Materialmappe_Die Wand_Endfassung
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
21<br />
Das Bild war nicht dazu da, der Gesellschaft zu erklären, dass er ein nützliches Mitglied in ihrer Mitte<br />
war. Stattdessen trug er schon mal eine modische Mütze und malte sich in feinsten Stoff gekleidet. Er<br />
war gewissermaßen gestylt. Seine Selbstbildnisse machten die Marke Dürer zum Hit: Sie brachten ihm<br />
damals viele Aufträge ein. Denn wer zu einem solchen Blick auf sich selbst fähig war, dem traute man<br />
auch zu, in anderen das Besondere zu sehen und darzustellen. Somit hat Dürers Selbstbildnis durchaus<br />
etwas mit den modernen Selfies gemein: Auch in diesen Bildern präsentiert sich jemand, um andere<br />
von seinen Qualitäten zu überzeugen.<br />
Erst das Digitale führte zu einer größeren Unbeschwertheit in der Fotografie<br />
Weniger begabten Menschen war es danach lange Zeit unmöglich, ihrem Selbst einen solchen Ausdruck<br />
zu geben – das blieb sogar im Zeitalter der Fotografie noch schwierig. Man musste sich in ein<br />
Atelier begeben, sich ausleuchten und vom Fotografen in Pose setzen lassen. <strong>Die</strong> frühen Fotografien<br />
zeigen Gesichter, die wie eingefroren wirken. Voller Furcht vor den Augen der Welt, derer sich die<br />
Abgelichteten erst bewusst wurden in dem Augenblick, in dem der Auslöser gedrückt wurde. Es war<br />
immer noch der fremde Blick, der das Ich formte, nicht der eigene. Erst das Digitale führte zu einer<br />
größeren Unbeschwertheit in der Fotografie. Seitdem lässt sich der Blick auf sich selbst unendlich variieren.<br />
Das Bild ist ja sofort sichtbar, und man kann es sofort löschen und ein neues machen, das dem<br />
Bild, das man von sich selbst hat, näher kommt.<br />
Für den letzten Schritt vom Selbstporträt zum Selfie war die Verbreitung des Smartphones nötig. Eine<br />
Kamera hat man nur bei bestimmten Gelegenheiten dabei, in einer bestimmten Absicht. Das Smartphone<br />
dagegen begleitet uns immer. Nun lässt sich jeder Moment festhalten und gleich weiterverbreiten.<br />
Da ist es unvermeidlich, dass auch die Mode vom Selfie-Kult bestimmt wird. Man zieht sich nicht<br />
nur für einen gesellschaftlichen Anlass an, bei dem man sich in Szene setzt – sondern gleichzeitig für<br />
alle, die das von dort gepostete Selbstbildnis zu sehen bekommen. Das Selfie macht aus dem Leben<br />
eine ständige Ich-Kampagne.<br />
Wer ein Selfie postet, ist gleichzeitig da – und überall<br />
Es ist nicht für die Nachwelt geschaffen, sondern für das Hier und Jetzt. Es ruft: Ich bin jetzt hier! Ich<br />
bin dabei! Schaut mich an! Ich bin nicht alleine! Wer ein Selfie postet, ist gleichzeitig da – und überall.<br />
Wir sind heute alle Künstler, die an unserem eigenen Bildnis arbeiten und ständig neue Versionen von<br />
uns in die Welt hinaussenden. Wohl wenig hat unser Stilempfinden mehr beeinflusst. Selfies setzen<br />
modische Standards, die vielleicht gar nicht so leicht zu erreichen sind.<br />
Theaterpädagogisches Begleitmaterial I Klara Ring I Telefon: 03981 277170 I E-Mail: k.ring@tog.de