Nr. 82 - Frühling 2022
Land-Art XXL: Saype, von Belfort in die weite Welt Château des Milandes: "Mein Leben, das ist Joséphine!" Brouage: die Zitadelle der geplatzten Träume Rezept: La Madeleine de Proust
Land-Art XXL: Saype, von Belfort in die weite Welt
Château des Milandes: "Mein Leben, das ist Joséphine!"
Brouage: die Zitadelle der geplatzten Träume
Rezept: La Madeleine de Proust
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Neben dem traditionellen Auftakt der Literatursaison<br />
im September gibt es in Frankreich ein<br />
zweites wichtiges Datum<br />
für literarische Neuerscheinungen,<br />
nämlich die Rentrée littéraire<br />
d‘hiver, die sich ab Anfang<br />
Januar über eine Periode von<br />
acht Wochen erstreckt. <strong>2022</strong> sollen<br />
(laut Livres Hebdo/Electre<br />
Data Services) in diesem Zeitraum<br />
545 französische und ausländische<br />
Romane und Erzählungen<br />
erscheinen, von denen<br />
anéantir von Michel Houellebecq<br />
zweifellos am meisten erwartet<br />
wurde. Wobei das Warten<br />
de facto geschickt inszeniert war:<br />
Erst am 17. Dezember 2021 –<br />
also nicht gerade früh für ein 734<br />
Seiten umfassendes Werk – versandte<br />
der Verlag 600 Exemplare<br />
an die Presse mit der Auflage, bis<br />
zum 30. Dezember (eine Woche<br />
vor dem Erscheinungstag, dem<br />
7. Januar<br />
<strong>2022</strong>) absolutes Stillschweigen<br />
über die Handlung zu bewahren.<br />
Einige Tage zuvor entstand dann<br />
ein Wirbel um eine (unabsichtlich?)<br />
im Internet veröffentlichte<br />
Raubkopie, genauso<br />
wie es bereits im<br />
Jahr 2015 bei Soumission<br />
der Fall war. Zudem<br />
wurde mit 300 000 Exemplaren<br />
eine spektakuläre<br />
Erstauflage gedruckt<br />
… Alle diese Indizien<br />
lassen darauf schließen, dass Autor und<br />
Verlag (Flammarion) alles darangesetzt haben,<br />
die Leser begierig auf das Buch zu machen. Als<br />
ob dahinter die Absicht stünde, aus dem Roman<br />
ein regelrechtes « Lustobjekt » zu machen, ganz<br />
nach dem Beispiel des amerikanischen Giganten<br />
Apple bei der Lancierung seiner Produktneuheiten … Eine<br />
Marketingtechnik, die bis dato in der Welt der französischen<br />
Literatur nicht sehr verbreitet war …<br />
Doch damit nicht genug der Innovation. Das « Packaging<br />
» von anéantir unterscheidet sich grundlegend von<br />
den bisherigen Werken und macht daraus ein in seiner Art<br />
einzigartiges Buch. Diese Vorgehensweise ist in Frankreich<br />
selten, vor allem in einem derartigen Ausmaß an<br />
Details und Subtilität. Der Unterschied liegt zum einen<br />
im Äußeren: Houellebecq selbst äußerte vor der Veröffentlichung<br />
dem Verlag gegenüber eine ganze Anzahl an<br />
Sonderwünschen, denen man nachgekommen ist: Das<br />
Buch besitzt nun einen für Frankreich absolut ungewohnten<br />
Hardcovereinband; auf der vierten Umschlagseite ist<br />
kein Text, obwohl die Franzosen<br />
gerade die Zusammenfassung auf<br />
der Rückseite äußerst gern lesen;<br />
es enthält ein elegantes rotes Lesezeichen<br />
nach dem Vorbild der<br />
prestigeträchtigen Buchreihe La<br />
Pléiade; das Papier ist besonders<br />
dick und vergilbt daher nicht;<br />
der Text wurde in der eleganten<br />
Schrift Garamond gesetzt, die<br />
einen hohen Lesekomfort bietet.<br />
Es ist also unbestritten, dass –<br />
abgesehen vom Geheimnis um<br />
das Buch – jedes Detail durchdacht,<br />
ja sehr sorgfältig durchdacht<br />
wurde, damit anéantir den<br />
Leser auch optisch sofort in Bann<br />
zieht. Doch sieht man von den<br />
Äußerlichkeiten ab, scheint es,<br />
als ob Houellebecq die Leser vor<br />
allem durch seine Texte verführt.<br />
Es sieht ganz danach aus, als<br />
würde er den Franzosen genau<br />
die Worte ins Ohr flüstern, die sie gerne hören möchten,<br />
die sie in gewisser Weise brauchen …<br />
Gewohnheiten sprengen<br />
Alles begann mit einer sehr besonderen<br />
Positionierung. Michel Houellebecq unternahm<br />
seine ersten Schritte in der Welt der Literatur<br />
zwar mit Gedichten und einem Essay<br />
über den amerikanischen Schriftsteller Howard<br />
Philipps Lovecraft (H. P. Lovecraft. Contre<br />
le monde, contre la vie, Éditions du Rocher,<br />
1991), doch vor allem seine Romane machten<br />
ihn zu dem Phänomen, das er heute ist. Und<br />
dabei lassen sich die Bücher des Schriftstellers,<br />
dessen amerikanischer Verlag Random<br />
House sagt, er sei « der wichtigste französische<br />
Schriftsteller seit Camus », schwierig in die<br />
klassischen Schubladen literarischer Genres<br />
einordnen: Roman, Essay, Dichtung,<br />
Krimi, Biografie, Science-<br />
Fiction … In jedem der Werke<br />
Houellebecqs steckt von allem etwas.<br />
Und genau das ist zweifellos<br />
einer der Gründe für den Erfolg.<br />
Auch anéantir weicht nicht von<br />
diesem Prinzip ab: Mitten im Präsidentschaftswahlkampf<br />
2027 gerät<br />
das Leben des fünfzigjährigen<br />
Paul Raison – ein Träumer und<br />
Einzelgänger – durch den Herz-<br />
Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2022</strong> · 67