<br />
» der Literatur dar, die auf diese Weise<br />
weniger auf traditionelle Genres eingeengt<br />
wird.<br />
Die Welt beobachten<br />
Houellebecqs Stil, mit dem er sich an<br />
seine Leser, vor allem an die Franzosen,<br />
wendet, ist besonders. Er verstrickt sich<br />
nicht in Umschreibungen, sondern vermittelt<br />
das Bild, das er von Frankreich hat, auf<br />
direkte Art. Humorvoll, bissig, ernst: Mit<br />
einer perfekten Mischung gelingt es dem<br />
Autor besser als anderen, aktuellen Mehrheitsmeinungen<br />
und vorgefassten Klischees den Garaus zu machen. Auch<br />
auf die Gefahr hin, damit zu schockieren, gar zu kränken.<br />
Als ob das Teil seiner Persönlichkeit sei. Im Übrigen<br />
besteht kein Zweifel daran, dass der Autor sich nicht um<br />
sein Image schert, dennoch respektieren ihn alle. Houellebecq<br />
ist ein bisschen der alte Brummbär, bei dem man<br />
nicht weiß, wo man ihn beim Familientreffen hinsetzen<br />
soll: In sich gekehrt, immer ein Glas oder einen Zigarettenstummel<br />
in der Hand, murmelt er in seiner Ecke<br />
kaum verständlich vor sich hin. Er ist in der Lage, während<br />
der ganzen Mahlzeit zu schweigen, die anderen zu<br />
beobachten und mal mit einem zärtlichen, mal mit einem<br />
streng forschenden Blick zu bedenken. Manchmal wacht<br />
er jedoch aus seiner Lethargie auf und ergreift sogar das<br />
Wort. In diesen Fällen beeindruckt er mit treffenden Bemerkungen,<br />
einem scharfen Blick oder gar mit bissigem<br />
Humor … Im Grunde ist er ein bisschen so, wie wir alle<br />
gerne wären: Jemand, der sich Zeit nimmt, sich den Luxus<br />
gönnt, die Welt zu beobachten, und vor allem jemand, der<br />
es wagt, genau das zu sagen, was er<br />
denkt.<br />
Schreiben und<br />
gehört werden<br />
Und vielleicht liegt gerade<br />
darin der Schlüssel des « Phänomens<br />
»: Es ist, als ob Houellebecq<br />
in der Tat in seiner « Ecke » all<br />
das tut, was die Franzosen nicht<br />
– oder nicht mehr – machen: sich<br />
Zeit nehmen und das Verhalten,<br />
die Gewohnheiten, die Gesellschaft,<br />
Frankreich beobachten. Einige werden sagen, dass<br />
genau das die Eigenart von Schriftstellern und der Literatur<br />
ist. Und sie haben recht. Doch Houellebecq macht<br />
es anders: Mit seinen Romanen gelingt es ihm besser als<br />
den meisten anderen französischen Gegenwartsautoren,<br />
die Franzosen dazu zu bewegen, ihre Gesellschaft zu hinterfragen.<br />
Manchmal brüskiert er sie dabei. Er hält ihnen<br />
nicht nur ein Buch hin, sondern eine Art Spiegel, seinen<br />
Spiegel des Landes. Ein Spiegel, der oft vergrößert<br />
und verzerrt. Das Frankreich, das man darin<br />
sieht, ist ungeschminkt, meist im Niedergang<br />
begriffen, depressiv, desillusioniert, zukunftslos.<br />
Sein – sehr persönliches – Porträt ist niemals<br />
schmeichlerisch. Im Gegenteil. Und obwohl<br />
man den Franzosen nachsagt, sie seien stolz und<br />
hingen am Image ihres Landes, wenden sie sich<br />
nicht ab. Nein. Sie beobachten dieses Spiegelbild<br />
interessiert, als würden sie es gerade entdecken.<br />
Beim Erscheinen eines neuen Romans diskutieren<br />
sie sogar darüber. Denn darin ist Houellebecq<br />
stark: Bei jeder neuen Veröffentlichung ist<br />
es so, als ob es ihm, dem genialen Schriftsteller,<br />
gelungen sei, die Worte<br />
zu finden, welche<br />
die sensiblen Ohren<br />
der Franzosen bereit<br />
sind, zu hören. Worte,<br />
mit denen er offen<br />
und direkt über ihr<br />
Land spricht. Es ist<br />
nicht mehr und nicht<br />
weniger als seine ganz<br />
eigene Art, ihnen ins<br />
Ohr zu schreiben …<br />
* Vernichten, Michel<br />
Houellebecq, Dumont,<br />
624 Seiten, 28 €,<br />
ISBN 978-3832181932<br />
68 · Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2022</strong>