Materialmappe_Die Wand_Endfassung

TheaterundOrchesterTOG
von TheaterundOrchesterTOG Mehr von diesem Publisher
21.01.2022 Aufrufe

18 Daniela Strigl: DIE WAND (1963) – Marlen Haushofers Apokalypse der Wirtschaftswunderwelt Erschienen in: Trans – Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 15, Juli 2004. http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/strigl15.htm, aufgerufen am 21.01.2022) […] Heute gehört Die Wand zum österreichischen Kanon, aber nicht zu dem der Germanistik. Die Fabel des Romans ist schnell erzählt: Eine Frau fährt mit ihrer Cousine und deren Mann zu einem Kurzurlaub in ein Jagdhaus. Das Ehepaar macht abends einen Spaziergang ins Dorf, von dem es am nächsten Morgen noch nicht zurückgekehrt ist. Bei dem Versuch, ins Dorf zu gehen und dort Nachschau zu halten, stößt die Frau auf eine durchsichtige Wand. Dahinter gibt es offenbar kein Leben mehr, nur die Pflanzenwelt scheint unversehrt. Die Frau muss sehen, wie sie in dem vom Rest der Welt abgeschnittenen Waldgebiet überleben kann. Geblieben ist ihr der Jagdhund ihrer Gastgeber, sie findet noch eine trächtige Kuh, später läuft ihr eine Katze zu. Eines Tages taucht ein zweiter Überlebender der rätselhaften Katastrophe auf, ein Mann, der den Jungstier und den Hund der Frau tötet und dafür von ihr mit ihrem Jagdgewehr erschossen wird. […] Die Ich-Erzählerin der Wand hat in ihrem früheren Leben in einer bewusstlosen Konsumgesellschaft unter existentieller Langeweile ebenso gelitten wie unter einer "rasenden Ungeduld", zuletzt schien ihr auch ihre Familie "zum Feind übergelaufen zu sein". Die Katastrophe greift in Wahrheit korrigierend in ihr Leben ein und befreit sie von den Zwängen der Fremdbestimmung: "Hier, im Wald, bin ich eigentlich auf dem mir angemessenen Platz". Weil ihr in Gestalt ihrer Tiere eine Art Ersatzfamilie zuwächst, um die sie sich kümmern muss, die aber umgekehrt auch sie am Leben erhält, lässt sich das Ideal absoluter Selbstgenügsamkeit wiederum nicht verwirklichen. Haushofers Roman hält den unterschiedlichsten Interpretationen stand. Auf der biographischen Ebene ist Die Wand die wohl radikalste Phantasie eines selbstbestimmten Lebens, die Marlen Haushofer sich geleistet hat: Um die Romanheldin von ihrem Hausfrauendasein zu befreien, lässt ihre Autorin eine Weltkatastrophe hereinbrechen und die Familie sterben, damit die Frau freie Bahn für ihren neuen Lebensentwurf hat. […] Vor allem deklariert sich der Roman als ein Stück Kulturkritik. Um 1960, zur kältesten Zeit des Kalten Krieges, war der 'Tag X', an dem der Atomkrieg ausbrechen könnte, in aller Munde. Die Theorie der Heldin über die Beschaffenheit der Wand bewegt sich in diese Richtung: "Ich nahm an, sie wäre eine neue Waffe, die geheim zuhalten einer der Großmächte gelungen war; eine ideale Waffe, sie hinterließ die Erde unversehrt und tötete nur Menschen und Tiere. [...] Wenn das Gift, ich stellte mir jedenfalls eine Art Gift vor, seine Wirkung verloren hatte, konnte man das Land in Besitz nehmen. Nach dem Theaterpädagogisches Begleitmaterial I Klara Ring I Telefon: 03981 277170 I E-Mail: k.ring@tog.de

19 friedlichen Aussehen der Opfer zu schließen, hatten sie nicht gelitten; das ganze schien mir die humanste Teufelei, die je ein Menschenhirn ersonnen hatte." Nicht zufällig hat sich die Katastrophe in einer von Männern gemachten Welt ereignet: Seit den fünfziger Jahren wird in den USA an der Entwicklung der Neutronenbombe gearbeitet, deren zerstörerische Wirkung sich weitgehend auf organisches Leben beschränkt - ins allgemeine Bewusstsein wird die 'säuberliche' Bombe erst Anfang der achtziger Jahre dringen. Da sich im Roman nach dem Einsatz der Wunderwaffe keine Sieger einstellen wollen, muss man daran zweifeln, dass es überhaupt Sieger gibt. Als Überlebende solidarisiert sich die Frau einerseits mit der Gattung Mensch, andererseits waren nicht allein die "Erfinder" der Wand ihre Feinde, sondern alle, die einst den Ton angaben: "Ich hatte nur dieses eine kleine Leben, und sie ließen es mich nicht in Frieden leben.“ […] Das Leben hinter - oder vor - der Wand ist hingegen für einen einzigen Menschen reserviert; in dieser Utopie gibt es keine soziale Verantwortlichkeit, außer für die Tiere. „Die Insel, ein literarischer Topos, in dem Robinsonade und Utopie zusammenkommen“, stellt Konstanze Fliedl in ihrer Interpretation fest, „verliert als Glücks-Bild hier ihren gesellschaftlichen Charakter: die Utopie ist nur mehr in der Isolation des Individuums vorstellbar. Die Verengung auf die Einzelperspektive [...] wird in der Wand radikalisiert: die Erzählerin ist und macht sich am Ende selbst noch einmal zur einzigen Überlebenden, ihre Existenz setzt die totale Negativutopie - das Erlöschen des menschlichen Lebens - erst voraus.“ Während die Toten jenseits der Wand einer sichtbaren Versteinerung zum Opfer gefallen sind, kommt das Leben der Überlebenden durch das Unglück erst wieder in Fluss. Auf der Alm oben - der Berg ist ja der traditionelle Ort der Gottesschau - hat sie sogar so etwas wie eine diesseitige Erleuchtung: „Ich suchte nicht mehr nach einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte. [...] Seit meiner Kindheit hatte ich es verlernt, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, und ich hatte vergessen, dass die Welt einmal jung, unberührt und sehr schön und schrecklich gewesen war. [...] Die Einsamkeit brachte mich dazu, für Augenblicke ohne Erinnerung und Bewusstsein noch einmal den großen Glanz des Lebens zu sehen“. Dass der Mensch, der die Erde ihrer Unschuld beraubt hat, von ihr verschwinden muss, ist nach diesem Weltbild nur folgerichtig: „Die Menschen hatten ihre eigenen Spiele gespielt, und sie waren fast immer übel ausgegangen. [...] Es war besser, von den Menschen wegzudenken.“ Marlen Haushofer beschreibt die Vorstellung, das eigene Ich im großen Ganzen aufzulösen, als schaurige Verlockung. Ihre Erzählerin weiß, dass sie für den Wald „kein ernst zu nehmender Störenfried“ ist: „Einmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in sie einwachsen, und später wird der Wald bis zur Wand vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat. Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken.“ […]“ Theaterpädagogisches Begleitmaterial I Klara Ring I Telefon: 03981 277170 I E-Mail: k.ring@tog.de

19<br />

friedlichen Aussehen der Opfer zu schließen, hatten sie nicht gelitten; das ganze schien mir die humanste<br />

Teufelei, die je ein Menschenhirn ersonnen hatte."<br />

Nicht zufällig hat sich die Katastrophe in einer von Männern gemachten Welt ereignet: Seit den fünfziger<br />

Jahren wird in den USA an der Entwicklung der Neutronenbombe gearbeitet, deren zerstörerische<br />

Wirkung sich weitgehend auf organisches Leben beschränkt - ins allgemeine Bewusstsein wird die<br />

'säuberliche' Bombe erst Anfang der achtziger Jahre dringen. Da sich im Roman nach dem Einsatz der<br />

Wunderwaffe keine Sieger einstellen wollen, muss man daran zweifeln, dass es überhaupt Sieger gibt.<br />

Als Überlebende solidarisiert sich die Frau einerseits mit der Gattung Mensch, andererseits waren nicht<br />

allein die "Erfinder" der <strong>Wand</strong> ihre Feinde, sondern alle, die einst den Ton angaben: "Ich hatte nur<br />

dieses eine kleine Leben, und sie ließen es mich nicht in Frieden leben.“ […]<br />

Das Leben hinter - oder vor - der <strong>Wand</strong> ist hingegen für einen einzigen Menschen reserviert; in dieser<br />

Utopie gibt es keine soziale Verantwortlichkeit, außer für die Tiere. „<strong>Die</strong> Insel, ein literarischer Topos,<br />

in dem Robinsonade und Utopie zusammenkommen“, stellt Konstanze Fliedl in ihrer Interpretation<br />

fest, „verliert als Glücks-Bild hier ihren gesellschaftlichen Charakter: die Utopie ist nur mehr in der<br />

Isolation des Individuums vorstellbar. <strong>Die</strong> Verengung auf die Einzelperspektive [...] wird in der <strong>Wand</strong><br />

radikalisiert: die Erzählerin ist und macht sich am Ende selbst noch einmal zur einzigen Überlebenden,<br />

ihre Existenz setzt die totale Negativutopie - das Erlöschen des menschlichen Lebens - erst voraus.“<br />

Während die Toten jenseits der <strong>Wand</strong> einer sichtbaren Versteinerung zum Opfer gefallen sind, kommt<br />

das Leben der Überlebenden durch das Unglück erst wieder in Fluss. Auf der Alm oben - der Berg ist ja<br />

der traditionelle Ort der Gottesschau - hat sie sogar so etwas wie eine diesseitige Erleuchtung: „Ich<br />

suchte nicht mehr nach einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte. [...] Seit meiner<br />

Kindheit hatte ich es verlernt, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, und ich hatte vergessen, dass die<br />

Welt einmal jung, unberührt und sehr schön und schrecklich gewesen war. [...] <strong>Die</strong> Einsamkeit brachte<br />

mich dazu, für Augenblicke ohne Erinnerung und Bewusstsein noch einmal den großen Glanz des Lebens<br />

zu sehen“.<br />

Dass der Mensch, der die Erde ihrer Unschuld beraubt hat, von ihr verschwinden muss, ist nach diesem<br />

Weltbild nur folgerichtig: „<strong>Die</strong> Menschen hatten ihre eigenen Spiele gespielt, und sie waren fast immer<br />

übel ausgegangen. [...] Es war besser, von den Menschen wegzudenken.“ Marlen Haushofer beschreibt<br />

die Vorstellung, das eigene Ich im großen Ganzen aufzulösen, als schaurige Verlockung. Ihre Erzählerin<br />

weiß, dass sie für den Wald „kein ernst zu nehmender Störenfried“ ist: „Einmal werde ich nicht mehr<br />

sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in sie einwachsen, und später wird der<br />

Wald bis zur <strong>Wand</strong> vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat.<br />

Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen<br />

und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken.“ […]“<br />

Theaterpädagogisches Begleitmaterial I Klara Ring I Telefon: 03981 277170 I E-Mail: k.ring@tog.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!