26.01.2022 Aufrufe

RA 02/2022 - Entscheidung des Monats

Der Beschluss des BVerfG hat Äußerungen über den bekannten Sänger Xavier Naidoo zum Gegenstand und zeigt exemplarisch, wie schwer es selbst für Obergerichte ist, Aussagen als Meinungskundgabe einzustufen und deren Inhalt richtig zu erfassen.

Der Beschluss des BVerfG hat Äußerungen über den bekannten Sänger Xavier Naidoo zum Gegenstand und zeigt exemplarisch, wie schwer es selbst für Obergerichte ist, Aussagen als Meinungskundgabe einzustufen und deren Inhalt richtig zu erfassen.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Ihre neuen Begleiter<br />

für die Examens-<br />

vorbereitung<br />

Neuauflagen aus der C<strong>RA</strong>SHKURS und KOMPAKT-Reihe<br />

Jetzt bestellen!<br />

C<strong>RA</strong>SHKURS Öffentliches Recht - Baden-Württemberg<br />

8. Aufl., Stand: 01/22, 196 Seiten<br />

nur<br />

24,90 €<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Kompakte Darstellung <strong>des</strong> materiellen Rechts<br />

Länderspezifisch<br />

Prüfungsschemata und Definitionen<br />

Aktuelle Rechtsprechungsauswertung<br />

Examenstipps<br />

Inkl. Änderung <strong>des</strong><br />

PolG 2<strong>02</strong>1!<br />

nur<br />

16,90 €<br />

KOMPAKT Lan<strong>des</strong>recht - Baden-Württemberg<br />

4. Aufl., Stand: 01/22, 103 Seiten<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Klausurrelevante Probleme im Überblick<br />

Prüfungsschemata mit Definitionen<br />

Prüfungsschemata mit Problemen<br />

Streitstände komprimiert dargestellt<br />

Inkl. Änderung <strong>des</strong><br />

PolG 2<strong>02</strong>1!<br />

verlag.jura-intensiv.de<br />

Stand: Januar 2<strong>02</strong>2


<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>2<br />

Öffentliches Recht<br />

85<br />

ÖFFENTLICHES RECHT<br />

Problem: Bezeichnung eines Sängers als Antisemiten<br />

(Xavier Naidoo)<br />

Einordnung: Grundrechte<br />

BVerfG, Beschluss vom 11.11.2<strong>02</strong>1<br />

1 BvR 11/20<br />

EINLEITUNG<br />

Der Beschluss <strong>des</strong> BVerfG hat Äußerungen über den bekannten Sänger Xavier<br />

Naidoo zum Gegenstand und zeigt exemplarisch, wie schwer es selbst für<br />

Obergerichte ist, Aussagen als Meinungskundgabe einzustufen und deren<br />

Inhalt richtig zu erfassen.<br />

SACHVERHALT<br />

Die Beschwerdeführerin (B) hielt als Fachreferentin im Sommer 2017 einen<br />

Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher<br />

Spezifik“. Nach dem Vortrag äußerte B auf eine Nachfrage, wie sie den Kläger<br />

(K) <strong>des</strong> Ausgangsverfahrens einstufe: „Ich würde ihn zu den Souveränisten<br />

zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich,<br />

glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist<br />

strukturell nachweisbar.“<br />

K ist ein bekannter deutscher Sänger. Im Jahr 2009 verfasste er unter anderem<br />

ein Lied, in <strong>des</strong>sen vierter Strophe es heißt: „Wie die Jungs von der Keinherzbank,<br />

die mit unserer Kohle zocken / Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren<br />

Socken / Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der<br />

Schmock ist‘n Fuchs und ihr seid nur Trottel“. Weiter heißt es in einem Liedtext<br />

aus dem Jahr 2017 auszugsweise: „Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein<br />

/ Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald<br />

ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“. Im Jahr 2014<br />

hielt er eine Rede bei einer Versammlung sogenannter Reichsbürger vor dem<br />

Reichstag. Im Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 äußerte er sich<br />

dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte,<br />

Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung <strong>des</strong> K <strong>des</strong><br />

Ausgangsverfahrens waren unter anderem Gegenstand eines Berichts <strong>des</strong><br />

Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus <strong>des</strong> Deutschen Bun<strong>des</strong>tages<br />

sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen.<br />

Das Landgericht untersagte B, wörtlich oder sinngemäß die streitgegenständliche<br />

Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten. Die dagegen eingelegte<br />

Berufung zum Oberlan<strong>des</strong>gericht blieb erfolglos. Die beanstandete Äußerung<br />

sei zwar eine Meinungsäußerung, obwohl sie einen Tatsachenkern enthalte.<br />

Eine Gesamtabwägung ergebe aber, dass der Eingriff in die Ehre und das<br />

Persönlichkeitsrecht rechtswidrig gewesen sei. Die personale Würde <strong>des</strong> K<br />

sei beeinträchtigt und es sei eine Prangerwirkung gegeben. Die Bezeichnung<br />

als „Antisemit“ sei ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff. Sie<br />

sei überdies mehrdeutig und reiche von einem weiten Begriffsverständnis,<br />

wonach jeder, der eine wie auch immer geartete negative Wahrnehmung von<br />

Juden habe, als Antisemit zu begreifen sei, bis zu einem engen Verständnis,<br />

wonach Antisemitismus gleichbedeutend mit Judenhass sei. Dem Werturteil<br />

der B liege außerdem ein tatsächlich unrichtiger Äußerungsgehalt zugrunde.<br />

LEITSÄTZE (DER REDAKTION)<br />

1. Bei der Äußerung „Er ist Antisemit“<br />

handelt es sich um eine Meinungsäußerung.<br />

2. Die sog. Stolpe-Rechtsprechung<br />

<strong>des</strong> BVerfG (Beschluss vom<br />

25.10.2005, 1 BvR 1696/98)<br />

gelangt nur zur Anwendung,<br />

wenn es sich um eine mehrdeutige<br />

Aussage handelt. Folglich<br />

haben die Fachgerichte zunächst<br />

zu klären, ob überhaupt eine<br />

mehrdeutige Aussage vorliegt.<br />

© Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG


86 Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>2<br />

Maßgeblich sei, ob die in den Werturteilen enthaltenen Tatsachenbehauptungen<br />

zuträfen oder ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellt seien. Die objektive<br />

Richtigkeit <strong>des</strong> tatsächlichen Äußerungsgehalts ihrer Aussage sei aber nicht<br />

hinreichend belegt.<br />

B rügt eine Verletzung ihres Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1<br />

1. Hs. GG.<br />

Obersatz<br />

Persönlicher und sachlicher Schutzbereich<br />

Definition „Meinung“<br />

Schildheuer, JU<strong>RA</strong> INTENSIV, Grundrechte,<br />

Rn 318 f.<br />

Definition „Eingriff“<br />

Schildheuer, JU<strong>RA</strong> INTENSIV, Grundrechte,<br />

Rn 103<br />

Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte<br />

im Zivilrecht<br />

LÖSUNG<br />

B ist in ihrem Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG verletzt, wenn ein Eingriff in<br />

den Schutzbereich vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist.<br />

I. Eingriff in den Schutzbereich<br />

Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich <strong>des</strong> Art. 5 I 1 1. Hs. GG vorliegen.<br />

Art. 5 I 1 1. Hs. GG schützt für jedermann das Recht auf freie Meinungsäußerung.<br />

Unter Meinung sind alle Werturteile zu verstehen, also jede Äußerung, die<br />

durch die Elemente der Stellungnahme, <strong>des</strong> Dafürhaltens oder Meinens im<br />

Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung geprägt ist. B verwendete in den<br />

ersten beiden Sätzen ihrer streitgegenständlichen Äußerungen wertungsoffene<br />

Begriffe („Souveränist, mit einem Bein bei den Reichsbürgern“; „Antisemit“),<br />

brachte also Werturteile über den K zum Ausdruck, sodass es sich<br />

um Meinungsäußerungen handelt. Der dritte Satz „Aber das ist strukturell<br />

nachweisbar“ steht im untrennbaren Zusammenhang mit der Meinungsäußerung<br />

„Er ist Antisemit“ und ist somit ebenfalls als Werturteil zu qualifizieren.<br />

Folglich ist der sachliche Schutzbereich <strong>des</strong> Art. 5 I 1 1. Hs. GG eröffnet.<br />

Unter einem Eingriff ist je<strong>des</strong> staatliche Verhalten zu verstehen, das den Schutzbereich<br />

eines Grundrechts verkürzt, d.h. die Grundrechtsausübung ganz oder<br />

teilweise unmöglich macht. Da es sich vorliegend um einen Zivilrechtsstreit<br />

handelt und die Grundrechte zwischen Privatpersonen keine unmittelbare<br />

Wirkung entfalten (vgl. Art. 1 III GG), ist fraglich, ob die angegriffenen Zivilurteile<br />

geeignete Anknüpfungspunkte für einen Grundrechtseingriff sind.<br />

„[14] Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen<br />

ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte. Bei ihrer <strong>Entscheidung</strong><br />

haben sie jedoch dem Einfluss der Grundrechte auf die Vorschriften<br />

<strong>des</strong> Zivilrechts Rechnung zu tragen. Handelt es sich um Gesetze, die die<br />

Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei […] das eingeschränkte Grundrecht<br />

zu beachten, damit <strong>des</strong>sen wertsetzende Bedeutung auch auf der<br />

Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. […]“<br />

Demnach sind die Zivilgerichte bei ihrer Rechtsfindung an die Meinungsfreiheit<br />

gebunden. Indem sie B die Verbreitung der streitgegenständlichen<br />

Äußerungen untersagten, verkürzten sie den Schutzbereich der Meinungsfreiheit.<br />

Folglich liegt ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG vor.<br />

Obersatz<br />

Definition „allgemeine Gesetze“<br />

Schildheuer, JU<strong>RA</strong> INTENSIV, Grundrechte,<br />

Rn 369<br />

II. Rechtfertigung <strong>des</strong> Eingriffs<br />

Der Eingriff in den Schutzbereich <strong>des</strong> Grundrechts ist verfassungsrechtlich<br />

gerechtfertigt, wenn er durch die Schranken <strong>des</strong> Grundrechts gedeckt ist.<br />

1. Festlegung der Schranke<br />

Die Grundrechte aus Art. 5 I GG finden ihre Schranke in dem qualifizierten<br />

Gesetzesvorbehalt <strong>des</strong> Art. 5 II GG. Hier könnte die Schranke der allgemeinen<br />

Gesetze einschlägig sein. Allgemeine Gesetze sind solche Bestimmungen,<br />

die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern<br />

© Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG


<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>2<br />

Öffentliches Recht<br />

87<br />

dem Schutz eines höherrangigen Rechtsguts dienen, also dem Schutz eines<br />

Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit<br />

den Vorrang hat. Dabei hat das einschränkende Gesetz seinerseits die besondere<br />

Bedeutung <strong>des</strong> Grundrechts aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG zu beachten,<br />

das für einen demokratischen Rechtsstaat geradezu konstituierend ist und<br />

somit eines der vornehmsten und wichtigsten Grundrechte darstellt. Das<br />

begrenzende Gesetz wird also wiederum begrenzt durch die hohe Wertigkeit<br />

der Meinungsfreiheit (sog. Wechselwirkungslehre). Die zivilgerichtlichen<br />

Verurteilungen stützen sich auf § 1004 I BGB und § 823 II BGB i.V.m.<br />

§ 186 StGB. Diese Vorschriften sind meinungsneutral und schützen mit der<br />

persönlichen Ehre ein durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG verfassungsrechtlich<br />

geschütztes Rechtsgut, das sich gegen die Meinungsfreiheit durchsetzen<br />

kann, sodass es sich um allgemeine Gesetze i.S.v. Art. 5 II GG handelt.<br />

Wechselwirkungslehre sollte hier<br />

schon erwähnt werden, hat eigentlichen<br />

Anwendungsbereich aber erst<br />

in der Angemessenheitsprüfung.<br />

2. Schranken-Schranken<br />

a) Verfassungsmäßigkeit von § 1004 I BGB und § 823 II BGB i.V.m. § 186 StGB<br />

Die Normen sind formell und materiell verfassungsgemäß, insbesondere sind<br />

sie einer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung im Einzelfall zugänglich.<br />

Unproblematisch, daher nur Ergebnissatz.<br />

Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit<br />

der Vorschriften gar nicht<br />

erst geprüft.<br />

b) Verfassungsmäßigkeit <strong>des</strong> Einzelakts<br />

Die Anwendung der Normen durch die Zivilgerichte muss den verfassungsrechtlichen<br />

Anforderungen genügen, d.h. verhältnismäßig sein. Fraglich ist<br />

allein die Angemessenheit der Verurteilung im Lichte der oben erwähnten<br />

Wechselwirkungslehre.<br />

„[17] Weichenstellend für die Prüfung einer Grundrechtsverletzung ist die<br />

Erfassung <strong>des</strong> Inhalts der Aussage, insbesondere die Klärung, in welcher<br />

Hinsicht sie ihrem objektiven Sinn nach das Persönlichkeitsrecht <strong>des</strong> Klägers<br />

<strong>des</strong> Ausgangsverfahrens beeinträchtigt. Maßgeblich für die Deutung ist<br />

[…] der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen<br />

und verständigen Durchschnittspublikums hat, […]<br />

[20] […] ist die Äußerung der Beschwerdeführerin „Ich würde ihn zu den<br />

Souveränisten zählen … strukturell nachweisbar.“ […] unzweideutig<br />

dahingehend zu verstehen, die Beschwerdeführerin halte den Kläger <strong>des</strong><br />

Ausgangsverfahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern<br />

nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die<br />

nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen,<br />

und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut<br />

weitertrage. Die Rezipienten in der konkreten Veranstaltung durften die<br />

Äußerung der Beschwerdeführerin dahingehend verstehen, sie halte die<br />

vom Kläger <strong>des</strong> Ausgangsverfahrens in seinen Werken transportierten Ansichten<br />

für antisemitisch, also feindlich gegenüber Juden eingestellt;<br />

für diese Bewertung bestünden […] entsprechende Anknüpfungspunkte.<br />

Entgegen der Ansicht <strong>des</strong> Berufungsgerichts bedurfte es daher mangels<br />

Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der in<br />

der <strong>Entscheidung</strong> vom 25. Oktober 2005 - 1 BvR 1696/98 -, […] vom<br />

Bun<strong>des</strong>verfassungsgericht niedergelegten Grundsätze zur Auslegung<br />

mehrdeutiger Meinungsäußerungen. […]<br />

Kernvoraussetzung für eine fehlerfreie<br />

Abwägung: Richtige Erfassung<br />

<strong>des</strong> Inhalts der Meinungsäußerung<br />

Subsumtion: OLG hat die Äußerungen<br />

falsch verstanden, ist von<br />

einer Mehrdeutigkeit ausgegangen,<br />

die gar nicht vorliegt. Deshalb auch<br />

keine Heranziehung der sog. Stolpe-<br />

Respr. <strong>des</strong> BVerfG.<br />

© Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG


88 Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>2<br />

Weiterer Fehler der Zivilgerichte:<br />

Einordnung einer Äußerung als Tatsachenbehauptung,<br />

obwohl es sich<br />

um ein Werturteil handelt.<br />

Auch Abwägung <strong>des</strong> OLG ist falsch<br />

Die vom OLG angenommene Prangerwirkung<br />

ist abwegig, weil K die Öffentlichkeit<br />

sucht, um dort seine umstrittenen<br />

Äußerungen zu platzieren.<br />

BVerfG zeigt auf, welche Konsequenzen<br />

die OLG-Rechtsprechung<br />

hätte.<br />

[21] Ebenfalls zutreffend rügt die Beschwerdeführerin, dass die Fachgerichte<br />

bei ihrer Abwägung verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen<br />

sind, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche<br />

Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer<br />

Äußerung nicht habe belegen können. […] Der in der Äußerung enthaltene<br />

Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist jedoch keine Tatsachenbehauptung,<br />

auf der die Bewertung <strong>des</strong> Klägers <strong>des</strong> Ausgangsverfahrens<br />

als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen<br />

Nachweises kommt es damit nicht an.<br />

[22] Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme <strong>des</strong><br />

Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen<br />

sei der Vorhalt <strong>des</strong> Antisemitismus bei einem Sänger, der<br />

von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen<br />

Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das<br />

Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der<br />

Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht<br />

lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen<br />

geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit<br />

wesentlich berührenden Frage erörtert – namentlich ob der<br />

Kläger als bekannter Sänger in seinen Liedtexten und durch seine Äußerungen<br />

antisemitische Klischees und Ressentiments bedient. […]<br />

[23] Der Kläger <strong>des</strong> Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen<br />

Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. […] Schon<br />

<strong>des</strong>halb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe<br />

eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben<br />

nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung<br />

eines Teils <strong>des</strong> Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen<br />

besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an<br />

den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen.<br />

Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion<br />

möglich sein. Gegen die Meinung der Beschwerdeführerin könnte sich<br />

der Kläger <strong>des</strong> Ausgangsverfahrens im Meinungskampf seinerseits<br />

wieder öffentlich zur Wehr setzen.“<br />

Demnach ist der Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht<br />

gerechtfertigt, sodass B in ihrem Grundrecht aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG verletzt ist.<br />

FAZIT<br />

Ist die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit zu prüfen,<br />

muss im Rahmen der Angemessenheit in einem 1. Prüfungsschritt der Inhalt<br />

der Äußerung richtig erfasst werden, bevor man in einem 2. Prüfungsschritt zur<br />

eigentlichen Abwägung gelangt. Gelingt den Gerichten bereits der 1. Prüfungsschritt<br />

nicht, liegt automatisch eine Verletzung der Meinungsfreiheit vor –<br />

das zeigt die <strong>Entscheidung</strong> <strong>des</strong> BVerfG sehr deutlich. Daher darf auch nicht<br />

vorschnell von einer mehrdeutigen Äußerung und der Anwendung der<br />

sog. Stolpe-Rechtsprechung ausgegangen werden. Deren Kernaussage ist im<br />

Übrigen, dass im Fall <strong>des</strong> begehrten Unterlassens einer mehrdeutigen Aussage<br />

diejenige Deutungsvariante zugrunde zu legen ist, die das Persönlichkeitsrecht<br />

am schwersten beeinträchtigt.<br />

© Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG


WISSEN was<br />

geprüft wird<br />

Für Studierende & Referendare<br />

EXAMENSTREFFER<br />

aus der <strong>RA</strong> und den Crashkursskripten<br />

Für einen schnellen Überblick der Examenstreffer aus <strong>RA</strong> und Crashkursskript (CK)<br />

unsere aktuelle Aufstellung für Sie:<br />

EXAMENSTREFFER ZIVILRECHT<br />

April 2<strong>02</strong>1 1. Ex., Z I NRW <strong>RA</strong> 12/19, 620; <strong>RA</strong> 08/20, 400; CK ZR, Az.: III ZR 113/18, VIII ZR 315/18<br />

Januar 2<strong>02</strong>1 2. Ex., Z II HE <strong>RA</strong> 06/20, 281; CK ZR, Az.: VIII ZR 18/19<br />

Januar 2<strong>02</strong>1 2. Ex., AW HE <strong>RA</strong> 12/20, 617<br />

Oktober 2<strong>02</strong>0 1. Ex., Z III HE <strong>RA</strong> 06/17, 291<br />

September 2<strong>02</strong>0 2. Ex., Z II HE <strong>RA</strong> 09/16, 454; <strong>RA</strong> 01/18, 17; CK ZR, Az.: IX ZR 305/16<br />

August 2<strong>02</strong>0 1. Ex., Z I HE, RP, SN, SA <strong>RA</strong> 01/10, 25; <strong>RA</strong> 04/10, 211; CK ZR, Az.: XII ZR 108/17<br />

August 2<strong>02</strong>0 1. Ex., Z III SN <strong>RA</strong> 10/13, 709; <strong>RA</strong> 08/14, 389; CK ZR, Az.: VII ZR 241/13<br />

August 2<strong>02</strong>0 1. Ex., Z I TH <strong>RA</strong> 10/13, 709; <strong>RA</strong> 08/14, 389; CK ZR, Az.: VII ZR 241/13<br />

Juni 2<strong>02</strong>0 1. Ex., Z II HE <strong>RA</strong> 01/17, 10; <strong>RA</strong> 12/17, 617; CK ZR, Az.: VIII ZR 211/15, VIII ZR 271/16<br />

Juni 2<strong>02</strong>0 2. Ex., Z IV RP, BW <strong>RA</strong> <strong>02</strong>/17, 65; CK ZR, Az.: 17 U 52/16<br />

EXAMENSTREFFER ÖFFENTLICHES RECHT<br />

Dezember 2<strong>02</strong>1 2. Ex., ÖR I BW <strong>RA</strong> 01/21, 29; CK BW, Az.: 11 B 1459/20<br />

Oktober 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR I HE, NRW <strong>RA</strong> 07/21, 370; CK HE/NRW, Az.: 2 B 1193/21<br />

September 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR II BW <strong>RA</strong> 09/19, 482; CK BW, Az.: 10 B 10515/19<br />

August 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR II NRW <strong>RA</strong> 08/20, 427; <strong>RA</strong> 01/21, 33; CK NRW, Az.: 13 B 695/20.NE<br />

Juli 2<strong>02</strong>1 2. Ex., ÖR I HE <strong>RA</strong> 11/17, 598<br />

Juni 2<strong>02</strong>1 2. Ex., ÖR II BW <strong>RA</strong> 10/20, 541<br />

Juni 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR I HE <strong>RA</strong> <strong>02</strong>/20, 89<br />

Februar/März 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR II TH<br />

<strong>RA</strong> 10/19, 529 f.; CK TH, Az.: 1 BvL 1/18 u.a.<br />

Februar/März 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR I BW <strong>RA</strong> Telegramm 07/20, 87 f.; CK BW, Az.: 8 CN 1.19<br />

Februar 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR II NRW <strong>RA</strong> 10/20, 533; CK NRW, Az.: Vf. 32-IX-20<br />

Februar 2<strong>02</strong>1 1. Ex., ÖR II HE, RP, BW <strong>RA</strong> 10/19, 529; CK HE/RP/BW, Az.: 1 BvL 1/18<br />

EXAMENSTREFFER ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />

November 2<strong>02</strong>1 1. Ex., SR NRW <strong>RA</strong> 08/20, 440; CK SR, Az.: RVs 12/20<br />

Mai 2<strong>02</strong>1 2. Ex., SR HE, NRW <strong>RA</strong> <strong>02</strong>/20, 106; CK SR, Az.: 2 StR 85/19<br />

März 2<strong>02</strong>1 2. Ex., SR HE, NRW <strong>RA</strong> 08/20, 440<br />

Februar 2<strong>02</strong>1 1. Ex., SR HE, RP <strong>RA</strong> 07/20, 348<br />

Januar 2<strong>02</strong>1 2. Ex., SR HE, NRW <strong>RA</strong> Telegramm 12/20, 129<br />

September 2<strong>02</strong>0 1. Ex., SR BY <strong>RA</strong> 01/18, 48; <strong>RA</strong> 10/19, 545; CK SR, Az.: 2 StR 154/17, 3 StR 333/18<br />

September 2<strong>02</strong>0 2. Ex., SR HE, NRW <strong>RA</strong> 03/20, 157<br />

Juni 2<strong>02</strong>0 1. Ex., SR HE <strong>RA</strong> 01/20, 48<br />

Januar 2<strong>02</strong>0 2. Ex., SR NRW, HE <strong>RA</strong> 01/18, 48; <strong>RA</strong> 10/19, 545; CK SR, Az.: 2 StR 154/17, 3 StR 333/18<br />

Oktober 2019 2. Ex., SR NRW, RP <strong>RA</strong> Telegramm 01/19, 6<br />

Stand: Januar 2<strong>02</strong>2<br />

Weitere Examenstreffer finden Sie<br />

auf unserer Homepage!<br />

verlag.jura-intensiv.de/kostenlose-lerninhalte


ZUM SHOP<br />

Geschmack auf mehr?<br />

Die VOLLVERSION gibt‘s hier!<br />

<strong>RA</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>2<br />

Unsere Zeitschrift<br />

ist als Print- &<br />

Digitalausgabe<br />

erhältlich.<br />

Ab<br />

4,99 €<br />

Weitere Informationen zu unseren <strong>RA</strong>-Optionen<br />

gibt es in unserem Online-Shop!<br />

verlag.jura-intensiv.de/ra-ausbildungszeitschrift

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!