I Allgemeine Erzähltheorie - Bodil Zalesky
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Beobachters (oder einer Kamera) aus” 122 , ”Die Erzählperspektive ist [...] quasi von außen<br />
begrenzt (wie durch das Objektiv einer Kamera) und erfaßt äußere Realität nur mit Hilfe<br />
minimaler Beschreibung und ausgedehnter direkter Personenrede. Bewußtseinsprozesse<br />
werden vom Text radikal ausgeklammert” 123 . Das, was unklar bleibt, ist das Verhältnis<br />
zwischen neutraler und personaler Erzählsituation. Ist nun die neutrale Erzählsituation eine<br />
eigenständige Erzählsituation oder ist sie ein Teil der personalen? Das Wort ”zumindest” in<br />
dem vorhin zitierten letzten Satz des Kapitels (”Es ist [...] durchaus sinnvoll, die neutrale<br />
Erzählsituation zumindest als Variante der personalen gelten zu lassen.” 124 ) trägt zur<br />
Beibehaltung dieser Unklarheit bei. Gehen wir einen Schritt weiter: Ist es möglicherweise so,<br />
daß das eigentliche Problem von der schwer abgrenzbaren Kategorie ”neutrale<br />
Erzählsituation” an sich sich ableiten läßt?<br />
5.6 Abschließender Kommentar<br />
Es hat sich hier gezeigt, daß der Begriff ”neutral” ziemlich unterschiedlich definiert werden kann.<br />
Gemeinsam für alle Definitionen ist eigentlich nur, daß Objektivität mit dem Begriff verbunden<br />
wird. Was bedeutet nun Objektivität? Zum Stichwort ”objektiv” habe ich in Wahrig u.a.<br />
folgendes gefunden: ”gegenständlich, tatsächlich; sachlich, vorurteilsfrei, unparteiisch;<br />
allgemeingültig” 125 . Gibt es überhaupt ein objektives fiktionales Erzählen? Ist ein unsichtbarer<br />
Beobachter notwendigerweise objektiv? Bedeutet die Tatsache, daß weder aus der Sicht<br />
des Narrators noch aus der Sicht einer Figur erzählt wird, unbedingt Objektivität? Wenn ein<br />
Erzähler als Fokus der Erzählung einen Punkt des diegetischen Universums, der mit keiner der<br />
Figuren koinzidiert, wählt, garantiert das dann Objektivität? Ist das Erzählen eines Narrators,<br />
der weniger sagt, als die Figur weiß, wirklich mit Sicherheit objektiv? Oder wird das Wort<br />
”objektiv” einfach nur als Synonym für ”neutral” gesehen?<br />
Der einzige, der neutrales Erzählen mit einer Möglichkeit zur Innensicht verbindet, ist Petersen.<br />
Vielleicht kann das mit seiner Definition von auktorialem Erzählverhalten zusammenhängen.<br />
Diese enthält ja nichts von einem unbegrenzten Potential des Erzählers, sondern beschränkt<br />
sich auf Beschreibungen von verschiedenen Formen der Erzählereinmischung und auf das<br />
Betonen der Sehweise des Erzählers. Petersens auktorialer Erzähler kann also nicht, wenn<br />
man es so ausdrückt, den Einblick in das Innere der Figuren für sich allein beanspruchen - es<br />
wird nämlich nirgendwo gesagt, daß er dieses Privileg hat.<br />
Die Standpunkte der hier herangezogenen Literaturwissenschaftler können, meine ich, in zwei<br />
Hauptpositionen eingeteilt werden. Die eine besteht darin, daß neutrales Erzählverhalten mit<br />
einem Erzählen aus einer begrenzten auktorialen Perspektive gleichgestellt werden könnte.<br />
Genette und Petersen befinden sich dieser Position am nächsten. Die andere Hauptposition<br />
ist, daß neutrales Erzählen eine Variante der personalen Erzählsituation ist - es wird aus der<br />
Perspektive einer Figur, die nicht figuriert, erzählt. Hier finden wir Stanzel in ”Die typischen<br />
Erzählsituationen” und Vogt.<br />
122 Vogt 1998 S. 50<br />
123 Vogt 1998 S. 55-56<br />
124 Vogt 1998 S. 57<br />
125 Wahrig 1986 S. 949