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Materialmappe_Die Wand_Endfassung

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Das Bild war nicht dazu da, der Gesellschaft zu erklären, dass er ein nützliches Mitglied in ihrer Mitte<br />

war. Stattdessen trug er schon mal eine modische Mütze und malte sich in feinsten Stoff gekleidet. Er<br />

war gewissermaßen gestylt. Seine Selbstbildnisse machten die Marke Dürer zum Hit: Sie brachten ihm<br />

damals viele Aufträge ein. Denn wer zu einem solchen Blick auf sich selbst fähig war, dem traute man<br />

auch zu, in anderen das Besondere zu sehen und darzustellen. Somit hat Dürers Selbstbildnis durchaus<br />

etwas mit den modernen Selfies gemein: Auch in diesen Bildern präsentiert sich jemand, um andere<br />

von seinen Qualitäten zu überzeugen.<br />

Erst das Digitale führte zu einer größeren Unbeschwertheit in der Fotografie<br />

Weniger begabten Menschen war es danach lange Zeit unmöglich, ihrem Selbst einen solchen Ausdruck<br />

zu geben – das blieb sogar im Zeitalter der Fotografie noch schwierig. Man musste sich in ein<br />

Atelier begeben, sich ausleuchten und vom Fotografen in Pose setzen lassen. <strong>Die</strong> frühen Fotografien<br />

zeigen Gesichter, die wie eingefroren wirken. Voller Furcht vor den Augen der Welt, derer sich die<br />

Abgelichteten erst bewusst wurden in dem Augenblick, in dem der Auslöser gedrückt wurde. Es war<br />

immer noch der fremde Blick, der das Ich formte, nicht der eigene. Erst das Digitale führte zu einer<br />

größeren Unbeschwertheit in der Fotografie. Seitdem lässt sich der Blick auf sich selbst unendlich variieren.<br />

Das Bild ist ja sofort sichtbar, und man kann es sofort löschen und ein neues machen, das dem<br />

Bild, das man von sich selbst hat, näher kommt.<br />

Für den letzten Schritt vom Selbstporträt zum Selfie war die Verbreitung des Smartphones nötig. Eine<br />

Kamera hat man nur bei bestimmten Gelegenheiten dabei, in einer bestimmten Absicht. Das Smartphone<br />

dagegen begleitet uns immer. Nun lässt sich jeder Moment festhalten und gleich weiterverbreiten.<br />

Da ist es unvermeidlich, dass auch die Mode vom Selfie-Kult bestimmt wird. Man zieht sich nicht<br />

nur für einen gesellschaftlichen Anlass an, bei dem man sich in Szene setzt – sondern gleichzeitig für<br />

alle, die das von dort gepostete Selbstbildnis zu sehen bekommen. Das Selfie macht aus dem Leben<br />

eine ständige Ich-Kampagne.<br />

Wer ein Selfie postet, ist gleichzeitig da – und überall<br />

Es ist nicht für die Nachwelt geschaffen, sondern für das Hier und Jetzt. Es ruft: Ich bin jetzt hier! Ich<br />

bin dabei! Schaut mich an! Ich bin nicht alleine! Wer ein Selfie postet, ist gleichzeitig da – und überall.<br />

Wir sind heute alle Künstler, die an unserem eigenen Bildnis arbeiten und ständig neue Versionen von<br />

uns in die Welt hinaussenden. Wohl wenig hat unser Stilempfinden mehr beeinflusst. Selfies setzen<br />

modische Standards, die vielleicht gar nicht so leicht zu erreichen sind.<br />

Theaterpädagogisches Begleitmaterial I Klara Ring I Telefon: 03981 277170 I E-Mail: k.ring@tog.de

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