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SELBSTDARSTELLUNG UND REALITÄTSWAHRNEHMUNG<br />
Selfies – Ich bin hier, also bin ich<br />
Das Selfie macht aus dem Leben eine Ich-Kampagne. Von Tillmann Prüfer<br />
ZEITmagazin Nr. 29/2014 10. Juli 2014<br />
Es ist überall. Es wird gepostet, gemailt, getwittert. Von der Party, vom Eiffelturm, von der Oscarverleihung.<br />
Das Selfie verbreitet sich rasend schnell und millionenfach. Drei von vier Mädchen im Alter<br />
von 18 bis 24 Jahren in Deutschland geben an, regelmäßig Bilder von sich selbst ins Internet zu stellen.<br />
In Manhattan werden täglich mehr als 3.000 Selfies gepostet. In Asien macht man sogar noch mehr<br />
Selfies, die Philippinen sind angeblich Selfie-Weltmeister. Der Begriff Selfie soll zum ersten Mal 2002<br />
in Australien aufgetaucht sein, bereits im vergangenen Jahr wurde er vom Oxford Dictionary zum Wort<br />
des Jahres gekürt.<br />
Das Selfie unterscheidet sich gewaltig von früheren Selbstdarstellungen. Seit Tausenden von Jahren<br />
machen Menschen Bilder von Menschen. Doch lange Zeit wurden die Porträtierten vor allem in ihrer<br />
gesellschaftlichen Funktion dargestellt, nicht in ihrer Individualität. Das Allereigenste, das, was einen<br />
Menschen vom anderen unterscheidet, war nicht von Interesse. Dass in den Zügen eines Gesichts etwas<br />
Bedeutendes steckt, dass im Glanz der Augen eine ganz eigene Wahrheit liegen kann, ist eine<br />
Auffassung aus der jüngeren Geschichte. Der Mensch musste erst zum Schöpfer werden, zum Künstler,<br />
Autor und Architekten, um zu erkennen, dass in seinem Wesen etwas lag, was es wert war, dokumentiert<br />
zu werden. Und er brauchte einen Spiegel, um seine Züge zu erkennen. "Erst seit es Spiegel gibt,<br />
sind wir Individuen", sagt der Philosoph Peter Sloterdjik: "Wir haben nicht mehr die Fantasie, uns eine<br />
Lebensform zu erträumen, in der wir uns keine Gedanken darüber machen müssen, wie wir aussehen."<br />
Seine Selbstbildnisse machten die Marke Dürer zum Hit<br />
Spiegel gibt es zwar schon seit 5.000 Jahren. Und wer keinen besaß, konnte sich in jeder ruhigen Wasserfläche<br />
spiegeln. Doch nur, weil der Mensch sein Antlitz sah, hieß das noch nicht, dass er sich "selbst"<br />
erkennen konnte. Denn von der eigenen Einzigartigkeit ist er noch nicht allzu lange überzeugt. <strong>Die</strong>ser<br />
Gedanke wurde erst in der Renaissance populär. Aus der Zeit stammen beeindruckende Selbstporträts<br />
wie etwa die bekannten Selbstbildnisse Albrecht Dürers. In den langen Haaren, dem messiasgleichen<br />
Gesicht sehen wir, wie der Maler und Grafiker sich selbst empfand. Eine Figur, die nicht von den Augen<br />
der Gesellschaft gesehen wird, sondern sich durch die eigenen Augen jener Gesellschaft präsentiert.<br />
Dürer zeigt sich auf diesen Selbstbildnissen nicht in seiner Funktion, er malte sich nicht vor der Staffelei.<br />
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