Nr. 82 - Frühling 2022

1991 leider dem schrecklichen Frost zum Opfer fielen. Damit
war das Weinprojekt zu Ende. Ihre Mutter machte dann 1998
eine Erbschaft, die die Chance für einen Neuanfang bot …
Ja, und es lag in der Natur der Dinge, dass sie wieder
ein Weingut übernehmen wollte. Ich erinnere mich
daran, dass wir rund 40 besichtigt haben. Aber keines
passte wirklich. Im Bordelais ist das wirklich nicht einfach.
Man muss immer komplexe Entscheidungen treffen.
Wir hatten beispielsweise die Wahl zwischen zwei
Hektar der Appellation Pomerol und zwanzig im Gebiet
Lalande-de-Pomerol. Und eines Tages entdeckte ich ganz
durch Zufall bei einem Immobilienmakler das Foto eines
Anwesens, das ich sofort erkannte: Es war Les Milandes!
Sofort zeigte ich es Mama. Obwohl wir jahrelang Nachbarn
des Schlosses gewesen waren, hatten wir niemals die
Gelegenheit gehabt, es zu besichtigen. Aus Neugier vereinbarte
sie also einen Besichtigungstermin. Und so kam
es, dass wir an den Ort zurückkehrten, wo wir gewohnt
hatten, um endlich das Schloss von Joséphine zu betreten.
Oben: die Küche, in
der Joséphine immer
gerne Zeit mit ihren
Kindern verbrachte.
Das war im wahrsten Sinne des Wortes Liebe auf den ersten
Blick …
Genau! Sofort! Obwohl sich im Schloss überhaupt
keine Möbel mehr befanden, erschien es uns, als würde
Joséphine noch immer hier leben. Es war eine sehr seltsame
physische Erfahrung. Ich hatte persönlich wirklich
den Eindruck, von diesem Ort « herbeigerufen » worden
zu sein. Auf der Stelle fühlte ich mich von einer regelrechten
Mission besessen, dieses Kulturgut zu schützen und
die außergewöhnliche Frau, die Joséphine war, ins rechte
Licht zu setzen. Am Ende hatten wir das Weinprojekt
vollkommen vergessen! Mama beschloss Les Milandes
zu kaufen und beauftragte mich damit, ein Konzept auszuarbeiten,
wie man das Andenken an Joséphine wieder
aufleben lassen konnte.
Im Alter von 25 Jahren waren Sie also plötzlich mit der Leitung
eines etwas verrückten Projektes betraut …
Vollkommen verrückt sogar! Ich war darauf vorbereitet,
ein Weingut zu leiten, und fand mich an der Spitze
eines leeren Schlosses aus dem 15. Jahrhundert mit 80
Zimmern, einer Fläche von über 1100 m 2 und einem Park
in einem katastrophalen Zustand wieder! Ich kann Ihnen
versichern, dass ich mich kaum traute, jemandem davon
zu erzählen, denn sobald ich es tat, gab es Einwände, man
machte sich lustig. Ich merkte sehr wohl, dass man mich
oft als « die Tochter von Mama und Papa » betrachtete,
die keine Geldsorgen und keine unternehmerische Erfahrung
hatte, die mit ihrem Vorhaben auf die Nase fallen
würde … Aber ich war entschlossen, habe an das Projekt
geglaubt. Und Joséphine hat mich geleitet, davon bin ich
überzeugt!
Und das war gut so! Château des Milandes ist heute mit mehr
als 100 000 Besuchern pro Jahr eine der beliebtesten touristischen
Sehenswürdigkeiten im Périgord. Seit drei Jahren schrei-
Frankreich erleben · Frühling 2022 · 45