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Proida - Prokla

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<strong>Proida</strong><br />

Zeitschrift fur pol"dische Okonomie 39<br />

und sozialistische Polih"k<br />

tikologie, Technologie<br />

und Arbeiterbewegung<br />

Mit BeitriiJ!!_n Yon:<br />

Lutz Hieber<br />

Harald Glaser<br />

Christel NeusiiB<br />

Thomas Hahn<br />

Siegfried Heimann<br />

Albert Kriills<br />

und einem<br />

Roundtclbl&-Gespriich:<br />

SophieAlf,<br />

Mike CoaIey,<br />

Matteo Roilier,<br />

Melanie Tatur,<br />

Tamar Berman,<br />

Andy Markovits,<br />

Fred Gordon u. a.<br />

* Einzelheft<br />

DM 9,-<br />

imAbo<br />

DM8.-<br />

Rotbueb<br />

Verlag


Name -, Gesellschaft - Herrschaft<br />

So wird zum Ansatzpunkt der Okologiebewegung das Verhaltnis von Natur und Gesellschaft,<br />

wobei die Gesellschaft weniger als kapitalistische denn als industrielle Gesellschaft<br />

mit spezifischem Wachstumsimpuls interpretiert wird. An diesem Punkt<br />

haben wir eine entscheidende Nahtstelle fiir das Verstandnis des Verhaltnisses von<br />

Arbeiterbewegung und Okologiebewegung. Denn Gesellschaft als solche besagt zunachst<br />

einmal gar nichts, wenn nicht ihre Fonn beriicksichtigt und dies in entsprechendepolitische<br />

Entwiirfe eingearbeitet wird. Entscheidend wird dies beim Verstiindnis<br />

der Herrschaftsmechanismen, die es ja gerade zu unterlaufen oder besser zu<br />

iiberwinden gilt, urn auf andere Impulse setzen zu kbnnen als diejenigen des "quantitativen<br />

Wachstums". Wir mbchten behaupten: Sofern Herrschaft als rein biirokratisch-technokratische<br />

miBverstanden, der Staat dabei als eine ,,Megamaschine" fehlinterpretiert<br />

und dabei die ganze Tradition der marxistischen oder auch kritischen<br />

Staatstheorie iiber Bord geworfen wird, kann kein politisches Konzept entstehen,<br />

urn den Herrschaftsbedingungen dieser Gesellschaft, auch der destruktiven Beherrschung<br />

der N atur, beizukommen. Vor allem ist dabei von Bedeutung, daB gesellschaftliche<br />

Herrschaft iiber die Natur, ihre Auspliinderung und die fUr die menschli­<br />

Ghe En twicklung lebensbedrohlichen Riickwirkungen, gerade als ein bkonomischsozialer<br />

und politischer ProzeB arganisiert sind, wobei die kapitalistische Farm dieser<br />

Gesellschaft in alle Verastelungen, Ablaufe, Regelungen hineinragt. Es ist also<br />

nicht nur wichtig, daB iiberhaupt Einsicht in die AusmaBe def Umweltkrise, den<br />

Gradder Zerstbrung der inneren und auBeren Natur entsteht - wozu Biicher wie<br />

dasjenige von Gruhl einen unschatzbaren Beitrag geleistet haben -, sondern daB<br />

die gesellschaftliche Organisation dieser Millwirtschaft damit in einen Zusammenhang<br />

gebracht wird: Der Zweck der Kapitalverwertung, aus Wert mehr Wert zu machen,<br />

ordnet sich herrschaftlich sowohl die Produzenten def Werte im Arbeits- und<br />

sogar ihren gesamten LebensprozeB als auch die natiirlichen Ressourcen in einer bestimmten,<br />

nicht unbedingt naturadaquaten, in jedem Fall aber kapitaladiiquaten<br />

Technologie unter. Und die Ausformung des politischen Systems entspricht letzt­<br />

Hch dieser Zwecksetzung; diese Herrschaft vennittelt sich durch entsprechende Institutionen<br />

und soziale Beziehungen, die zu Herrschaftsblbcken, Machtblbcken zu·<br />

sammengefaBt werden. In den institutionell vermittelten gesellschaftlichen ProzeB<br />

der Herrschaftssicherung sind die Organisationen def Arbeiterbewegung tellweise,<br />

zeitweise und widerspriichlich einbezogen, aber mit ihren Interessen und Anspriichen<br />

bleiben sie der Herrschaft, ihrem Inhalt, ihrem Zweck grundsatzlich subaltern.<br />

So haben wir es mit dem strategischen Problem def subaltemen Klassen und Interessen<br />

zu tun, einen Machtblock aufzubauen, der die Potenzen des herrschenden<br />

Blocks zu unterrninieren vennag. Urn in der Terminologie der Gramscianisch inspirierten<br />

eurokommunistischen Diskussion zu sprechen, wiirde es darauf ankommen,<br />

in den sozialen Auseinandersetzungen, die heute zu einem graBen Tell urn die Naturerhaltung<br />

gegen die zerstbrerischen Tendenzen des "industriellen Systems" ge·<br />

fiiha werden, die Hegemonie gegeniiber den auf Wachstum, d.h. auf Kapitalverwertung<br />

urn jeden Preis setzenden Interessen zu erobern. So betrachtet erscheint die ge-<br />

2


grund ist es verstandlich, dar., die ,,neuen sozialen Bewegungen" die Bedeutung erlangen<br />

konnten, die sie Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre haben. Doch reicht<br />

es nicht aus, die wachsende Bedeutung der 6kologiebewegung als ,,kompensierenden<br />

Pendelausschlag" gegen die Schwierigkeiten der Arbeiterbewegung he ute zu verstehen.<br />

Es kommt noch hinzu, dar., tatsachlich das Problem der 6kologischen Krise<br />

immer mehr und bei immer breiteren Massen zu Bewu8tsein gekommen und der<br />

Eindruck entstanden ist, dar., die Parteien des herrschenden Blocks (d.h. verkiirzt<br />

gesprochen: das Bonner Parteienkartell) zu einer Lasung der aus der Krise entstandenen<br />

Probleme nicht fahig sind und eine neue Kraft sich der Probleme annehmen<br />

mu8. Nur das Zusammenwirken dieser drei Elemente - die Krise der traditionellen<br />

Arbeiterbewegung, das tatsdchliche Wachs turn der okologischen Problerne, ihr Bewuf3twerden<br />

bei breiten Kreisen der Bevolkerung und schlief3lich die Einsicht in'die<br />

Unfdhigkeit der Parteien des herrschenden Blocks, die ents tandenen Problerne zu 1Osen<br />

- kann die jtingsten Wahlerfolge der grtinen Bewegung erkHiren, die heute (Ende<br />

Marz 1980) in zwei Landesparlamenten vertreten sind und damit zum ersten Mal<br />

seit 1953 eine in vieler Hinsicht Hnke Alternative auf parlamentarischer Ebene reprasentieren.<br />

In diesem Zusammenhang sei nur daraufhingewiesen, dar., die Griinen<br />

(oder die 6kologiebewegung der 70er Jahre schlechthin) das Umweltproblem nicht<br />

entdeckt haben: bereits 1961 ftihrte die SPD ihren Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen<br />

unter dem Slogan der "Blauen Luft tiber der Ruhr" und schlieBlich ist in dieser<br />

Hinsicht auch einiger Erfolg mit der Stillegung vieler Kohlenzechen und der Ansiedlung<br />

von Industrien, die die Umwelt weniger belasten, erzielt worden. Trotz kleiner<br />

Erfolge, auf die die Bundesregierung mit Stolz verweist, sind die Lebensformen und<br />

Reproduktionsbedingungen der Menschen nicht besser, eher schlechter geworden.<br />

Dabei spielt die Belastung der au8eren und der inneren Natur mindestens eine ebenso<br />

gro8e Rolle wie die kaputt machenden Wirkungen der kapitalistisch kompensierenden<br />

Eroberung der menschlichen Bedtirfnisse und der Unfahigkeit, die gesellschaftlichen<br />

Beziehungen der Menschen untereinander menschlich, emanzipatorisch,<br />

befriedigend zu gestalten. Daraus erklart sich auch, daB die Alternativbewegungen,<br />

die 6kologie- und die grtine Bewegung, dort am starksten sind, wo alternative Kommunikationsstrukturen<br />

am "dichtesten" sind: in den stadtischen Agglomerationen<br />

und dann auch noch dort, wo Sensibilitat flir diese Probleme quasi institutionalisiert<br />

ist: namlich in UniversWitsstadten. Natiirlich kennt diese Regel Ausnahmen, aber<br />

empirische Evidenz auch bei den jtingsten Landtagswahlen in Baden-Wtirttemberg<br />

sprich t ftir sie.<br />

Politikversmndnisse der griinen Bewegungen<br />

Den - vordergrtindigen - Widerspruch von Arbeiterbewegung und Okologiebewegung<br />

haben wir bislang auf dem Hintergrund der Organisation des gesellschaftlichen<br />

Herrschaftsprozesses, der Defensive der Arbeiterbewegung seit Eintritt der<br />

Krise Mitte der 70er Jahre und dem Bewu8twerden von 6kologieproblemen bei<br />

breiten Bev61kerungsschichten diskutiert. Herrschaft haben wir dabei als gesell-<br />

4


Ie des Staates und des politischen Systems (vgl. dazu die Beitrage in E. Altvater und<br />

O. Kallscheuer, Hrsg., "Den Staat diskutieren", Berlin-West 1979). Denn zentrale<br />

Idee in diesem Politikverstandnis ist eine bipolare Struktur von Gesellschaft: Die<br />

" Herrschaft ist staatlich-institutionell vermittelt und weitgehend geschlossen, wah­<br />

. ; r.end die Politik zur Durchsetzung ihrer Interessen bei den gesellschaftlichen Bewegungen<br />

aufterhalb derInstitutionen bleibt. Wie Gorz es formuliert: Die Politik findet<br />

nicht mehr in der Politik statt. Veranderungen des gesellschaftlichen und dam it<br />

auch des politischen Systems werden durch ,,Netzwerke" alternativer Projekte,<br />

.durch eine Art "revolutionarer Infrastruktur" (Theo Pinkus) herbeigeflihrt, also von<br />

au8erhalb "der Institutionen". Wie Evers schreibt: ,,Drastisch reduziert werden solI<br />

vor allem auch die Rolle und Autoritat der politischen Parteien gegentiber den sozialen<br />

Bewegungen und selbstverwalterischen Initiativen in der Gesellschaft; als Elemente<br />

der Kohasion und des Konsens tibernehmen selbstverwalterisch gesellschaftliche<br />

Organe imIner mehr Aufgaben, wahrend die Parteien den Anspruch aufgeben<br />

mtissen, auf alles eine Antwort zu haben, und sich im wesentlichen daraufbeschrankensollen,<br />

die Debatte tiber gesellschaftliche Altemativen wachzuhalten, als moto-<br />

. rische Elemente auf der Suche nach globalen Losungen zu fungieren, die den vielfaltigen<br />

Organen einer erweiterten gesellschaftlichen Selbstverwaltung aus dem<br />

Blick geraten konnten." (A. Evers, a.a.O., S. 15)<br />

Da8 in dieser Bestimmung des Verhaltnisses von alternativer Bewegung und<br />

politischem System eine Verktirzung liegt, zeigt auch die Erfahrung. Immer wenn<br />

sich die Alternativbewegung zu gro8eren Demonstrationen ihrer altemativen Macht<br />

zusammenschlie8t, gerat sie in Konfrontation mit der - polizeilich ausgeriisteten,'<br />

bewaffne.ten - Macht der "ersten Gesellschaft". Alternative Projekte konnen also<br />

funktionieren, sofern sie politisch kalmiert sind und sich eine okonornische Basis in<br />

den Nischen des kapitalistischen Drachen verschaffen. Sofem sie aber das politische<br />

System - von au8en - zu verandern trachten, werden sie unmittelbar nicht nur mit<br />

der Megamaschine Staat konfrontiert, sondem auch mit den Mechanismen gesellschaftlicher<br />

Herrschaft durch Presse, Rundfunk, Fernsehen und die herrschenden<br />

Bewu8tseinsforrnen bei den Massen der Bevolkerung, die zum gro8ten Teil eben At-,<br />

beiter und Angestelite, Lohnabhangige, selbst den kapitalistischen Herrschaftsmechanismen<br />

Unterworfene sind.<br />

2. 1st die Macht in diesen geschilderten Vorstellungen noch eindeutig bei der<br />

" Megamaschine Staat lokalisierbar, so steckt sie in den Vorstellungeh der ,,neuen Philosophen"<br />

diffus tiberall und in uns. Es gibt also auch keine gesellschaftliche Scheidelinie<br />

fUr Macht und ihre Austibung, so da8 eine Strategie gegen die Machtigen und<br />

ihre Politik von dieser Vorstellung her nicht mehr ableitbar ist. Folgerichtig geht es<br />

auch nicht mehr urn ,,Makropolitik", sondem urn eine "Mikropolitik", die sich an<br />

deIl eigenen Wtinschen und Bediirfnissen orientiert und auf diese Weise "subjektive<br />

Verkettungen" (Guattari) generiert. Netzwerke sind auch hier die Folge von SOZilller<br />

Aktion und bilden zugleich den individuell-sozialen Widerstand gegen die Repression<br />

aus der gesamtgesellschaftlichen Struktur heraus. Diese Theorie ist keine Theorie<br />

einer sozialen Bewegung, dazu bleibt sie viel zu inhaltsleer und sie kann folglich<br />

auch weder ftir die Okologiebewegung noch fur die traditionelle Arbeiterbewegung<br />

6


TransfonnationsprozeB zu einer "richtigen" Partei deutlich. Denn es werden - mit<br />

dem Schwerpunkt okologischer Politik - beinahe alle Punkte einer "Volkspartei"<br />

angesprochen, wobei auch die Alternativforderungen der Gewerkschaftsbewegung<br />

beinahe allesamt vertreten sind: Arbeitszeitverklirzungen, Schaffung neuer ArbeitspHitze,<br />

Technologie- und Investitionskontrolle, urn gesellschaftliche Veranderul1gen<br />

durchzufUhren, Kontrolle okonomischer Macht durch Konzentrationskontrolle,<br />

Verbot der Aussperrung und Humanisierung der Arbeitswelt, Umbau def Offentlichen<br />

Haushalte im Interesse def Menschen. Bei den Abstimmungen auf dem<br />

brucker Programmparteitag ist groBer Wert darauf gelegt worden, gegen den Widerstand<br />

von konservativen Grlinen Fordenmgen niederzustimmen, die einen Gegensatz<br />

zu den Gewerkschaften konstituieren konnten, und die von den Konservativen<br />

ins Auge gefaBten autoritaren Losungen fur die Umweltkrise nicht zum<br />

kommen zu lassen. Grundprinzip ist gewesen: Okologische Politik und demokratische<br />

Bewegung gehoren zusammen, ein Widerspruch zur Arbeiterbewegung durch<br />

ein wertkonservatives Programm muB unbedingt vennieden werden.<br />

1m Programmentwurf kamen diese Tendenzen noch sichtbar zum Ausdruck.<br />

Wir wollen auf drei Punkte eingehen, urn daran deutlich zu machen, wie okologische<br />

Politik und die sie tragende grline Bewegung tatsachlich in einen Widerspruch<br />

zur Arbeiterbewegung und ihren okonomischen Interessen geraten konnen.<br />

1. Der Kritik am okonomischen (kapitalistischen) Wachstumsmodell entspricht<br />

positiv eine Vorstellung von qualitativem Wachstum bzw. Nullwachstum einerseits<br />

und einer Dezentralisierung der Produktion zur Herstellung von Uberschaubarkeit<br />

andererseits. Qualitatives Wachstum wiederum wird wesentlich an der Energieeffektivitat<br />

der Produktion bemessen, d.h. daran, ob eine Einsparung von Energie und<br />

Rohstoffen m6glich ist. In diese Richtung zielen denn auch steuerpolitischeAnderungen,<br />

die jedoch, wenn sie auch Energie und Rohstoffe einsparen mogen, regressive<br />

Effekte auf die Einkommensverteilung ausuben mlissen. Denn anstelle einer Besteuerung<br />

def Arbeit durch Lohn- und Einkommensteuer wird flir eine Energie-und<br />

Rohstoffsteuer pladiert. Wie man aber von allen Verbrauchssteuem weiB, haben die"<br />

se eine um so groBere Bedeutung im Budget der Haushalte, je niedriger das Einkommen<br />

ist. Es ist die Frage, ob diese Programmvorstellung nur mangelndem 6konomischem<br />

Sachverstand oder aber bewuBten politischen Zielsetzungen zuzuschreihen<br />

1St. Auch hinsichtlich der Frage def Dezentralisierung bleibt das Programm verschwommen<br />

bis problema tisch. Auch def Kapitalismus kennt Dezentralisierung der<br />

Produktion, etwa in F onn "verlangerter Werkbanke" (d.h. ein Teil der Produktion<br />

wird in Lander mit niedrigen Lohnkosten verlagert, sofern die Produktionen arbeitsintensiv<br />

genug sind) oder in Fonn der in der Region verstreuten Fabrik(fabbrica<br />

diffusa), urn die Agglomeration von Industriearbeitern unter def Fabrikhalledes<br />

GroBbetriebs zu zerschlagen, urn also die gewerkschaftliche Kampfkraft zu schwachen.<br />

Gerade bei der Forderung nach Nullwachstum zeigt sich die schon mehrfach<br />

angesprochene Fonnproblematik. Denn Nullwachstum an sich flihrt nicht zu einer<br />

Einschrankung von Rohstoff- und Energieverbrauch, sondern nur zu einer Festschreibung<br />

des gegebenenStandes des Verbrauchs. BeiEndlichkeit von Energiereseryen<br />

wlirde also auch bei Nullwachstum irgendwann, eben nur spater, derPunkt ep<br />

9


mindest entspricht eine soiche gewerkschaftliche Politik (die sich vall in Gegensatz<br />

den Okologiebewegungen setzt) auch den vorherrschenden BewuBtseinsfom1en<br />

groBer Teile der beschaftigten Arbeiter und ist nicht nur Resultat der Politik der<br />

Kooperation der Gewerkschaftsbiirokratie mit Kapital und Staat, wie es uns neuere<br />

"Verschworungstheorien" - z. B. in Gestalt des "Atomfilzes" -weis machen<br />

wollen. Wiihrend sich aber das Interesse der Beschaftigten an einer Sicherung des<br />

Arbeitsplatzes im herrschenden System notwendigelweise mit dem des Kapitals an<br />

einer Steigerung der Profitproduktion iiberschneidet, hat diese Strategie zugleich die<br />

o. a. einschneidenden Konsequenzen fUr die individuelle Reproduktion der Arbeitskraft<br />

(Arbeitsintensivierung, GesundheitsverschleiB, DequalifIkation, Entlassungen,<br />

die besonders die "Randbelegschaft" treffen).<br />

Diesem Dilemma (das im Zentrum des in dieser ProKla verOffentIichten<br />

Roundtable-Gesprachs steht) konnen die Gewerkschaften im Rahmen der kapitalistischen<br />

Produktionsweise nicht entgehen, wenn sie nicht grundsatzliche Alternativen<br />

zu diskutieren beginnen, in denen die kapitalistische F ormbestimmtheit der Produktion<br />

und Verteilung selbst in Zweifel gezogen werden. Und mer setzt auch die<br />

Diskussion urn Altemativen der Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik und in anderen<br />

Landern Westeuropas an (vgl. dazu die Artikel in ProKla Nr. 37 und denArtikel<br />

von Th. Hahn in diesem Heft, der sich auf die Vorlaufer dieser Diskussion in der<br />

Weimarer Republik bezieht). Da diese Altemativdiskussion von der allgemeinenReproduktion<br />

des unmi tte1baren Produzenten ausgeht, sind die Uberschneidungen mit<br />

Forderungen der Okologiebewegung untibersehbar. Gerade dieser Zusammenhang<br />

und dieser allgemeine Ausgangspunkt scheint uns auf Basis der bislang vorherrschenden<br />

nach/rageorientierten (und damit auf Wachstum setzenden) Alternativdiskussion<br />

in der Bundesrepublik noch nicht herstellbar gewesen zu sein - ein Problem,<br />

das u. E. auch mit dem krisenanalytischen Ansatz verbunden ist.<br />

Auch die Okologiebewegungen haben bislang kaum diesen vennittelnden Bezug<br />

auf die Reproduktion innerhalb und aufSerhalb der Produktionssphdre thematisiert.<br />

Auch wenn dazu Ansatze vorhanden sind, die z. B. die kapitalistischen Prinzipien<br />

der Entwicklung und Anwendung der Technologie im ProduktionsprozeB kritisch<br />

aufgreifen (wie dies im Programmentwurf der Grtinen geschieht), kaim man<br />

doch kaum an diesem Punkt von einem in dieser Richtung verallgemeinerten Selbstverstandnis<br />

der verschiedenen Okologiebewegungen reden. Wenn diese Bewegungen<br />

aber nicht in die Sackgasse des hilflosen Kampfes gegen die "externen Effekte der<br />

Produktion" landen wollen (wo sie sich dann in trauter Gemeinschaft mit der Umweltpolitik<br />

der burgerlichen Regierungen wiederfinden), werden sie auch die gesellschaftlichen<br />

Prinzipien der Technologie im kapitalistischen Produktionsproze£ thematisieren<br />

mussen. Denn gerade wei! die Okologieprobleme, als "externe Kosten<br />

der Produktion", nicht auf einzelne gesellschaftliche Bereiche begrenzbar sind und<br />

se1bst tiber die nationalen Grenzen hinausreichen, wird die gesellschaftliche Kontrol­<br />

Ie der Produktion eine zentrale Voraussetzung einer veranderten Produktionsweise<br />

sein, in der der Gegensatz von Okologie und Okonomie aufgehoben, in der die Okonomie<br />

in der Anwendung der Arbeitskraft und des konstanten Kapitals ersetzt werden<br />

mliBte dUTch eine Produktion (und das schlieBt die Produkte ein - vgl. M. Coo-<br />

12


('M'ECHSEL<br />

;ONll 1M<br />

TECHNIK NATURWISSENSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

Schwerpunkt:<br />

. Naturwissenschaft in der<br />

Schule * Der heimliche<br />

Hang zur Prostitution *<br />

Arbeiterkinder im naturwisSenschaftlichenUnterricht<br />

* Industrie-Unterrichtshilfen*naturwissenschaftliche<br />

Schulbticher *<br />

Lehrerausbildung *<br />

Schulversuch in Garbsen<br />

Weitere Themen:<br />

Medizin-Technik * Das<br />

System der Gewalt -<br />

Ingenieure und Technik *<br />

Die Mathematisierung des<br />

Todes * Okologisches<br />

Gleichgewicht und Entwicklung<br />

WECIISELWIRKUNG berichtet tiber politische Aktivitaten im naturwissenschaftlichtechnischen<br />

Bereich, Gewerkschaftsarbeit und soziale Konflikte.<br />

WECHSELWIRKUNG analysiert die soziale, politische und okonomische Funktion von<br />

Wissenschaft und Technik und zeigt deren Perspektiven und Altemativen auf.<br />

WECHSELWIRKUNG ist ein Diskussionsforum fiir Naturwissenschaftler, Ingenieure und<br />

l'echniker.<br />

WECHSELWIRKUNG erscheint vierteljiihrlich.<br />

Bestellungen an<br />

WECHSELWIRKUNG, Gneisenaustr. 2, 1000 Berlin 61<br />

Einzelheft 5,- DM, Abonriment flir 4 Hefte 20,- DM (incl. Versandkosten).<br />

Erscheinungsweise vierteljiihrlich.


Harald Glaser<br />

Die "friedliche" Nutmng der Atomenergie als Beispiel kapitaiistischer<br />

Technoiogieentwicklung - Thesen mm von Kapitalentwicklung<br />

und Okologieproblemen<br />

Einleitung<br />

Mit dem Thema Atomenergie sind zwei Problemkreise angesprochen, die sich zu·<br />

nachst getrennt benennen lassen:<br />

1. Es ist zu klaren, we1che Beweggrunde den Ausbau der Atomenergie bestimmt haben<br />

und bestimmen.<br />

2. Die Gefahren dieser Technologie lassen eine optimistische Einstellung gegenuber<br />

dem "technischen F ortschriti" sowie die Trennung zwischen als gesellschaftsneutral<br />

verstandener Technik und ihrer lediglich auf die Anwendung bezogenen Interessengebundenheit<br />

fragwiirdig werden.<br />

Die Auseinandersetzung um Atomenergie, Umweltzerst6rung und Wirtschaftswachstum<br />

hat den lange Zeit vorherrschenden Technikoptimismus ins Wanken gebracht.<br />

Die Vorschlage, die von Burgerinitiativ.en und Teilen der Alternativbewegung<br />

vertreten werden, beschranken sich in der Regel auf technische Modelle ("alternative<br />

Technik", Energiesparen), ohne die gesellschaftlichen Bedingungen und F ormen<br />

ihrer Realisierung in Betracht zu ziehen. Oder sie propagieren den Ruckzug aus der<br />

"Industriegesellschaft" und k6nnen keine Antwort auf die Probleme derjenigen geben,<br />

die an die industrielle Produktion gebunden sind. Deutlich wird dieses Dilem:<br />

ma an der Kluft zwischen deT Anti-Atom- und Alternativbewegung einerseits und<br />

den betrieblichen und gewerkschaftlichen Diskussionen um Rationalisierung und<br />

technische Neuerungen andererseits, ebenso wie am angeblichen Zielkonflikt zwischen<br />

Sicherung von Arbeitspliitzen und qualitativen Anspruchen an Umwelt und<br />

Arbeit.<br />

Damit Technologie politischer Praxis zuganglich wird, ist es notwendig, ausgehend<br />

von den Auswirkungen technischer Entwicklungderen Triebkdifte und grundlegende<br />

Tendenzen zu ermitteln. An der Funktionsweise einzelner Technologien<br />

ist die kapitalistische Formbestimmung von Arbeitsmittel und Arbeitsprozg im Detail<br />

zu kritisieren. 1m vorliegenden Artikel werde ieh die Atomtechnik vor dem Hintergrund<br />

deT Merkmale kapitalistischer Produktivkraftentwicklung behandeln.<br />

1. Zunachst zu den Grunden fUr Herausbildung und Verbreitung dieser Technologie.<br />

M. Massarrat nennt als Haupttriebkraft die vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt<br />

in naher Zukunft zu erwartenden Kostenvorteile des Atomstroms (Massarrat 1979,<br />

S. 59). Meines Erachtens kbnnen energiepolitische Erwagungen nicht durchgangig,<br />

nicht unmittelbar und nicht fUr alle Lander das Interesse an def Atomenergie erklareno<br />

In der BRD hat das Energieargument, abgesehen von vor allem propagandistischen<br />

Funktionen zu Beginn der Atompolitik, erst mit den Veranderungen im Erd·<br />

. 6Isektor ab 1973/74 an Gewicht gewonnen. In der Zeit niedriger blpreise konnte<br />

17


A tomstrom als billige und zuverlassige Energiequelle hbchstens fUr die ferne Zukunft<br />

interessant erscheinen. Auch heute ist der energiepolitische Nutzen der Atomenergie<br />

bekanntlich umstritten. Ich sehe die vorrangige Ursache fUr die Entwicklung dieser<br />

Technologie im Interesse maBgeblicher Kapitalgruppen an Verwertungsmbglichkeiten<br />

bei der Herstellung von Atomanlagen. Dabei waren und sind es, je nach Land<br />

und Zeitpunkt, unterschiedliche Umstande, die Profite im Atomgeschaft erwarten<br />

lie£en. Entsprechend veranderten sich die Interessenkonstellationen. Als Rahmenbedingungen<br />

wirkten das AusmaB an Konzentration des Kapitals, Umfang und Formen<br />

staatlich-wirtschaftlicher Verflechtung und Zusammenarbeit, Vorgaben staatlichef<br />

Technologiepolitik, militarische Aspekte. In USA und BRD stand die Atomenergie<br />

von Beginn an im Zeichen der intemationalen Konkurrenz. Urn die Triebkrafte<br />

der Entwicklung im einzelnen zu erfassen, sind historische Fallstudien erforderlich<br />

(1).<br />

2. Wie setzen sich die Interessen an der Atomenergie uber die Atompolitik durch?<br />

Wie ist unter der Bedingung generell ungeplanter und nicht planbarer Entwicklung<br />

der Produktivkraft staatliche Technologiepolitik beschaffen?<br />

Die Eritscheidung fUr den Leichtwasserreaktor, als Wendepunkt der westdeutschen<br />

Atompolitik und Beginn ihrer ersten kommerziellen Phase, macht deutlich,<br />

wie sich uber die Weltmarktkonkurrenz und uber kurzfristige Erwagungen der Akteure<br />

die technische Entwicklung gegenuber ihren "Planem" verselbstandigt: Der<br />

"staatlich-atomindustrielle Komplex" ist nicht als einheitlicher Block zu begreifen,<br />

ebensowenig, wie sich die westdeutsche Atompolitik durch bewuBte, geplante Kontinuitat<br />

auszeichnet (was nicht heiEt, daB in ihr keine Tendenz zum Ausdruck<br />

kommt).<br />

Neben Umstinden, die den stofflichen Eigenarten der Atomkraft geschuldet<br />

sind, lassen sich Bestimmungsmomente feststellen, die flir die Technologieentwicklung<br />

in der gegenwartigen Phase des Kapitalismus charakteristisch sind: insbesondere<br />

die Orientierung auf den Weltmarkt und das Zusammenwirken von Staat und Kapital.<br />

lnsofern ist die Atomtechnik ein "Prototy neuer Technik" (2). Diese Bestimmungsmomente<br />

erklaren nicht nur die Entscheidung fUr die Atomtechnologie, als<br />

einer Technologie zur Stromerzeugung, sondern auch die Wahl bestimmter Entwicklungslinien<br />

(wie des Leichtwasserreaktors).<br />

3. Bevor ich darstelle, wie sich in der Atomtechnologie die gesellschaftlichen Bedingungen<br />

ihrer Entstehung niedergeschlagen haben, soIl die These erlautert werden,<br />

daB die kapitalistische Fotmbestimmungvon Technik nicht erst in ihrer Anwendung,<br />

sondem bereits in der Konstruktion angelegt ist.<br />

4. Die Atomtechnik wird dabei von drei Seiten betrachtet:<br />

Sowohl die Art und Weise, wie Sicherheitsuberlegungen realisiert wurden, als auch<br />

der Arbeitsprozel?J in Atomanlagen lassen Eigenarten kapitalistischer Technikentwicklung<br />

erkennen.<br />

Das Gefahrenpotential, das die Atomtechnik in sich birgt, veranschaulicht die<br />

18


Moglichkeit eines "Umschlagens von Produktiv- in Destruktivkraft", wie es in<br />

der Naturaneignung durch das Kapital grundsatzlich angelegt ist.<br />

Die Atomtechnik liefert Beispiele fur die Verselbstandigung gesellschattlicher<br />

Zwecksetzungen zu eigenmachtigen Sachzwangen.<br />

5. AbschlieBend werden SchluBfolgerungen bezUglich<br />

- einer Kritik kapitalistischer Technikentwicklung und Naturaneignung<br />

- einer Strategie gegen die Atomenergie<br />

angedeutet.<br />

Es ist unmoglich, im hier gesetzten Rahmen aas Thema auch nur ansatzweise<br />

in allen seinen Aspekten abzuhandeln. Die Bemerkungen zur Formbestimmung von<br />

ArbeitsprozeB und Technik bleiben thesenhaft, auf die Naturwissenschaften und<br />

ihre Funktion bei der Vermittlung der kapitalistischen Zwecksetzung in die Technikform<br />

kann ich nicht eingehen. Des weiteren kann ich auch nicht eingehen auf<br />

die BUrgerinitiativen, ihre En tstehung, F ormen, V orlaufer, En twicklung, ihre<br />

Vorschlage zur Energie- und Wachstumspolitik und ihre Rolle im politischen System<br />

der BRD;<br />

die Diskussion urn alternative Technik;<br />

die Auswirkungen des Exportes von Atomanlagen in Lander der Dritten Welt;<br />

die westdeutsche Energiepolitik seit den 50er lahren;<br />

die Atomenergie in den Landern des sog. real existierenden Sozialismus.<br />

1. Zur En twicklung der A tomtechnologie und -industrie<br />

1.1. Die zivile Nutzung der A tomenergie in den USA<br />

1. 1. l.Umstande, die das Interesse des US-Kapitals an der Atomenergie hervorriefen<br />

Die Betrachtung der US-Atompolitik verspricht AufschluB Uber<br />

die Motive, die zur "friedlichen Nutzung der Atomenergie" fiihrten;<br />

- die Voraussetzungen der verspatet einsetzenden westdeutschen Bemiihungen.<br />

Die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung der USA im Lager der<br />

Alliierten hatte die Konzentration der militarischen Atomforschung im Manhattan­<br />

Projekt und die Kontrolle der Verbreitung von Rohstoffen und Know-how durch<br />

die US-Regierung zur Folge. Die am Manhattan-Projekt beteiligten Unternehmen<br />

erhofften sich iiber die Kriegsgewinne hinaus eine giinstige Ausgangsposition bei der<br />

zivilen Nutzung der neuen Technologie. Erste Vorschiage fUr ein ziviles Reaktorprogramm<br />

unterbreiteten sie 1951, als sich ein Entwicklungsvorsprung GroBbritanniens<br />

beim Bau von Atomkraftwerken abzeichnete. Dieser "konnte sich nachteilig auf die<br />

internationale Konkurrenzfahigkeit der amerikanischen Reaktorindustrie auswirken,<br />

da in vielen Landern die Kosten konventioneller Energieerzeugung hoher lagen als in<br />

den USA und sich hier unerwartete Absatzchancen fUr Kernkraftwerke eroffneten, die<br />

noch nicht bis zum hochsten Effizienzgrad ausgereift waren." (Rodel 1972, S. 163)<br />

19


Das Interesse der US-Konzerne richtete sich also von Anfang an auf den Weltmarkt.<br />

Durch die Entscharfung def Geheimhaltungsvorschriften nach dem Verlust<br />

des Atomwaffenmonopols def USA 1952/53 (3) wurden kommerzielle Untemehmungen<br />

erleichtert. In groEem Umfang begann die Reaktorentwicklung aber erst<br />

Ende der 50er/Anfang def 60er Jahre, als mit dem Ende def Rekonstruktionsphase<br />

der westeuropaischen Lander der technologische Vorsprung und die Vormachtstellung<br />

def USA in der internationalen Konkurrenz in Gefahr gerieten. AuEer den erwahnten<br />

Energiekostennachteilen def moglichen Kaufer von AKW kamen def US­<br />

Atomindustrie weitere Urns tan de zugute: die geographische Verteilung der Rohstof-<br />

Erfahrungen mit militarischen A tomprojekten, ein hohes staatliches Budget ftir<br />

Forschung und Entwicklung.<br />

L1.2.Die Durchsetzung der Kapitalinteressen tiber den staatlichen Lenkungsapparat<br />

dem Manhattan-Projekt erreicht staatliche Technologiepolitik eine neue Dimension;<br />

sie betrifft: das Zusammenwirken von Staat, Kapital und Wissenschaft, staatliche<br />

Finanzierungsleistungen neuen Umfangs, die Herstellung von Investitions- und<br />

Absatzmoglichkeiten flir private Unternehmen tiber die Technologieentwicklung im<br />

bffentlichen Sektor. Den am Manhattan-Projekt beteligten Firmen gelang es, den<br />

staatlichen Lenkungsapparat und die militarischen Monopolregelungen fUr ihre Ziele<br />

zu nutzen:<br />

1. Auf Grund unzureichender personeller und technischer Ausstattung war die AEC<br />

(Amerikanische Atomenergiebehorde) faktisch von ihIen Vertragsfirrnen abhangig.<br />

1m zusHindigen KongreBausschuB verftigten diese zudem uber eine einfluBreiche Interessenvertretung.<br />

2. Ergebnisse def militarischen Atomforschung lieBen sich fiir zivile Vorhaben weiter<br />

verwenden. So konnten General Electric und Westinghouse ihre Erfahrungen mit<br />

Antriebsaggregaten ftir A tom- U-Boote fUr die Entwicklung von Kraftwerksreaktoren<br />

nutzbar machen. Ihr technischer Vorsprung flihrte dazu, daB die Atombehorde die<br />

Reaktorlinien dieser Konzerne favorisierte und alternative Konzepte aufgab. Dank<br />

solcher Entwicklungsvorspriinge und ihrer Einbindung in militarische Geheimprojekte<br />

gelang es den Vertragsfirmen, auch nach der Lockerung des staatlichen Monopols<br />

ihre Vormachtstellung im Atomgeschaft zu behaupten.<br />

3. Staatliche Subventionen sowie die Dbernahme der neuen Technologie durch die<br />

bffentlichen Elektrizitatsversorgungsunternehmen (EVU) veranlaEten auch die privaten<br />

EVU zur fll1anziellen Beteiligung an Versuchsreaktoren, obwohl AKW keine<br />

sicheren Kostenvorteile versprachen und auEerdem die vorzeitige Entwertung der.<br />

konventionellen Anlagen zu befurchten stand. Zwecks Risikominderung entschieden<br />

sich die EVU ftir die Reaktorlinien von GE und Westinghouse.<br />

4. Auf dem Weltmarkt zielte die US-Atompolitik zum einen auf die ErschlieEung<br />

von Exportmarkten, was eine gewisse Kooperation mit den Handelspartnern erforderte,<br />

zum anderen auf die Sicherung des eigenen (militarischen und wirtschaftlichen)<br />

Konkurrenzvorsprungs, Die Verbindung von militarischen Zielen und kom-<br />

20


merziellen lnteressen wird an def Brennstoffexportpolitik der AEC deutlich: Ober<br />

den Export von angereichertem Uran zu extrem niedrigen Preisen forderte die AEC<br />

die internationale Verbreitung des von den US-Konzernen entwickelten Leichtwasserreaktors<br />

(LWR), gewahrleistete den Absatz def Uran-Bergwerksgesellschaften<br />

und melt die militarisch bedeutsamen Anreicherungsanlagen in Betrieb. Da die<br />

Eigenerzeugung von angereichertem Uran bei den billigen Importen nicht lohnte,<br />

blieben die Abnehmerlander von US-Brennstofflieferungen abhangig und damit wirtschaftlich<br />

und politisch unter Kontrolle. Strategie blieb langere Zeit erfolgreich.<br />

1.2. Die Ausgangslage der westdeutschen Atompolitik<br />

In def BRD kam die Initiative ZUI Entwicklung def A tomenergie von Wirischaft".<br />

Militiirische Erwagungen spielten, wenn Uberhaupt, nur eine Nebenrolle (vgl. Deubner<br />

1977, S. 100; Kitschelt 1979, S. 602; PIliB 1974, S. auch konnte nicht an<br />

militarische Erfahrungen angeknlipft werden. Anders ais in Frankreich gab es in der<br />

BRD Kapitalgruppen, die eine Atompolitik einleiten und ihre bestimmen<br />

konnten.<br />

1.2.1. Allgeme ine wirtschaftliche Ausgangsbedingungen<br />

1. Mit dem Ubergangvon der extensiven zur intensiven Kapitalakkumulation gewannen<br />

neue Produktionstechniken zentrale Bedeutung fUr die Steigerung der Arbeitsproduktivitat.<br />

1m privatwirtschaftlichen wie im Offentlichen Sektor wurde die wissenschaftlich-technische<br />

Forschung vorangetrieben. Die ausgepragte Exportorientierung<br />

der westdeutschen Industrie erforderte zUgige Reaktionen auf intemationale<br />

Tendenzen der Tec1mologieentwicklung und verstarkte den Zwang zur technischen<br />

Innovation. Obwohl die "technologische LUcke" zwischen BRD und USA schon<br />

langer bestand, begann sie erst zu dem Zeitpunkt die Konkurrenzfahigkeit des westdeutschen<br />

Kapitals zu beeintrachtigen, als mit dem Ende der Wiederaufbauphase die<br />

auBergewohnlich gUnstigen Verwertungsbedingungen def Nachkriegszeit verschwanden.<br />

Voll zum Tragen kamen diese Veranderungen mit def Krise 1957/58. In den<br />

exportorientierten Industriezweigen zeichneten sie sich seit Anfang def 50er Jahre<br />

ab und veranlaBten schon damals technische Neuerungen groBeren Umfangs. Insofern<br />

ist die Entscheidung fUr die Atomenergie, obwohl sie vor def Krise 1957/58<br />

feststand, als Ausdruck def veranderten Verwertungsbedingungen zu begreifen.<br />

2. Mitte der 50er Jahre wurden Stimmen laut, die von einer drohenden "Energielticke"<br />

sprachen: Als Foige wachsenden Energieverbrauchs war 1955 auf dem<br />

Hohepunkt des Konjunkturaufschwungs Knappheit an Steinkohle eingetreten. Kohle-<br />

und Erdolimp orte belasteten die Zahlungsbilanz. Die Konkurrenzvorteile der<br />

Atomenergie gegenliber Kohlenstoffenergien wurden zu dieser Zeit auBerst optimistisch<br />

beurteilt.<br />

21


Berucksiehtigt man die konjunkturellen Ursaehen der Kohleknappheit und<br />

den damals noeh geringen Anteil des Erdals an def Energieversorgung, HiBt sieh feststellen,<br />

daB im Zeitraum, als sieh die Entseheidung ftir die Atomenergie herausbildete<br />

(1954 - 56), keine Hingerfristige Energieltieke bestand oder vorauszusehen war.<br />

Zudem konnte, abgesehen von den begrenzten Substitutionsmagliehkeiten Atomenergie<br />

- Kohle, mit einer wirtsehaftliehen Erzeugung von Atomstrom erst flir Ende<br />

der 60er Jahre gereehnet werden. Von daher war aueh beztiglieh der Energiekostennaehteile<br />

gegentiber USA und GroBbritannien von def Atomenergie vorerst keine<br />

Lasung zu erwarten.<br />

Wenn es aueh keine Energielticke gab, so war die Wirkung des Energiearguments<br />

auf die Meinungs- und Interessenbildung doeh keineswegs unerheblieh. Die Verbindung<br />

von Energiemangelprognosen mit optimistisehen Einschatzungen der Atomenergie<br />

traf auf ein Konglomerat von Interessen der EVU (an glinstigen Produktionsmagliehkeiten),<br />

der Wirtsehaft allgemein (an billiger Energie) und des Staates (an<br />

Wirtsehaftswaehstum zweeks politischer Stabilitat). Die Produzenten von AKWs<br />

und def betreffenden Hilfsstoffe und -leistungen konnten sich profittrachtige Anlagemaglichkeiten<br />

ausrechnen (vgl. Deubner 1977, S. 14 ff.;PrtiB 1974, S. 33).<br />

1.2.2. Die Interessenkonstellation urn die Atomenergie<br />

Unter den Industriezweigen, die mit def Atomenergie zu tun haben, lassen sich<br />

drei Gruppen un terscheiden:<br />

1.) die Hersteller von Investitionsglitern und Grundstoffen, der sog. moderne Sektor:<br />

chemisehe, elektrotechnische, Maschinenbau- und Nichteisenmetallindustrie;<br />

2.) die Elektrizitatsversorgungsun ternehmen;<br />

3.) die traditionellen Primarenergieproduzenten: Kohle und Erdal.<br />

1. Die ftihrenden Firmen der ersten Gruppe WZlren seit Beginn def 50er Jahre<br />

in starkem MaBe weltmarktabhangig; die technische Ubedegenheit der US-Konkurrenz<br />

hatte die Kraftwerkshersteller zur Aufnahme von Lizenzen gezwungen. Mit der<br />

Atomtechnik drohte sich der amerikanische Wettbewerbsvorsprung, der durch die<br />

staatliche Technologiepolitik in den USA gefOrdert wurde, weiter zu vergrbBern.<br />

Trotz grundsatzlichem Interesse an def Atomenergie hielten sich elektrotechnische<br />

und Maschinenbauindustrie zunachst zurUck. Dabei spielte der hohe Aufwand an<br />

fixem Kapital bei hohem Risiko und langer Umschlagszeit ebenso eine Rolle wie das<br />

Fehlen zusatzlicher Markte und die "interindustrielle Konkurrenz zwischen den<br />

KraftwerksausrUstungsherstellern urn die technologische Dominanz tiber die neue<br />

Technologie" (Masehinen- und Kesselbau gegen Elektroteehnik) (Deubner 1977, S.<br />

19). Unmi ttelbar interessiert war dagegen die chemische lndustrie. Da ihre Produkte<br />

Voraussetzungen fUr Errichtung und Betrieb von Atomreaktoren bilden, konnte sie<br />

damit rechnen, daB sich ihre Investitionen in kurzer Zeit auszahlen wtirden.<br />

Hinzu kamen:<br />

- das Interesse def Chemiekonzerne (als graBte Elektrizitatsverbraucher) an billiger<br />

22


Frankreich und GroBbritannien sie hier die entsprechenden Geschi:iftspartner,<br />

eine privatwirtschaftlich bestirnmte Atomindustrie und Sicherheit vor Verstaatlichungen.<br />

Die am Atomgeschi:ift beteiligten Finnen in BRD und USA verfolgten<br />

weitgehend vereinbare und sich erganzende Ziele. Dennoch gab es in der Anfangsphase<br />

der westdeutschen Atompolitik auch Bemuhungen, die Abhangigkeit von den<br />

USAzu tiberwinden: in diese Richtung zielten die Planung von Natururanreaktoren<br />

sowie Anstrengungen, unabhangig von US-Lieferungen an Rohstoffe heranzukommen<br />

(vgl. Deubner 1977, S. 64, Radkau 1978, S. 204 f}<br />

Die westdeutsche A tomenergieentwicklung -<br />

Die des<br />

l.3.1.Der staatlicher<br />

grundeten die an der Atomenergie interessierten Unternehmen die<br />

sche Studiengesellschaft"; sie finanzierte wissenschaftliche Arbeiten und gab die<br />

"entscheidenden Initiativen zum Aufbau einer Atomwirtschaft" (4).<br />

Voraussetzung westdeutscher Atompolitik war neben dem Erloschen der aliiierten<br />

Vorbehaltsrechte und dem durch das Zusammenspiel von "Energieliicke" und<br />

Atomeuphorie ausgelosten Interesse an dieser Technologie vor aHem die Organisierung<br />

und Durchsetzung deJjenigen Kapitalgruppen, die nach staatlicher Forderung<br />

verlangten. Die drohende Einstellung def US-Brennstofflieferungen (5), der westdeutsche<br />

Riickstand in def Atomforschung und die Tatsache, daB mit dem Nachlassen<br />

def Kohleknapphelt die giinstige Stimmung fUr die Atomenergie schwand, lie£<br />

diese Kapitalgruppen gegen Ende des Jahres 1955 verstarkt auf eine Entscheidung<br />

def Bundesregierung drangen. Ihrem Wunsch nach einem Verhandlungspartner im<br />

Kabinettsrang wurde mit der Einrichtung des Bundesministeriums nir Atomfragen<br />

(BMAt) im Oktober 1955 entsprochen. Die institutionelle Trennung der Atom- von<br />

def Energiepolitik (sie verblieb im Wirtschaftsministerium) verbesserte ihre Einl1u£moglichkeiten<br />

gegeniiber den EVU. Regierung und beteiligte Untemehmen einigten<br />

sich auf eine Aufgabenverteilung, die dem Staat die Herstellung und Sicherung der<br />

rechtlichen, fmanziellen, wissenschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen<br />

(vgl. Priii1 1974, S. 39 f.) iibertrug, wohingegen die konzeptionellen Aufgaben der<br />

Industrie iiberlassen blieben. Die Leitung der Atompolitik lag faktisch bei der Deutschen<br />

Atomkommission (DAtK); offiziell als "Beratungsorgan" des Ministeriums geschaffen,<br />

vereinigte sie "unter deutlicher Dominanz des groBindustriellen Einflusses<br />

in den wichtigsten Bereichen ... alle fur den AUfbau einer Atomwirtschaft relevanten<br />

und am Atomgeschaft interessierten Kreise" (ebd., S. 41).<br />

1.3.2. Die Entscheidung fur den Leichtwasserreaktor und die "Wende" in def A tompolitik<br />

Ein erster Versuch zur Koordination der Atompolitik wurde mit dem Eltviller Programm<br />

(1957) unternommen. "Das Programm war kaum mehr als eine Festschrei-<br />

24


ung von Projekten, die von def deutschen Industrie ohnehin schon in Angriffgenommen<br />

wurden ... " (Radkau 1978, S. 201). Es spiegelte die Konkurrenzverhaltnisse<br />

unter den ReaktorhersteUern wider: die vorgesehene Entwieklung von funfReaktorlinien<br />

entspraeh den fOOf beteiligten Konzernen. Naehdem die 2. Genfer Atomkonferenz<br />

(September 1958) den westdeutsehen Riiekstand fur aIle Beteiligten deut­<br />

Heh gemaehthatte, begann eine Kurskorrektur in der Atompolitik, die sieh programmatiseh<br />

im 2. Atomprogranun(AtP) 1963 niederschlug und mren AbsehluB in der<br />

Durehsetzung der LWR-Linie fand. Sie beinhaltet:<br />

1. Ausdehnung def staatliehen Finanzierung. Bereits das Eltviller Programm<br />

hatte eine Darlehensbeteiligung des Bundes an der Reaktorentwieklung vorgesehen,<br />

die den Verzieht auf Riiekzahlung bei Millllingen des Projektes einsehloB. Auf Dran"<br />

gen der Industrie wurden 1959 zusatzliehe Investitionshilfen fUr Versuchskraftwerke<br />

sowie UnterstUtzung fiir Zuliefer- und Hilfsindustrien zugesagt. 1m 2. AtP heiBt<br />

es: "Bei Prototyp-Reaktoren und Zusatzanlagen kann es notwendig sein, daB, iihn­<br />

Heh wie in anderen Liindern, die Investitionskosten voll durch die Offentliehe Hand<br />

iibernommen und daB auch bei mrem Betrieb privatwirtsehaftliche Unternehmen<br />

nur in einem zumu tbaren Umfang herangezogen werden." (2. Atomprogramm, S.<br />

173)<br />

2. Verstarkte Koordinationsbemiihungen. In dem Maille, wie mit def Befriedigung<br />

des Nachholbedarfs (an Fachkraften und an Geraten fur Ausbildungund Forschung)<br />

die angewandte Forschung und Entwicklung vorrangig wurde, erwies sich<br />

die starke Konkurrenz unter den Reaktorherstellem als hinderlich.<br />

Urn die konkurrierenden Interessen schon im Vorfeld der DAtK auszugleichen,<br />

wurde 1959 aus den vier wichtigsten Vereinigungen def Atomwirtschaft das Deutsche<br />

Atomforum (DAtF) gebildet. Offenbar drangte das BMAt angesichts der erhohten<br />

Finanzbeteiligung auf bessere Koordination. Aber noch 1961 scheiterte eine<br />

Anregung des Ministeriums fUr ein gemeinsames Forschungsprogramm allef Reaktorbaufirmen<br />

an deren Einzelinteressen. Erst das 2. AtP versuchte, "erstmals alle Bereiche<br />

-Forschung,Entwicklung, Bau und Betrieb von Versuchsanlagen und Prototyp­<br />

Kernkraftwerken - in einem einheitlichen programmatischen Zusanunenhang zu<br />

entwickeln." (prUB 1974, S. 76)<br />

3. Abkehr vom Experimentierstadium und Dbergang zum Bau von Leistungskraftwerken.<br />

Urn moglichst Tasch auf dem Markt einzusteigen, muBte das Experi,<br />

mentierstadium zugunsten des Baus von Leistungskraftwerken verlassen werden (vgl.<br />

Radkau 1978, S. 204 f.). Dazu waren Auftrage von EVU notwendig. In deren Rentabilitatsberechnungen<br />

standen die Anlagekosten im Vordergrund; die Brennstoffkosten<br />

fielen bei den niedrigen Preisen fur angereichertes Uran weniger ins Gewicht.<br />

Das Interesse def EVU an niedrigen Anlagekosten traf sich mit dem Wunsch def Reaktorhersteller,<br />

moglichst bald und ohne grogere Aufwendungen fiir Forschung und<br />

Entvvicklung Leistungskraftwerke zu errichten. Auch von staatlieher Seite bestand<br />

wenig Neigung, den Dbergang zu Leistungsreaktoren mit groBeren Zuwendungen zu<br />

unterstutzen. Dies umso weniger, als sich mit dem AKW Grundremmingen (1962)<br />

eine Finanzierungsweise mit hohem staatlichem Anteil (das sog. Grundremminger<br />

Modell) durchgesetzt hatte (ebd., S. 212).<br />

25


projekte konzentrierten, "die den industriellen Reaktorentwicklungen nicht ins Gehege<br />

kamen, der Industrie allerdings lukrative Auftragsarbeiten versprachen" (ebd.,<br />

S. 221). Reaktorlinien, die an den LWR hatten ankntipfen konnen (wie der Dampfbrtiter(,<br />

wurden nicht weiterverfolgt und statt dessen Projekte in Angriff genommen,<br />

die erst in ferner Zukunft (wenn tiberhaupt) verwertbare Ergebnisse erwarten lassen.<br />

Wah rend die Industrie ihre finanzielle Beteiligung an den Kemforschungszentren zurtickzog,<br />

fand seit dem ,,kommerziellen Durchbruch" der grofilte Anstieg der staatlichen<br />

Forderung statt (8).<br />

3. Die Riickschlage der westdeutschen Atompolitik Ende der 50er Jahre lOsten<br />

einen Konzentrations- und Zentralisationsprozefil aus, aus dem AEG und Siemens<br />

gestarkt hervorgingen. Auf Grund ihrer ftihrenden Position schon vor Eintritt in das<br />

Atomgeschaft und ihren Verbindungen zu den starks ten und technologisch fortgeschrittensten<br />

Unternehmen der US-Atomindustrie konnten sie am ehesten den Anforderungen<br />

einer kommerziellen Reaktorentwicklung geniigen. Die Entscheidungen<br />

fUr den LWR war Ausdruck dieser Situation und festigte sie zugleich.<br />

Seit dem "Marktdurchbruch" der A tomenergie setzen sich die Konzentrationsund<br />

Zentralisationstendenzen fort. 1969 vereinigten AEG und Siemens ihr AKW-Geschiift<br />

in der Kraftwerks-Union (KWU). "Die Kooperation bedeutete nach einem<br />

zeitgenossischen Kommentar eine ,Vernunftehe angesichts des morderischen Preiskampfes<br />

auf dem Weltmarkt'. Zweitens sollte eine Art Kartell flir den inneren Markt<br />

errichtet werden; tatsachlich setzten Siemens und AEG nach Griindung der KWU<br />

die Preise flir Kernkraftwerke um 35 % herauf. Drittens spielte der Ausgang der Debatte<br />

uber die Schnellbriiter-Konzeption eine Rolle." (Der Volkswirt, zitiert nach<br />

Moldenhauer 1975, S. 1100) Nach den Verlusten mit dem AKW Wiirgassen iiberlieE<br />

AEG die KWU der Siemens-AG.<br />

Bei extrem kostspieligen und risikoreichen Vorhaben gewinnen die Kapitalverbindungen<br />

internationale Dimensionen in Form supranationaler Firmen (z. B.<br />

bei Schnellbriiter, Hochternperaturreaktor und Wiederaufbereitungstechnologie).<br />

4. Mit dem Eintrittin den Weltmarkt anderte sich das Verhaltnis der westdeutschen<br />

Reaktorhersteller zu ihren amerikanischen Lizenzgebern. AEG und Siemens<br />

Ibsten ihre Verbindungen zu den US-Konzemen, das amerikanische Kapital wurde<br />

aus dem westdeutschen Reaktorbau und Brennstoffzyklus verdrangt. Auf dem Weltmarkt<br />

kiimpfen amerikanische, westdeutsche und zunehmend auch franzbsische Reaktorhersteller<br />

um die Neuverteilung der Anteile. Hier nimmt die KWU seit 1975<br />

den ftinften Platz ein.<br />

Allgemein lafilt sich feststellen, dafil internationale Zusammenarbeit hinter nationalen<br />

Strategien zUrUcktritt, sobald sie mit der kommerziellen Ausreifung des<br />

Produktes den nationalen Kapitalen entbehrlich bzw. hinderlich wird.<br />

5. Der Umfang staatlicher Aufgaben nahm im Laufe der Atomenergieentwicklung<br />

standig zu. Das betrifft sowohl die finanzielle Beteiligung (als Subventionen<br />

oder Finanzbeteiligung an gemischten Firmen und dergleichen) als auch die Obernahme<br />

von Vor-, Rand- und FolgeJeistungen, die sich nicht oder noch licht kommerziell<br />

erbringen lassen. Eine wesentliche Ursache dieser Tendenz liegt darin, dafil<br />

die tatsachliche Kostenentwicklung die Erwartungen sowie die Bereitschaft bzw.<br />

27


Pahigkeit der beteiligten Privatfinnen tiberstieg (9).<br />

. Mit der Atomenergie bildete sich eine staatliche Technologiepolitik heraus,<br />

die mittels technologischer Vorsprtinge auf Konkurrenzvorteile fUr einheimische Kapitale<br />

auf dern Weltmarkt zielt (10). DaB diesern Bestreben in der Realitat keine widerspruchsfreie<br />

einheitliche Strategie von Staat und Wirtschaft entspricht, hat die<br />

Betrachtung der Atornpolitik deutlich gernacht.<br />

Das Interesse an der Atomenergie:<br />

Zum Stellenwert von kostengiinstiger Energie und Weltmarkt<br />

Es ist nun zu fragen, welche Bedeutung dern Energieaspekt ftir die Entwieklung der<br />

Atomtechnik zukommt.<br />

1. KostengUnstige Energie ist fUr das Kapital von zentraler Bedeutung: steigende<br />

Preise fur gleiche Energiernengen erhOhen den Anteil des konstanten Kapitals an<br />

der Gesamtanlage, ohne daB damit Steigerungen der Arbeitsproduktivitat einhergingen.<br />

Ais Folge sinkt die Profitrate. Das Interesse an der Atornenergie entstand und<br />

ehwickelte sichirn Zusammenhang mit aktuellen oder vorausgesagten Energiekostensteigerungen.<br />

Die westeuropaischen Kostennachteile bei konventionellen Energietragem<br />

begrtindeten, vennittelt iiber den Weltrnarkt, den Aufbau der Atornenergie in<br />

den USA. Die britischen Atomplane folgten der jeweiligen Kostenlage im Energiesektor(Mez<br />

1976, S. 135 f.). Seit der sogenannten Olkrise wird die Atornenergie<br />

zunehmend als preiswerte und verlaBliche Energiequelle propagiert. Die Energieproblernatik,<br />

wie sie heute zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit beschworen<br />

wird, ist aber erst jiingeren Ursprungs: in den 60er Jahren lag das Energiepreishiveau<br />

so niedrig, daB die relativen Kostennachteile der BRD-Wirtschaft gegeniiber<br />

den USA die Expansion der exportorientierten energieintensiven Industrien (vor allern<br />

Chemie und Eisenindustrie) nieht behinderten (11). In ihren AnHingen verfolg-.<br />

te die westdeutsche Atomp olitik auch nicht ausschlieBlich das Ziel rentabler Str()ffi­<br />

.erzeugung: neb en weltmarktbezogenen Ubedegungen wurde an Verwendungsmoglichkeiten<br />

beim Schiffsantrieb und in der chernischen Produktion gedacht (12). Von<br />

Energiepolitik im eigentlichen Sinne kann iiberhaupt erst ab 1973/74 die Rede sein<br />

(13). .<br />

2. Gegen Versuche, eine aktuelle oder ktinftige Notwendigkeit der Atornenergie<br />

aus energiepolitischen Erwagungen zu begrtinden, ist folgendes einzuwenden:<br />

'- Die Berechnungen, mit denen die Kostengtinstigkeit von Atornstrorn belegt werden<br />

soIl, beinhalten Unsicherheiten beziiglich der Entwicklung der Rohstoffpreise<br />

uild damit der Strornerzeugungskosten bei unterschiedlichen Technologien; der<br />

Moglichkeiten zur Energieerzeugung mit neuen Technologien, deren Rentabilitat<br />

von den beiden vorgenannten Faktoren rnitbestimrnt wird (14).<br />

- Auch die krisensichere Rohstoffversorgung ist anzuzweifeln; es gibt keine zwingenden<br />

Grtinde, we1che die Uranlieferanten an kartellartigen Zusammenschliissen<br />

hindem konnten; auch beginnen die rnultinationalen Olkonzerne, im Urangeschaft<br />

tiitig zu werden. Was den Schnell en Brutreaktor angeht, so wird relativeUnabhan-<br />

28


Investitionskosten bringen die Kaufer in Abhangigkeit von den Lieferfirmen und<br />

Banken der Herstellerlander und bieten diesen Moglichkeiten zum Kapitalexport<br />

(vgl. Die Spaltung ... , 1977, S. 47 ff.).<br />

4. Die Exportstrategie der westdeutschen Atomindustrie verbindet die Nutzung<br />

von Konkurrenzvorteilen mit dem Ausgleich spezifischer Konkurrenznachtei­<br />

Ie. Eine entscheidende Schwache liegt im Mangel an eigenen Uranvorkommen und<br />

der darin begrundeten Abhangigkeit von Brennstoffimporten. Dagegen ist die westdeutsche<br />

Atomindustrie in der Lage, die technischen Anlagen zur Durchflihrung des<br />

Brennstoffzyklus herzustellen. Landern mit eigenen Rohstoffvorkommen wird es<br />

uber den Erwerb dieser Anlagen moglich, den gesamten Proze8 von der Urananreicherung<br />

bis zur Wiederaufbereitung selbst vorzunehmen. Am Beispiel des Brasiliengeschaftes<br />

werden die Vorzuge dieser Strategie fur die BRD-Exporteure deutlich:<br />

Durch die Lieferung des kompletten Atomenergieversorgungszyklus nahm das Geschaft<br />

betrachtlichen Umfang an. Die amerikanische Konkurrenz wurde ausgebootet,<br />

da die USA, vtorwiegend aus politischen Grunden, den Export von Verfahren<br />

zur Brennelementeherstellung und Wiederaufbereitung ablehnen, Brasilien aber<br />

Wert auf den militarisch bedeutsamen Brennstoffzyklus legte (ebd.).<br />

Was uber den Beitrag der Atomenergie zur Stromversorgung ausgefiilirt wurde,<br />

spricht ebenso wie der Stellenwert des Exportes fur die Einschatzung, daB die<br />

Bedeutung der Atomtechnologie fUr das westdeutsehe (wie flir das US-)Kapital VOTrangig<br />

in den Absatzmogliehkeiten auf dem Weltmarkt zu sehen ist. Die Durchsetzung<br />

der Atomenergie im Inland soll in erster Linie, wenn aueh nieht aussehlie8lieh,<br />

diese Absatzmogliehkeiten vorbereiten. Das ma8gebliehe Interesse an der Atomenergie<br />

liegt bei jenen Firmen, die Atomanlagen herstellen und unter denen sieh die<br />

bedeutendsten Konzeme der BRD befinden. Wirtsehaftswaehstum im Zusammenhang<br />

mit Atomenergie meint von daher weniger die optimale Energieversorgung als<br />

das Waehstum der "Sehlusselbranche" Atomindustrie. Dureh teehnologisehe Neuerungen<br />

und Verbesserungen sowie den Umfang der Projekte bietet die Atomteehnik<br />

profittraehtige Anlagemogliehkeiten mit Ausstrahlung auf eine Vielzahl voil<br />

Wirtsehaftszweigen (Zur friedliehen Nutzung ... , 1977, S. 431). Auf Grund der Verwertungseffekte,<br />

die yom Atomgesehaft ausgehen, "war es in der Bundesrepublik<br />

bis in die siebziger Jahre hinein maglieh, die Interessen der Elektroteehnik und des<br />

Maschinenbaus als Erbauer von Reaktoren und Brennstoffzyklusanlagen, von Chemiseher<br />

und Metallindustrie als Betreiber des Brennstoffzyklus, ja sogar des Kohlebergbaus,<br />

der wiehtigsten Konkurrenzenergieerzeuger flir die Atomkraft in der Elektrizitiitserzeugung,<br />

hinter der Atomkraftentwicklung zu vereinigen" (Deubner 1977,<br />

S. XIII).<br />

Bei der Verbreitung der Atomenergie verfolgt der Staat mit den Interessen<br />

dieser Schlusselindustrien aueh eigene Belange; da sind einmal die offentliehen Investitionen<br />

und Beteiligungen, die sieh auszahlen soHen, zum anderen die gesamtwirtschaftliehen<br />

Auswirkungen, dureh die Fragen der politisehen Stabilitat beruhrt werden.<br />

Die neuen Ausma8e und Formen, die das staatliehe Engagement sowohl innenwie<br />

auEenpolitiseh angenommen hat, erkiaren sieh aus dem hohen okonomisehen<br />

und politisehen Stellenwert dieser Teehnologie (ebd., S. X f., und Geist/Wolf 1977,<br />

30


von ihrer gebraucmwertschaffenden wie ihrer wertbildenden Fahigkeit her, verschwindend<br />

gering.<br />

3. Dem einzelnen Arbeiter, def Bestandteile herstellt, bleibt das Endprodukt<br />

fremd. Mit def Massenproduktion verschwindet auch an diesem def Bezug auf die<br />

Bedtirfnisse von Produzent und Konsument.<br />

4. Mittels Zedegung und Vereinheitlichung der Arbeitsverrichtungen werden<br />

die geistigen Produktionspotenzen den unmittelbaren Produzenten entzogen und<br />

bei einer besonderen Gruppe von Lohnarbeitem konzentriert. Vergegenstandlicht in<br />

der Technik tritt das gesellschaftliche Wissen urn die Produktion dem Arbeiter als<br />

Macht des Kapitals entgegen. Die Bedingungen def Mehrwertproduktion werden (in<br />

def Form von Technologie) durch die wissenschaftlich-technische Arbeit gesetzt; ihre<br />

Ergebnisse wirken sich als Intensivierung der Arbeit aus. Die Bedeutung der unmitelbaren<br />

Arbeit reduziert sich auf die Umsetzung dieser Ergebnisse in der Produktion<br />

(17). Mit der Zedegung def Arbeitsvorgange und ihrer Neuzusammensetzung<br />

durch einen von au£en bestimmbaren Mechanismus sichert sich das Kapital die Kontrolle<br />

tiber den Produktionsproze£. Zwecksetzung und -realisation def Produktion<br />

sind getrennt; die Trennung gewinnt dingliehe Gestalt in def Masehinerie. Flir den<br />

Arbeiter ist in der Funktionsweise der Teehnik ein Hbcmtma£ an Fremdbestimmung<br />

und Un dufehsichtigkeit angelegt; die Herrschaft des Kapitals erhalt den Schein<br />

von Sachzwangen,<br />

2.2. Zur emanzipatorischen Dimension der Produktivkraftentwicldung<br />

2.2.1.Emanzipatorische Mbgliehkeiten und ihre kapitalistisehe Fonnbestimmung<br />

Der emanzipatorische "Inhalt" des Technikbegriffs besteht in def Dberwindung def<br />

Unmittelbarkeit menschlicher Arbeit. Das bedeutet: Verringerung der notwendigen<br />

Arbeitszeit und qualitative Veranderung der verbleibenden Arbeit (Oberwindung<br />

der Arbeitsteilung, Wissensehaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit der Produktion).<br />

In def realen technischen Entwicklung sind die emanzipatorischen Momente als allgemeine<br />

Mbgliehkeit (gleichsam unter der kapitalistischen F onnbestimmung) enthalten<br />

(vgl. Minnsen/Sauerbom 1977).<br />

1. Das Kapital entwickelt die Produktivkraft der Arbeit und verringert die<br />

notwendige Arbeitszeit. In der Gewinnung verftigbarer, d.h. nieht ZUI reinen Existenzerhaltung<br />

benbtigter Zeit sieht Marx "die groEe geschiehtliche Seite des Kapital8"<br />

(Grundrisse, S. 231; zum folgenden S. 599; Kapital I, MEW 23, S. 618): Menschliche<br />

Arbeit lost sieh von Naturzwangen und kann Mittel bewu£ter gesellschaftlichef<br />

Zwecksetzung werden; die Verringerung deT notwendigen Arbeitszeit ist Voraussetzung<br />

fUr die allsei tige En twicklung des Individuums; mi t dem rna teriellen Reichtum<br />

entstehen neue Bedlirfnisse und neue Fahigkeiten zum GenuE. Da Zweck und<br />

Bedingung kapitalistischer Produktion die Gewinnung von Mehrwert ist, wird ein<br />

Gro£teil def verfUgbaren Zeit in Mehrarbeitszeit verwandelt. Wird mehr Mehrarbeit<br />

geleistet, als sich verwerten la£t, muE die notwendige Arbeit unterbrochen werden:<br />

die in Mehrarbeitszeit verkehrte verfUgbare Zeit erscheint dann in def "freien" Zeit<br />

32


2.2.2. SchluJ1folgerungen fur eine Kritik kapitalistischer Produktivkraftentwicklung<br />

1. lndem es unter def blinden Prioritat der Produktionssteigerung die Produktivkraft<br />

der Arbeit entwickelt, bringt das Kapital sowohl die materiellen Grundlagen als auch<br />

die subjektiven Fahigkeiten und Bedtirfnisse zu seiner Aufhebung in einer hoheren<br />

Produktionswiese hervor (19). Die emanzipatorischen Moglichkeiten sind jederzeit<br />

def Gefahr der Zerstorung ausgesetzt, denn in def widersprlichlichen Bewegung des<br />

Kapitals, in der es Schranken seiner Verwertung aufrichtet und tiberwindet, kann<br />

die Produktivkraft def Arbeit endgUltig in das umschlagen, was sie tendenziell schon<br />

immer ist: Destruktivkraft (20).<br />

2. Eine nachkapitalistische Gesellschaft trifft Technik in ihrer kapitalistischen<br />

Formbestimmung an. Was mit deren Zwecksetzung entfallt, ist ¢ler Zwang zur Verkehrung<br />

verftigbarerin Mehrarbeitszeit. Technik bleibt zur Herstellung von Gebrauchswerten<br />

verwendbar, denn als Mittel zur Verwertung muB sie immer auch zweckma­<br />

Bige Bedingung zur Produktion von Gebrauchswerten sein. Doch ist, da beide Seiten<br />

miteinander vermittelt sind, mit def Verwendung zu anderen Zwecken die in Technik<br />

vergegenstandlichte Herrschaft nicht beseitigt. Erst die bewuBte gesellschaftliche<br />

Entscheidung tiber Zwecke und Mittel def Produktion erlaubt eine "Neuformulierung<br />

der Funktion von Technologie" (Dickson 1978, S. 81; vgl. auch Minssen/<br />

Sauerborn 1977, S. 49), eines neuen "Inhaltes", von dem aus die kapitalistische<br />

Form als "Unangemessenheit" erscheint und Sachzwange als Ausdruck vergegenstandlichter<br />

Herrschaft erkannt und aufgehoben werden konnen, wenn sie auch<br />

nicht unmittelbar und nicht aile zu tiberwinden sind.<br />

3. Wird die Feststellung, daB bestimmte "soziale Folgen" durch die Technikform<br />

gesetzt sind, nicht auf deren Entstehung befragt, so bleibt nur Resignation<br />

oder die trligerische Hoffnung auf "Uberwindung def kapitalistischen Formbestimmung<br />

'" per Dberwindung der materiellen Arbeit tiberhaupt" (Minssen/Sauerborn<br />

1'977, S. 71). Mit der Bemerkung, daB "Rechnen" oder "Energieerzeugung" der jeweligen<br />

gesellschaftlichen Zwecksetzung gegentiber neutral sei, laBt sich das gesellschaftliche<br />

def technischen Konstruktion nicht erfassen. Die zur Auswahl stehende<br />

Alternative beschrankt sich dann auf die Anwendung scheinbar neutraler wissenschaftlich-technischer<br />

Prinzipien, etwa als Wahl zwischen kriegerischer und "friedlicher"<br />

Nutzung "der" Atomkraft. Andererseits laBt sich auf dieser abstrakten Ebene<br />

auch tiber den Klassencharakter von Technik nichts Prazises aussagen. So gibt z. B.<br />

die Feststellung, daB sich def Herrschaftscharakter def Naturwissenschaften in def<br />

Technik vergegenstandlicht, keine Auskunft darliber, wie diesem beizukommen wareo<br />

Technik kann weder ausschlieBlich als zweckmaBige Bedingung zur Herstellung<br />

von Gebrauchswerten begriffen noch abstrakt als Herrschaftsmittel negiert<br />

werden. Kritik an Technik ist Bestandteil jener Kritik, welche die kapitalistische<br />

Produktionsweise hervorbringt und die sich auf konkrete Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />

richtet.<br />

Ihre Gegenstande sind, in grober Ubersicht:<br />

- soziale Beziehungen, die sich tiber Technik vermitteln bzw. durch sie gesetzt wer-<br />

34


den, z. B. Arbeitsteilung, Entscheidungsstrukturen; ebenso Kommunikationsverfahren,<br />

wie Telefon, Verkehrsmittel usw.<br />

- das Verhaltnis zur inneren und au£eren Natur: Umweltzerstorung; Auswirkungen<br />

von Technik auf das korperliche und psychische Befindender Menschen, z. B.<br />

Arbeitsbelastungen, Unfall- und Krankheitsrisiken;<br />

- allgemeine gesellschaftliche Auswirkungen, auf Beschaftigungslage, Erwerbsstruktur<br />

und Arbeitsteilung, Beziehungen zwischen Hand- und Kopfarbeit, Qualifikation;<br />

- politische Auswirkungen, z. B. MaBnahmen zum Schutz von und vor Technik.<br />

Diese Auswirkungen lassen sich daraufhin unterscheiden, ob sie<br />

in der Funktionsweise einer Technologie als Gesamtheit;<br />

in einzelnen Merkmalen der technischen Struktur;<br />

in def Anwendung;<br />

- in MaBnahmen, welche die Anwendung begleiten,<br />

verankert sind (vgl. naher Ullrich 1979 und ders. in SB 1978).<br />

Entsprechend sind die Ansatzpunkte der Kritik zu bestimmen. SoIl diese nicht<br />

def Oberflache def Erscheinungen verhaftet bleiben, mu£ sie zu den Triebkraften<br />

def technischen und wissenschaftlichen Entwicklung vordringen.<br />

3. Die Atomtechnologie als Beispiel fijI die Vergegenstandlichung der kapitalistischen<br />

Zwecksetzung in def Technikform<br />

3.1. Thesen zur Naturaneignung durch das Kapital<br />

1. Kapitalistische Naturaneignung ist tendenziell unbegrenzt. Das Kapital drangt<br />

auf Dberwindung aller Schranken, die seiner Verwertung im Wege stehen und ersetzt<br />

die vorgefundenen gesellschaftlichen sowie die natiirlichen Verwertungsvoraussetzungen<br />

durch soIche, die es selbst hervorbringt.<br />

2. Kapitalistische Naturaneignung bedient sich wissenschaftlich fundierter<br />

Technologie. In der Analogie wissenschaftlicher und technologischer Verfahren<br />

kommt die strukturelle Ahnlichkeit zwischen Wissenschaft und Kapital zum Ausdruck.<br />

Methoden und Zwecke der Naturaneignung sind dem Gegenstand auBerlich.<br />

Folge ist (a) die Partikularisierung der angeeigneten Natur, (b) das Unvermogen, den<br />

Gesamtzusammenhang def Naturerscheinungen zu erfassen; er macht sich als "unvermutete<br />

Reaktion" gelterid (Bulthaup 1973, S. 22).<br />

3. Bei der Aneignung von N aturstoff wird all das zerstort, was sich nicht in<br />

kapitalistische F ormbestimmung bringen liiBt. Dies beinhaltet die Zerstorung von<br />

Produktionsvoraussetzungen. Dazu zwei Beispiele:<br />

- Sparsame Verwendung von Naturressourcen ist erst dann gewahrleistet, wenn<br />

ihre Knappheit Kostensteigerungen he rvorruft. In diesem Fall wird die Wiederverwendung<br />

von Abfallstoffen zu einer Methode der Okonomie in def Anwendung<br />

des konstanten Kapitals (21). Wirkt sich die Erschopfung def Ressourcen (noch)<br />

nicht als Kostpreissteigerung aus, besteht die Okonomie gerade im Verzicht auf<br />

die entsprechenden MaBnahmen.<br />

35


- In der kapitalistischen Produktion fallen materielle und wertmiiBige Dbertragung<br />

auseinander. Roh- und Hilfsstoffe konnen im VerwertungsprozeB vollstandig aufgehen,<br />

ohne daB sie im ArbeitsprozeB restlos umgefonnt worden waren. Die Schadstoffe,<br />

die dabei entstehen, erscheinen nicht in den Wirtschaftsrechnungen der einzelnen<br />

Unternehmen; die Roh- und Hilfsstoffe werden als ."verbraucht" verbucht<br />

(vgl. Kapital I, S. 219; Hassenpflug 1974, S. 38 ff.).<br />

3.2. Entwicklung und Funktionsweise der Atomtechnologie<br />

1. Die Kosten fur Sicherheitsvorkehrungen (22) werden gegen die Unkosten durch<br />

mogliche Unfille und sonstige Schaden aufgerechnet; daraus ergibt sich eine nach<br />

Rentabilitatserwagungen ennittelte "Toleranzschwelle". Fiir die Technikproduzenten<br />

wird die Erftillung von Sicherheitsanspriichen zur Voraussetzung fUr den Absatz<br />

ihrer Produkte. "Der scharfe internationale Wettbewerb mit amerikanischen, franzosischen<br />

und britischen Atomkraftwerksproduzenten und die Konkurrenz mit einheimischen<br />

Energietragern wie zum Beispiel Kohle und Erdgas zwingen die Atomindustrie<br />

der Bundesrepublik Deutschland aber nicht nur zu einem HochstmaB an<br />

Sicherheitseinrichtungen. Die deutsche Atomindustrie solI andererseits auch einen<br />

wettbewerbsfahigen Preis fur den Export von Atomanlagen und fUr den erzeugten<br />

Strom bieten konnen." (Arbeitsgruppe WW A 1977, S. 99) Abgesehen von "einigen<br />

Grundlagenforschungen" stiitzte sich die westdeutsche Reaktorentwicklung auf das<br />

Sicherheitsma terial der amerikansichen Lizenzgeber, "ohne daB auch nur ein einziger<br />

praktischer Sicherheitsversuch durchgeftihrt wurde, urn sich von den Behauptungen<br />

der Hersteller zu iiberzeugen" (Strohm 1977, S. 233). In den USA wie in der<br />

BRD waren es Erfordemisse der korrnnerziellen Verwendung der Atomenergie, die<br />

Sicherheitsforschungen ausgelost haben. Zudem spielte der "Vertrauensschwund"<br />

in der Offentlichkeit eine wichtige Rolle (ebd., S. 165). In welcher Weise Sicherheitsregelungen<br />

durch korrnnerzielle Gesichtspunkte beeinfluBt werden, zeigt fo1gende<br />

Aussage des Bundesinnenministeriums von 1971:<br />

"Eine Analyse der technischen Gegebenheiten hat gezeigt, daB der Richtwert<br />

von 150 mrem/ Jahr bei modernen Kemkraftwerken herabgesetzt werden kann, weil<br />

inzwischen technische Einrichtungen fUr die hierzu erforderliche Behandlung der fadioaktiven<br />

Abluft in der Anlage verfUgbar sind." (zitiert nach Strom 1977, S. 102)<br />

Wenn hier von "technischen Gegebenheiten" gesprochen wird, so ist das entscheidende<br />

Kriterium "wirtschaftliche Nu tzung" stillschweigend vorausgesetzt, denn erst<br />

unter dieser Voraussetzung konnen technische Moglichkeiten richtungsweisend fUr<br />

Stralllenbelastungsrichtwerte werden. In anderen Fallen wurden Belastungswerte<br />

nach "technischen" Gegebenheiten heraufgesetzt (vgl. ebd. S. 103 und 236). Die<br />

Unklarheit Uber das genaue AusmaB von Schaden - eine untere Grenze radioaktiver<br />

Belastung gibt es nicht, so daB nur das Ausmaj3 der Schaden variiert, das, auf Grund<br />

der langen Latenzzeiten und der Unmoglichkeit, die verursachenden Faktoren zu<br />

isolieren, im niedrigen Belastungsbereich aber nicht mit Sicherheit festzustellen ist<br />

- erleichtert derartige Manipulationen.<br />

36


2. Die Energiegewinnung in AKW ist vergleichbar mit Arbeitsablaufen in der<br />

chemischen Industrie. Die Produktion ist in hochstem MaBe aul1engesteuert; def<br />

technisch erzeugte ,,NaturprozeB" legt die Arbeitstatigkeit fest. Gesellschaftlichkeit<br />

und geistige Potenzen def Produktion verkorpern sich in diesem Prozel1. Wie auch<br />

sonst bei def Elektrizitiitserzeugung ist die offene Zweckstruktur stark ausgepragt.<br />

In Teilbereichen verbleiben Arbeiten auf niedriger technischer Stufe. Das Nebeneinander<br />

hochautomatisierter und nieht oder kaum mechanisierter Arbeiten ist u,a.<br />

dem gegenwartigen Stand technischer "Ausreifung" geschuldet, auf dem es immer<br />

wieder zu Storungen in den automatischen Ablaufen kommt. Die Tiitigkeiten im<br />

Wartungs- und Reparaturbereich und in den nicht automatisierten Sektoren sind<br />

mit groBen Unfallrisiken und hohen psychischen und physischen Belastungen verbunden.<br />

Bei Arbeiten in den verseuchten Zonen wird die Unfallgefahr durch die Arbeitshetze<br />

auf Grund def Strahlengefahrdung verstarkt. Da def Stillstand def Anlagen<br />

hohe finanzielle Verluste mit sich bringt, stehen Reparaturarbeiten unter zusatzlichem<br />

Zeitdruck (23).<br />

3.3. Die Atomtechnologie als "Destruktivkraft":<br />

zur neuen QualWit der Gefiihrdung durch A tomanlagen<br />

Die scWeichenden Folgen radioaktiver Strahlung und das Risiko von Katastrophen<br />

bestehen unabhangig von den gesellschaftlichen Zweeken, zu denen die Atomteehnologie<br />

angewendet wird. Auch naeh der Stillegung def Anlagen wirken die stofflichen<br />

Eigenarten weiter. So erwachsen z. B. aus der Lagerung atoniarer AbfaIle Gefahren<br />

und Zwange, die nach dem Naturmodus behandelt werden mussen und in<br />

denkbaren atomaren Katastrophen nehmen die Ergebnisse gesellschaftlicher Entseheidungen<br />

die Gestalt von Naturereignissen an.<br />

Es laBt sich einwenden, daB aueh andere Techuologien unausweicWiche und<br />

auf lange Zeit angelegte Zwange hervorbringen und das Risiko von Unfallen einschlieBen,<br />

die Naturkatastrophen ahneln. Dabei ist an Staudarnmbriiche, Bergwerksunglucke<br />

oder UnHille in der chemischen Industrie zu denken. Das Neue an Gefahrdung,<br />

das die Atomenergie kennzeichnet, ist als "UmscWagen von Quantitat in Qualitat"<br />

zu begreifen: es sind die raumlichen und zeitlichenAusmafie und der Umfang<br />

an Unurnkehrbarkeii, die das bisher "technisch mogliehe" ubersteigen.<br />

3.4. Die Atomtechnologie als Beispiel [iir die Verselbstandigung gesellschaftlicher<br />

Zwecksetzungen zu Sachzwangen<br />

"Eine ausgereifte Plutoniumwirtsehaft, wie sie sich aus def EinfUhrung des ,Schuellen<br />

Briiters' ergibt, rechtfertigt ein hickenloses Uberwachungssystem alIef per Arbeitsprozesse<br />

Beteiligten zuzuglich ihrer Angehorigen und Freunde, zuzuglich def<br />

Anwohner der Transportwege." (Stange 1978, S. 23) Mit der Atomenergie wird ein<br />

Zustand moglich, in dem sich Uberwaehungs- und andere MaBnahmen mit objektic<br />

37


ven, in der Stofflichkeit des Gegenstandes begriindeten Gefahren rechtfertigen lassen.<br />

Bis jetzt dient die Berufung auf derartige "objektive" Notwendigkeiten zumeist<br />

noch der Durchsetzung von Teilinteressen. Bezeichnend ftir die Mystifizierung dieser<br />

Interessen und der von ihnen hervorgebrachten Technik ist, daE die Zwange der<br />

Atomenergie als quasi naturgesetzlich dargestellt werden, bevor sie in gro£em Umfang<br />

materielle Gestalt gewonnen haben. Damit wird verdeckt, daE die bereits getroffenen<br />

und noch ausstehenden Entscheidungen in ihrer ganzen Tragweite keineswegs<br />

notwendig sachgesetzlich vorgegeben und alternativlos sind.<br />

4. Schlu:Bfolgerungen<br />

l. Nicht erst die Anwendung, sondern bereits die Konstruktion von Technologie<br />

unterliegt der gesellschaftlichen Fonnbestimmung. Daraus folgt sowohl die M6glichkeit<br />

als auch die Notwendigkeit von TechnoJogiekritik. SolI diese tiber die Feststellung<br />

allgemeiner Merkmale kapitalistischer Technikentwicklung hinaus praktisch<br />

wirksam werden, so mu£ sie die kapitalistische Fonnbestimmung im einzelnen, in<br />

der Funktionsweise bestimmter Technologien, aufzeigen und zu verandern suchen.<br />

2. Die Atomtechnologie liefert Beispiele flir die Risiken, we1che die kapitalistische<br />

Entwicklung der Produktivkraft in sich birgt. Ein Teil der Gefahren -ist in der<br />

stofflichen Beschaffenheit und in der Funktionsweise der Atomtechnologie angelegt<br />

und besteht unabhangigvon den jeweiligen Zwecken und Fonnen ihrer Anwendung.<br />

Von daher ist die grundsatzliche Ablehnung dieser Technologie (zumindest auf dem<br />

gegenwartigen Stand ihrer Entwicklung) angebracht und gerechtfertigt.<br />

3. Auf der Grundlage einer gewissen Beweglichkeit des Kapitals in technologischen<br />

Entscheidungen beinhaltet der Widerstand gegen die Atomenergie M6glichkei"<br />

38


8 Ausgaben der beiden ersten AtP (bis 1962): 5.253 Mrd. DM<br />

3. und 4. AtP (1967 - 76): 12.281 MId. DM<br />

geplante Ausgaben 1976 - 80: 4.352 MId. DM<br />

9 Beispiele: der gescheiterte Versueh des Eltviller Prgogramms unter Auslassung des Experimentierstadiums<br />

zum Bau von Leistungsreaktoren vorzustoi1en; die Sehwierigkeiten der<br />

AEG mi t dem AKW Wiirgassen.<br />

10 vgl. "F orschung flir eine moderne Volkswirtsehaft"<br />

11 Hom 1977, S. 137 ff. macht das an der gegenseitigen Durchdringung der energieintensiven<br />

Branchen im intemationalen Rahmen fest. Dabei war von Bedeutung, dai1 die staatliche<br />

Energiepolitik in der BRD stiirker als in den USA die Interessen der groi1en Energieverbrauehergruppen<br />

beriicksichtigte. So hat die staatlich tolerierte Expansion des Erdols<br />

iiberproportionale Produktionssteigerungen der Grundstoffindustrien begiinstigt. Zur<br />

Energiepolitik der Bundesregierungen in den 50er und 60er Jahren vgl. ebd., S. 243 ff.<br />

12 Von daher ersehien die Ubernahme des LWR gegeniiber der Entwicklung eigener, vielseitiger<br />

verwendbarer Reaktorlinien zunachst nieht sinnvoll. Ebenso war der Einflui1 der<br />

EVU in der Anfanesphase der westdeutsehen Atomenergieentwicklung gering. Vgl. Radkim<br />

1978, S. 203 f.<br />

13 In Foige der Veranderungen, die zur sogenannten Olkrise flihrten und bereits ab Anfang<br />

der 70er Jahre abzusehen waren. Naher dazu Meyer-Renschhausen 1977, S. 111 ff.<br />

14 Vgl. dazu Geist/Wolf 1977, S. 19, Fui1note lla zur Verbreitung von Solar-Energie-Heillwasserspeichern<br />

in Florida und Kalifomien in den 20er Jahren und ihrem Riickgang mit<br />

den sinkenden Gas- und Strompreisen nach dem 2. Weltkrieg.<br />

15 So handelt es sich beirn Brasiliengeschiift urn den grofllten Auslandsauftrag des deutschen<br />

Kapitals nach 1945. Die geplanten Atomgeschafte mit Iran hatten diese Ausmai1e noeh<br />

iibertroffen.<br />

16 Naher dazu Ullrich 1977; Woesler 1978, SB 1978<br />

17 Die wissensehaftlich-technische Arbeit schafft selbst keinen Mehrwert. Naher dazu BahI,<br />

S. 46 ff.<br />

18 Ein weiteres Beispiel ist der Lohnkampf, als Triebkraft zur Ersehliei1ung von Verwertungsmoglichkeiten<br />

in der Konsumgiiterproduktion.<br />

19 Dennoeh lassen sich Ausbeutungsverhiiltnisse weder riickwirkend noch gleichzeitig mit<br />

der Notwendigkeit der Produktivkraftentwicklung rechtfertigen. Auch ist das Kapital<br />

nicht das einzige Produktionsverhaltnis, das diese Entwieklung bewerkstelligen konnte.<br />

Hervorzuheben ist die Bedeutung der Produktivkraftsteigerung, solange die unmittelbaren<br />

N aturzwange (die selbst historiseh und geographisch untersehiedlieh sind) no.;h nieht<br />

iiberwunden sind.<br />

20 Man denke an die technischen ,,Fortsehritte" in der Riistungsproduktion. Zu den Verwertungsschranken<br />

ware auf das "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate" einzugehen.<br />

21 Zur Okonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals vgl. KapitallII, S. 87 ff.<br />

22 Zur "Nutzenkurve" der A tomenergie vgl. Arbeitsgruppe WAA 1977, S. 45<br />

23 Zum Unfall im AKW Grundremmingen, der diesen Sachverhalt veranschaulicht vgl.<br />

Jungk 1977, S. 75. Zur Arbeit in Atomanlagen vgl. den Bericht von Robert Jungk tiber<br />

die Wiederaufbereitungsanlage in La Hague, ebd., S. 1 - 40.<br />

24 Dieser Zusammenhang lafllt sich an den Mai1nahmen zur "Humanisierung der Arbeit" beispielhaft<br />

nachvollziehen.<br />

40


Literatur<br />

(a) zu A tomenergie, Energiepolitik:<br />

Arbeitsgruppe "Wiederaufbereitung": Atommiill oder Der Abschied von einem teuren Traum,<br />

Reinbek 1977<br />

Deubner,Christian: Die A tompolitik der westdeutschen Industrie und die Griindungvon Euratom,<br />

Frankfurt 1977<br />

Die Spaltung des Kerns im Dienst des Kapitals, 2. erweiterte Auflage, Haarlem 1977<br />

Geist, Till/Winfried Wolf: Wir spielcn nicht mit im Atomverein!, Frankfurt 1977<br />

Horn, Manfred: Die Energiepolitik der Bundesregierung von 1958 bis 1972, Berlin 1977<br />

Jungk, Robert: Der A tomstaat, Miinchen 1977<br />

Kitschelt, Herbert: Kernenergie und politischer KonDikt: Gesellschaftliche F olgen kapitalistischer<br />

Technologieentwicklung, in: Leviathan 4/79<br />

Massarrat, M.: Die Ursachen des massiven Ausbaus der Kernenergie, in: <strong>Prokla</strong> 34/1979<br />

Meyer-Renschhausen, Manfred: Energiepolitik in der BRD von 1950 bis he.ute, Koln 1977<br />

Mez, Lutz: Die Atomindustrie in Westeuropa, in: Technologie und Politik 7, Reinbek 1976<br />

Moldenhauer, Bernd: Politische und okonomische Entstehungsbedingungen de! zivilen Atomindustrie,<br />

in: Blatter flir deutsche und internationale Politik 7/75 und 10/75<br />

Priill, Karsten: Kernforschungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1974<br />

Radkau, Joachim: Ker'nenergie-Entwicklung in der Bundesrepublik: ein Lernprozef.:,? in: Geschichte<br />

und Gesellschaft 2/78<br />

Rodel, Ulrich: F orschungsprioritaten und technologische Entwicklung, Frankfurt 1972<br />

Stange, Rainer: Das Dilemma der "friedlichen" Nutzung von Kernenergie, in: links Nr. 96,<br />

Febr.1978<br />

Strohm, Holger: Friedlich in die Katastrophe, 4. Aufl., Hamburg 1977<br />

VerOffentlichungen der Bundesregierung:<br />

Forschung fUr eine moderne Volkswirtschaft und zur Verbesserung der Lebensverhaltnisse,<br />

Bonn (1976)<br />

ZUI friedlichen Nutzung der Kernenergie, Bonn 1977<br />

(b) zu Technik, Naturwissenschaft, Naturaneignung:<br />

Bahr, Hans-Dieter: Kritik der "Politischen Technologie", Frankfurt 1970<br />

Bulthaup, Peter: ZUI gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Frankfurt 1973<br />

Dickson, David: Alternative Technologie, Miinchen 1978<br />

Hassenpflug, Dieter: Umweltzerstorung und Sozialkosten, Westberlin 1974<br />

Minssen, Heiner/Werner Sauerborn: Zur Kritik des Technikbegriffs in der Theorie der "wissenschaftlich-technischen<br />

Revolution", in: <strong>Prokla</strong> 29/1977<br />

Sozialistisches Biiro (Hrsg.): Marxismus und Naturbeherrschung, Offenbach 1978<br />

Ullrich, Otto: Technik und Herrschaft, Frankfurt 1977<br />

ders.: Weltniveau, Berlin 1979<br />

Woesler, Christine: Fiir eine be-greifende Praxis in der Natur, Gief.:,en 1978<br />

41


++t+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++<br />

+ Diskussion zuni Thema Okologie und Marxismus in PROKLA 34 :I:<br />

+ +<br />

+ Oskar Negt, Zur Dialektik der Ubergangsperiode in Westeuropa - Lelio Bassos +<br />

:I: Konzeption der revolutionliren Transformation +<br />

+ Editorial: Okologie und Marxismus +<br />

+ +<br />

+ M. Massarrat, Die Ursachen des massiven Ausbaus der Kernenergie +<br />

:I: Helmug Migge, Kapitalakkumulation, Umweltschutz und gesellschaftliche Inter- :I:<br />

+ essen +<br />

+ . +<br />

:I: Ursula GlaeBner / Bernhard Koppel, Die alltligliche Gesundheitszersttirung im +<br />

+ industriellen ProduktionsprozeB +<br />

+ +<br />

+ Gerhard Arrnanski, Uberlegungen zum VerhaItnis von Mensch, Natur und Gesell- :I:<br />

+<br />

schaft +<br />

:I: Peter Dudek, Naturwissenschaftliche Denkformen und okonomische Struktur :I:<br />

+ . +<br />

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++<br />

42


ON<br />

Nr. 61 - Nov. '78: Der Traum vom anderen Leben / "Lucas Aerospace":<br />

Arbeiterautonomie und Technologiekritik / Kommunen<br />

und utopische Wohnformen / "Alternativer Tourismus"<br />

Nr. 62 - Marz '79: Bis der Schmerz in Lust umschlagt '" 1st FuB·<br />

ball korperfeindlich / Deutsche Jugend, FuBball und Faschismus /<br />

Gesprache mit FuBballveteranen und einem Dorfkicker<br />

Nr. 63 - Juni '79: Musik und Bewegung / "Was mir Rock bedeutet"<br />

/ Musikalischer Gehalt und Wirkungsweise von Pop -Musik I<br />

Diskussion tiber Musiktherapie und -padagogik / "Beruf !<br />

64 - Man '80: Any problems, sir?" ... Manner und Politik I<br />

Dber die Schwierigkeiten in der modemen Welt lieben zu konnen /<br />

Erzeihung zum Tode: Zu "Mars" von Fritz Zorn / Bericht eines<br />

U-Boot-Kommandanten aus dem Zweiten Weltkrieg<br />

Be s tell U II g e n an die Redaktion 34 GottingeIl,Postfach 640.<br />

Preis pro Heft DM 2,50 Porto). Geld bitte in Briefmarken oder das<br />

Postscheckkonto Hannover 87377 -300 (Politikon) iiberweisen.<br />

Abo: (4 Hefte + Vers.): DM 7,- / (6 Hefte): DM / (8 . DM<br />

Geld bitte mit dem Vermerk ,,Politikon-Abo ab Nr ... "an og. Postscheckkto.


Bringt die<br />

ndidatur der<br />

Griinen rauB<br />

an die cht?<br />

Mug man also wieder SPD/FDP,<br />

das ewige "kleinere Obel" wahlen?<br />

Diese Fragen werden in den<br />

Beitragen von Heinz Brandt,<br />

Elmar Altvater, Claus Offe, Karsten<br />

Voigt, Jakob Moneta, Horst-Dieter<br />

Ronsch u.v.a. untersucht.<br />

Lutz Mez, Ulf Wolter (Hrsg.)<br />

Die Quai der Wahl<br />

Ein Wegweiser durch die Parteienlandschaft<br />

zur Bundestagswahl 1980.<br />

160 Seiten, ca. OM 9,-<br />

Verlag Olle & Wolter<br />

Postfach 4310,1000 Berlin 30<br />

44<br />

skann<br />

alles a die<br />

Bu esrepublik<br />

zukommen, wenn<br />

StrauBd hi<br />

?<br />

..<br />

Ober den manchmalunaufhaltsamen<br />

Aufstieg des Franz-Josef S.<br />

u nd seine Plane<br />

Verlag Olle & Wolter<br />

Mit Beitragen von Bernd Rabehl,<br />

Hannes Schwenger, Karsten Voigt,<br />

Ossip K. Flechtheim u.a.<br />

160 Seiten, OM 9,80


an die Naturgesetze die Bereitschaft mit, die Gebrauchsanweisungen blind zu befolgen,<br />

die mit jedem StUck moderner Apparatur mitgeliefert werden, und er wendet<br />

skh, falls erwartete Funktionen ausbleiben, hilfesuchend an einen Fachmann.<br />

Wie solI es unter solchen Bedingungen moglich werden konnen, der vorwiegend<br />

durch die Regulative einer kapitalistischen Produktionsweise bestimmten Wissenschafts-<br />

und Technikentwkklung eine demokratische Alternative entgegenzustellen,<br />

die die In tere ssen von unmi ttelbar Betroffenen mit Zielvorstell ungen beztiglich<br />

der Zukunft einer gesamtgesellschaftHchen Praxis vermittelt? - Vor diese Frage ist<br />

nicht nur die Okologiebewegung gestellt, die sich nicht darauf beschranken will,<br />

letztlich doch nur reaktiv bei einer blofi,en Ablehnung vorfindlicher Mifi,stande stehen<br />

zu bleiben, ohne wirksarn mit ihren Beitragen und Mitteln in die von ihr selbst<br />

entfach te politische Diskussion tiber Sinn und Zweck des in hochindustrialisierten<br />

Landern anzutreffenden Riesenarsenals technischen Instrumentariums einzugreifen;<br />

auch konn te man sich vorstellen, daE die Gewerkschaften sich ebenfalls darnit befassen<br />

werden mtissen, wenn sie sich nicht wie in den Auseinandersetzungen wahrend<br />

der Rationalisierungswelle def letzten Jahre immer wieder auf Rtickziige beschdinken<br />

wollen, statt sich aktiv auf die Probleme des kapitalistischen F ortschritts der<br />

Produktionstechnologie einzulassen und eigene wissenschafts- und technologiepolitische<br />

Positionen zu fonnulieren.<br />

Das Problem, wie trotz der zunehmenden Verwissenschaftlichung def Lebenswelt<br />

eine Heraus16sung des technischen Wandels aus dem Zugriff okonomischer Interessen<br />

durch eine Einbindung in demokratische Willensbildungsprozesse zu bewerkstelligen<br />

ware, wird nicht leicht zu Iosen sein. Urn nicht den Gefahren einer<br />

vorschnellen politischen Handwerkelei und einer Prasentation allzu einfacher Utopien<br />

zu erliegen, sollen im F olgenden die Schwierigkeiten dargestellt werden, die<br />

einer Beherrschbarkeit der Produktion von Gtitern - die immer auch mit einer Produktion<br />

gesellschaftlicher Strukturen verwoben ist - durch die Masse der direkt Betroffenen<br />

entgegenstehen. Da auch im Augenblick ein ferUges Konzept alternativer<br />

Technikentwicklung, das Tragfiliigkeit und Praktikabilitat verspricht, gar nicht angeboten<br />

werden kann, solIen diese Schwierigkeiten als Moment einer Kritik der bisherigen<br />

kapitalistischen Technikentwicklung formuliert werden. Insbesondere wird<br />

uns in diesem Zusamrnenhang jenes Hemmnis beschaftigen, welches durch das Problem<br />

der Enteignung des numerisch grofi,ten Teils der Bevolkerung yom Verftigungswissen<br />

tiber ihre lebensweltlichen Beztige nicht nur als F olge der kapitalistischen Arbeitsteilung,<br />

sondern auch gewisser Eigenarten naturwissenschaftlicher und technischer<br />

Wissensproduktion selbst, aufgeworfen worden sind. Selbstverstandlich betdfft<br />

diese Kritik ebenfalls den naturwissenschaftlich-technischen F ortschritt, wie er in<br />

den Staaten des ,realen Sozialismus' vorangetrieben wird, da er· im wesentlichen<br />

durch Dbernahme entsprechender., vermeintlich neutraler Entwicklungen aus hochindustrialisierten<br />

kapitalistischen Landern entstanden ist und sich daher von jenen<br />

nicht unterscheiden lafi,t, also in Wirklichkeit gewissermafi,en einen Import def namlichen<br />

Probleme bewerkstelligte, mit denen wir uns im folgenden auseinanderzusetzen<br />

haben werden.<br />

48


Die kapitalistische Arbeitsteilung rus Enteignung des Arbeiters vom Produktionswissen<br />

Das grundlegend Neue, das die kapitalistische Arbeitsteilung hervorgebracht hat, besteht<br />

in einer Teilung der Arbeit innerhalb der Werkstatt. Vorhergehende Gesellc<br />

schaftsforma tionen kannten eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, die geschichtlich<br />

eine standig sich verfeinemde Ausdifferenzierung von Berufen, von denen jeder<br />

einem Produktionszweig entsprach, mit sich brachte. Die Zerlegung der Arbeit in<br />

Teilaufgaben, d. h. die Arbeitsteilunginnerhalb eines Produktionsprozesses, zerstort<br />

die Berufe in diesem Sinne; sie nimmt dem Arbeiter die Fahigkeit, den HerstellungsprozeE<br />

eines Gegenstandes vollsllindig durchzufUhren.<br />

Die kapitalistische Arbeitsteilung vollzog sich in den drei Stufen Manufaktur,<br />

groEe Industrie mit Maschinerie, sowie wissenschaftliche Betrie.bsfUhrung bzw. Taylorismus,<br />

die verschiedene Arbeitsprozesse zwar zu unterschiedlichen Zeiten und<br />

mit unterschiedlicher Intensitat ergriffen haben, jedoch analytisch auseinandergehalten<br />

werden mussen. Das Grundprinzip, das sie hervorgebracht hat und das ihre<br />

Entwicklung vorantrieb, laEt sich bereits an der manufakturmaEigen Teilung der Arbeit<br />

verdeutlichen.<br />

Die Zerlegung des Herstellungsvorgangs eines Gegenstandes in Detailtatigkeiten,<br />

wie sie fUr die Manufaktur charakteristisch ist (vgl. Klemm 1954; 249 ff., 294<br />

ff.), wurde von Adam Smith am Beispiel der Stecknadelfabrikation untersucht. Er<br />

sieht die produktivitatssteigernde Funktion dieses Typs der Arbeitsteilung darin,<br />

daB erstens fUr jeden Arbeitsgang genau die Arbeitskrafte herangezogen werden konnen,<br />

die am besten fUr seine Durchfiihrung taugen und in ihrer Funktion noch eine<br />

besondere Geschicklichkeit auszubilden imstande sind, daB zweitens beim Ubergang<br />

von einem Arbeitsvorgang zum nachsten keine Zeit mehr verloren geht, wie es gewohnlich<br />

der Fall ist, wenn ein Arbeiter sich durch Umrusten seines Arbeitsplatzes<br />

und anderes mehr auf die einzelnen Stadien seiner Tiitigkeit vorbereiten muE, und<br />

daB drittens gerade durch die Spezialisierung auf Teilvorrichtungen die A'ilwendung<br />

- und Erfmdung - einer Menge von Maschinen moglich geworden ist, die das Arbeitstempo<br />

erhohen und einen einzigen Menschen in die Lage versetzen, die Arbeit<br />

vieler zu verrichten. Mit der so moglich gewordenen rationellen Nutzung der Arbeitskraft,<br />

wo die nun arbeitsteilig aufeinanderbezogene Gruppe pro Kopf eine viel<br />

groBere Produktmenge erzeugt als ein individuell arbeitender Handwerker, werden,<br />

wei! def Anteil des im einzelnen Produkt inkorporierten Arbeitslohnes reduziert<br />

wurde, die Herstellungskosten verringert. Aber noch viel wichtiger als die hiermit<br />

vollzogene Minimierung der Produktionskosten ist fUr die Geschichte der Arbeitsteilung<br />

das zuerst von dem Mathematiker und Mechaniker Charles Babbage formulierte<br />

Prinzip, nach dem die Aufsplitterung einer Tatigkeit in ihre einzelnen Teile zur<br />

Verbilligung def angewandten Arbeitskraft ftihrt. Wahrend, wenn der vollstandige<br />

Herstellungsvorgang von einem einzigen Arbeiter verrichtet wird, dieser so ausgebil.<br />

det sein muE, daB er genugend Geschicklichkeit besitzt, urn die schwierigste, und<br />

geniigend Kraft, urn die anstrengendste der anfallenden Tatigkeitcn ausiiben zu konnen,<br />

kann namlich der industrielle Unternehrner, wenn die auszuftihrende Arbeit in<br />

49


unterschiedliche Arbeitsgange aufgespalten ist, von denenjeder einen anderen Grad<br />

an Geschicklichkeit oder Kraft erfordert, gerade genau die Menge von beidem kaufen,<br />

die fUr jeden dieser Arbeitsgange notwendig ist. So konnten beispielsweise in<br />

der Stecknadelfabrikation fur korperlich weniger anstrengende Arbeiten wie Geradebiegen<br />

des Drah tes, Befestigen der Kopfe oder Verpacken der fertigen Nadeln billige<br />

Frauen- und Kinderarbeit angewandt werden, wohingegen die vergleichsweise<br />

teure Mannerarbeit auf Verrichtungen wie das kraftaufwendige Ziehen des Drahtes<br />

und iihnliches beschrankt werden konnte. In einer Gesellschaft, die auf dem Kauf<br />

und Verkauf von Arbeit beruht, muJl,te das Babbage-Prinzip fUr jede weitere Entwicklung<br />

der Arbeitsteilung grundlegend sein.<br />

So entwickelte die Manufaktur, einmal eingeflihrt, eine Hierarchie der Arbeitskrafte,<br />

die sich in einer Stufenleiter der ArbeitslOhne widerspiegelte. Neben diese<br />

Abstufung trat eine Scheidung der Arbeiter in geschickte und ungeschickte; da fUr<br />

die erstgenannten die Ausbildungskosten, im Vergleich zum Handwerker, infolge<br />

vereinfachter Funktion abnahmen, und flir die letzteren ganz und gar wegfielen, bedeutete<br />

dies flir beide Falle eine Senkung des Werts der Arbeitskraft. Betrachtet<br />

man die manufaktunnaJl,ige Arbeitsteilung jedoch nicht allein unter dem Aspekt<br />

von Kauf und Verkauf der Arbeitskraft, werden weitere Dimensionen ihrer F olgewirkungen<br />

deutlich: Sie "entwickelt ... Arbeitskrafte, die von Natur nur zu einseitiger<br />

Sonderfunktion taugen" (Marx 23; 369). Nur noch der Gesamtarbeiter, also das<br />

Ensemble aller zusammenwirkenden Manufakturarbeiter, besitzt jetzt aIle Eigenschaften,<br />

die erforderlich sind, urn den ProduktionsprozeJl, aufrechtzuerhalten. Der<br />

individuelle Arbeiter in seiner Einseitigkeit und Unvollkommenheit ist daher, urn<br />

iiberhaupt produktiv tatig werden zu konnen, darauf verwiesen, sich in den Betrieb<br />

eines Kapitalisten einzuordnen. Damit erhalt die Funktion des Kapitals als eine<br />

Funktion der Leitung besondere charakteristische Merkmale: "Was die Teilarbeiter<br />

verlieren, konzentriert sich ihnen gegenilber im Kapital. Es ist ein Produkt der manufakturmaJl,igen<br />

Teilung der Arbeit, ihnen die geistigen Potenzen des materiellen<br />

Produktionsprozesses als fremdes Eigentum und sie beherrschende Macht gegeniiberzustellen<br />

... In der Manufaktur ist die Bereicherung des Gesamtarbeiters und daher<br />

des Kapitals an gesellschaftlicher Produktivkraft bedingt durch die Verannung des<br />

Arbeiters an individuellen Produktivkraften" (Marx 23; 382 f. Hervorhebung von<br />

mir, L. H.).<br />

Die Manufaktur als die erste, irreversible Stufe der kapitalistischen Arbeitsteilung,<br />

die fiir den ersten Schritt einer Verstiimmelung des Arbeiters zum Teilarbeiter<br />

steht, zeigt damit, welche F olgen es hat, dall> die kapitalistische Produktionsweise<br />

nur die Beschaftigungen und Qualifikationen befordert, die sie braucht, und dadurch<br />

systema tisch vielseitige Fahigkeiten aushohlt und zerstort, wo sie bestehen. Der hier<br />

einsetzende ProzeB der Loslosung def geistigen Potenzen des materiellen Prod uktionsprozesses<br />

von den Arbeitern in der materiellen Produktion, der dem Arbeiter<br />

tendenziell bereits das Produktionswissen entreiJl,t, welches die stoffliche Grundlage<br />

fUr die Organisation eines jeden Giiterherstellungsprozesses darstellt, bleibt nicht auf<br />

dem erreichten Stand, sondern entwickelt sich weiter mit der industriellen Revolution.<br />

50


Die groj3e Industrie, die sich im Gefolge der Errungenschaften der industriellen<br />

Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts herauszubilden begann, beruhte<br />

auf einer Einftihrung von Maschinensystemen, die vorwiegend durch Dampfmaschinen<br />

in Bewegung gesetzt werden. Das charakteristische Moment der manufakturmaBigen<br />

Teilung der Arbeit, daB jede Bereicherung des vom Kapital angewandten Gesamtarbeitskorpers<br />

an Produktivitat eine Verarmung des einzelnen Arbeiters an individuellen<br />

Produktivkraften bedingt, wird jetzt auf eine qualitativ neue Stufe gehoben.<br />

Denn mit der groBen Industrie erOffnete sich erstmals die Moglichkeit, die Naturwissenschaften<br />

und die auf ihnen aufbauende Technik als vollig neuartige Form<br />

des Produktionswissens zu nutzen, sie von vornherein vom materiell produzierenden<br />

Arbeiter zu trennen und damit vollstandig in kapitalistischer Verfiigung zu halten.<br />

Die groBe Industrie geht, wie Marx im 13. Kapitel des ,Kapital' gezeigt hat,<br />

von der Werkzeugmaschine aus, d. h. von dem Teil der Maschinerie, der die Produktionswerkzeuge<br />

flihrt. Hier treten, wenn auch oft in modifizierter Form, jene Werkzeuge<br />

wieder auf, mit welchen Handwerks- und Manufakturarbeiter gearbeitet hatten,<br />

aber statt als Werkzeuge des Menschen jetzt als so1che eines Mechanismus. Die<br />

Dampfmaschine, wahrend der Manufakturperiode erfunden und in den 60er und<br />

70er Jahren des 18. lahrhunderts durch James Watt verbessert, konnte erst auf dieser<br />

Grundlage ihre volle Potenz entfalten, und zwar als Antriebsaggregat, das seine<br />

Kraft vermittels eines weitverzweigten Transmissionssystems auf die eiJ1zelnen Arbeitsmaschinen<br />

iibertrug. N achdem der Teiloperationen ausftihrende Arbeiter sein<br />

Werkzeug an einen Mechanismus abgegeben hatte, der mit einer Menge von Werkzeugen<br />

auf einmal tatig wird, konnte sie als Triebkraft von immer gigantischer werdenden<br />

Systemen von Arbeitsmaschinen eingesetzt werden. Die Manufaktur hatte dem<br />

Maschinensystem im groBen und ganzen die naturwiichsige Grundlage der Teilung<br />

und daher der Organisation des Produktionsprozesses geliefert; die ihr eigentiimliche<br />

Verbindung von Arbeitsteilung und Kooperation wurde iiberftihrt in eine Kombination<br />

von Teilarbeitsmaschinen, die bald einen solchen Umfang annahrnen, daB sie<br />

nicht mehr durch die iiberkommenen natiirlichen Antriebsmittel in Bewegung gehalten<br />

werden konnten.<br />

Die Revolutionierung der Werkzeugmaschine, we1che die groBe Industrie des<br />

letzten J ahrhunderts hervorbringt, verandert nicht nur die technische Seite des Produktionsprozesses,<br />

sie wirkt auch zuruck auf den Arbeiter. Da das Kapital, indem es<br />

Menschenkraft durch Naturkrafte und erfahrungsmaBige Routine durch bewuBte<br />

Anwendung der N aturwissenschaften ersetzt, die Arbeiter in ein nach unterschiedlichen<br />

Funktionen gegliedertes Bedienungspersonal der Maschinen verwandelt und ihnen<br />

damit das Fiihren von Handwerkszeug abnimmt, fbrdert es ihreweitere Dequalifizierung.<br />

Denn die Arbeiter gehen, unter Beibehaltung ihrer Fixierung auf Detailta<br />

tigkeiten, nun auch noch jener treibhausmaBigen En tfaltung spezieller F ertigkeiten<br />

verlustig, die ihrer Arbeit noch in den Manufakturbetrieben einen gewissen Wert<br />

verliehen und sie dart noch so schwer auswechselbar gemacht hatte. ,,Mit dem Arbeitswerkzeug<br />

geht auch die Virtuositat seiner Ftihrung vom Arbeiter auf die Maschine<br />

iiber. Die Leistungsfahigkeit des Werkzeugs ist emanzipiert von den persbnlichen<br />

Schranken menschlicher Arbeitskraft. Damit ist die technische Grundlage auf-<br />

51


gehoben, worauf die Teilung der Arbeit in def Manufaktur beruht. An die Stelle der<br />

sie charakterisierenden Hierarchie der spezialisierten Arbeiter tritt daher in der<br />

automatischen Fabfik die Tendenz def Gleichmachung oder Nivellierung der Arbeiten,<br />

welche die Gerulfen der Mascrunerie zu verrichten haben, an die Stelle der<br />

ktihstlich erzeugten Untersehiede der Teilarbeiter treten vorwiegend die nattirliehen<br />

Unterscruede des Alters und des Gesehlechts" (Marx 23; 424).<br />

Die rasche Veranderung def tiberkommenen Produktionsformen durch die<br />

groBe Industrie in allen Bereichen, flir die entspreehende Technologien entwickelt<br />

werden konnten, war der Tatsache geschuldet, daB es mit der Mascrunenarbeit gelang,<br />

die Produktionskosten erheblich zuverbilligen. Anders als in der handwerklichen<br />

und manufakturmal1igen Produktion befand sich die Tatigkeit an den Mascrunen<br />

vorwiegend auf dem Niveau einfacher Arbeit, die eine besondere Ausbildung<br />

tiberfltissig machte. Die dami t gegebene Entwertung def traditionellen Arbeitskraft<br />

konnte noch dadurch potenziert werden, dal1 mi t den neuen Produktionsinstrumenten<br />

eine umfangreiche Einbeziehung von Frauen und tiber lange Zeit aueh von Kindem<br />

in die Fabrikarbeit moglich wurde, weil die Anwendung von Maschinerie in<br />

vielen Fallen Muskelkraft entbehrlich werden liel1. Denn wahrend vorher der Lohn<br />

des Mannes im wesentlichen die Einktinfte der Familie bestimmt hatte, konnte mit<br />

der Einreihung samtlicher Familienmitglieder in das Arbeitskraftereservoir der gra­<br />

Ben Industrie die Bezahlung der Manner dadurch reduziert werden, daB die Erarbeitung<br />

der Lebensrnittel nun auf die ganze F amilie verteilt wurde.<br />

Der dem einzelnen Kapitalisten durch die Mechanismen des Konkurrenzkamp<br />

fes aufgezwungene Einstieg in die Maschinenproduktion brachte jedoch nicht nur<br />

die Entwertung def Arbeitskraft im Grol1ma8stab zuwege, er bewirkte auch eine<br />

neue Phase der Scheidung def geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der<br />

Handarbeit. Die Tatigkeit des Mascrunenarbeiters und seiner Handlanger wurde von<br />

individuellen Qualifikationen befreit, indem sich eine au8erhalb des Kreises def Fabrikarbeiter<br />

stehende, teils wissenschaftlich-technisch, teils handwerklich gebildete<br />

Gruppe einer numerisch kleinen Zahl von Lohnabhangigen herausbildete, die, selbstverstandlich<br />

bestimmt durch die kaufmannisehen Erwagungen ihrer Unternehmensleitung,<br />

erfahrungsmal1iges Produktionswissen in wachsendem A usmaB ersetzte durch<br />

die Anwendung derNaturwissenschaften. Die Masse def Arbeiter verlor damit immer<br />

mehr von jenen Fahigkeiten, die sie in die Lage versetzen hatten konnen, kontrollierend<br />

und gestaltend in die Arbeitsprozesse, denen sie unterworfen waren, einzugreifen.<br />

Die Maschinerie, die "aus def lebenslangen SpezialWit, ein Teilwerkzeug zu ftihfen,<br />

... die lebenslange Spezialitat, einer Teilmaschine zu dienen" machte, vollendet<br />

- vorlaufig - "seine hilflose Abhangigkeit yom Fabrikganzen, also yom Kapitalisten"<br />

(Marx 23; 445). Dem Verlust des Handarbeiters entspricht ein Macht- und Funktionszuwachs<br />

der Unternehmensleitung: Wahrend das Handwerksgeschick noch<br />

Grundlage def Manufaktur war und der in ihr vorherrschende Funktionsmechanismus<br />

noch keine von den Handarbeitern unabhangige objektive Struktur besaB, und<br />

deshalb haufig innerbetriebliche Auseinandersetzungen die Durchsetzung des Unternehmerwillens<br />

erschwerten, braehte die Un terordnung der Arbeiter unter die maserunelle<br />

Technik eine kasernenmaf),ige Disziplin in die Fabrik.<br />

52


so offensichtlich Handwerkern wie Watt gelingen konnte, sich die den Konstruktionsprinzipien<br />

von Maschinen zugrundeliegenden wissenschaftlichen Kenntnisse<br />

und Fertigkeiten anzueignen, konnte Marx au8er in den politischen Verhaltnissen<br />

kein nennenswertes Problem erkennen, das eine Wiederaneignung des Produktionswissens<br />

durch die Arbeiter verunmoglichen wUrde. Er konstatierte: " ,Ne sutor ultra<br />

crepidam' (= ,Schuster bleib bei deinem Leisten'), die nec plus ultra (= dieser GipfeI)<br />

handwerksma8iger Weisheit, wurde zur furchtbaren Narrheit von dem Moment,<br />

wo der Uhrmacher Watt die Damp fmaschine , der Barbier Arkwright den Kettestuhl,<br />

der luwelierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hatte", Unter diesen<br />

Umstanden erwartete er flir den Fall der Eroberung der Herrschaft der Arbeiterklasse<br />

Uber die Produktionsmittel auch eine Aneignung des Produktionswissens durch<br />

die Arbeiter, welch letzteres erst die Beseitigung der Unterdriickung der Arbeiter<br />

durch die kapitalistische Leitung vervollstandigt; flir ihn "unterliegt es keinem Zweifel,<br />

dar.. die unvermeidliche Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse<br />

auch dem technologischen Unterricht, theoretisch und praktisch, seinen Platz in<br />

den Arbeiterschulen erobern wird" (Marx 23; 512 L).<br />

Die Hoffnung von Marx, der kapitalistisch vorangetriebenen Entwicklung der<br />

ArbeitsproduktiviHit durch die soziale Revolution ihrer negativen Auswirkungen zu<br />

entledigen und auf ihrer Grundlage eine umfassende Wiederaneignung der VerfUgung<br />

Uber die Produktion durch die Arbeiterklasse zu installieren, wurde durch einen<br />

Gang der Ereignisse, den er nicht vorhersehen konnte, zunichte gemacht. Mit dem<br />

Taylonsmus, der urn die lahrhundertwende der Exponent verschiedener arbeitswissenschaftlicher<br />

Ansatze wurde, die in mehreren hochindustrialisierten Landern aufkeimten,<br />

gelang die Schaffung eines weit effektiveren Systems der kapitalistischen<br />

Arbeitsteilung als es vorher jemals denkbar gewesen war. Es beruhte, wie die vorangegangenen<br />

Stufen der Arbeitsteilung auch, darauf, die Arbeitskraft durch Verringerung<br />

der fUr den Produktionsproze8 erforderlichen Qualifikation zu verbilligen und<br />

durchSteigerungihrer Produktivitat den Anteil der Lohnkosten an den Herstellungskosten<br />

zu senken; dariiber hinaus glUckte es hier zum ersten Mal, die Entstheidungen,<br />

die wahrend des Arbeitsablaufs getroffen werden mUssen, vollstandig dem Zugriff<br />

des Arbeiters zu entrei8en. Da auBerdem etwa zur gleichen Zeit die Entwicklung<br />

der Produktionstechnik ein gegeniiber deT Mechanik und Warmetheorie der<br />

Dampfmaschinen vergleichsweise hohes Abstraktionsniveau ihrer wissenschaftlichen<br />

Grundlagen erklommen hatte, wurden von Taylor und seinen Nachfolgern damit die<br />

Bedingungen fUr eine Eroberung des Produktionswissens durch die Arbeiter, die<br />

Marx noch im Industriesystem seiner Zeit vorgefunden hatte, fUr die Masse der Fabrikarbeiter<br />

restlos beseitigt. Die Kluft zwischen dem, was dem Arbeiter im tayloristisch<br />

durchgeplanten ProduktionsprozeB an Tatigkeitsmerkmalen geblieben ist,<br />

und dem sich mit dem dynamoelektrischen Prinzip, det Telegraphie bis hin zur heuhen<br />

Computerisierung und Atomenergie auf immer abstrakteren fachlichen Grundlagen<br />

entfaltenden technischen Fortschritt hatte solche Dimensionen angenommen,<br />

dar.. sie kaum noch Uberbriickbar erscheint; je mehr die Masse der Fabrikarbeiter<br />

handwerkliche und traditionelle Fahigkeiten verloren hat, ohne genUgend neue Fahigkeiten<br />

zu erwerben, urn den erlittenen Verlust zu kompensieren, desto mehr Wis-<br />

54


prozesses enthaltene Wissensmonopol dazu zu veIWenden, die Ausflihrung einesjeden<br />

Schrittes des Arbeitsprozesses einer Kontrolle durch das Management zu unterwerfen.<br />

Damit kann die Betriebsleitung nicht nur daran gehen, die Dispositionsspielriiume<br />

der Arbeiter nach ihren eigenen NtitzlichkeitseIWiigungen zu eliminieren; sie<br />

entreiBt ihnen auch die Moglichkeit, sich yom ArbeitsprozeB in seiner Gesamtheit<br />

eine eigene angemessene Vorstellung zu machen, die sie gegebenenfalls in die Lage<br />

versetzen konnte, dem kapitalistischen ProduktionsprozeB eine kritische Alternative<br />

entgegenzusetzen (vgl. Braverman 1977; 93 - 98).<br />

Die stufenweise Enteignung des Arbeiters yom Produktionswissen durch die<br />

Entwicklung der kapitalistischen Arbeitsteilung, die mit dem Taylorismus genau zu<br />

dem Zeitpunkt einen neuen Hohepunkt erreichen konnte, als die mit dem Entstehen<br />

der ,science based industries' einhergehende VeIWissenschaftlichung der Produktionsprozesse<br />

ihr schiirfstes Tempo erreicht hatte, wurde auch in den vergangenen<br />

Jahrzehnten nicht wieder ruckgiingig gemacht. Obwohl oft behauptet wurde,<br />

die Reduktion der Arbeitskraft auf das Niveau von allgemeinen, undifferenzierten<br />

und leicht an eine groBe Skala einfacher Arbeit anpaBbare Fabriktatigkeiten werde<br />

durch de'n Trend zur Automa tisierung, der sich im jtingsten technischen Wandel<br />

abzeichne, tendenziell aufgehoben, haben industriesoziologische Untersuchungen<br />

gezeigt, daB derartige EIWartungen verfehlt sind. DaB sich der Dispositionsspielraum<br />

vergroBern und das Qualiftkationsniveau des Arbeiters erhohen kann, also charakteristische<br />

Momente der tayloristischen Arbeitsteilung ihre dominierende Bedeutung<br />

einbtiBen, ist keineswegs eine zwangslaufige ,Konsequenz der Anwendung der<br />

teilautomatisierten Aggregate, die die gegenwartig erreichte Phase der Automatisierung<br />

bestimmen. Denn die realen Auswirkungen des industriellen Wandels zeigen,<br />

"erstens daB die Einftihrung teilautomatisierter Einzelaggregate oft die Moglichkeit<br />

. erOffnet, die Arbeit als Automatenkontrolltatigkeit zu organisieren bzw. handwerk­<br />

Hche Arbeiten aufzulosen und durch repetitive Teilarbeiten zu ersetzen, daB also<br />

gerade bestimmte Formen der Automatisierung zur Neubegrundung restrik'tlver Arbeitssituationen<br />

beitragen; - zweitens daB die Automatisierung bisher nur einen<br />

. Teil der industriellen Produktionsprozesse zu erfassen vermag, wahrend andere Bereiche<br />

auchheute und in der niiheren Zukunftnoch konventionelle Mechanisierungsbewegungen<br />

aufweisen, die vielfach ganzheitlich die Arbeitsformen beseitigen und<br />

schon vorhandene repetitive Teilarbeiten verscharfen; - drittens daB auf hoheren<br />

Mechanisierungsstufen neben qualifizierten Formen der Industriearbeit auchrepetitive<br />

Teilarbeiten fortbestehen, ein Umstand, der die quantitative Bedeutung der unqualifizierten<br />

Automa tionsarbeiten einschrankt und zu einer Polarisierung der Belegschaften<br />

an automatisierten Anlagen fOOrt" (Kern et al. 1970; I 278 f.). Aber<br />

noch wichtiger als die Feststellung der auBerst begrenzten Bedeutung der Automatisierung<br />

von Produktionsprozessen flir eine Auflosung restriktiver Formen der Industriearbeit<br />

ist der Umstand, daB es sich selbst bei der MeBwartentatigkeit, die nur<br />

bei bestimmten Mechanisierungssprtingen entsteht und als einzige moderne Prod uktionsarbeit<br />

grundlegend neue TatigkeitsmeIkmale aufweist, "urn nicht mehr als eine<br />

qualifizierte Angelerntentatigkeit handelt, deren Anforderungen nicht tiberbewertet<br />

werden sollten. Gerade an automatisierten GroBanlagen bleiben die Grundplanung<br />

56


mittleren und oberen Gesellschaftsschichten. Damit war die Grundlage fiir jene, in<br />

alle Poren des Alltagslebens in den Industriestaaten eindringende, gewaltige Kitschproduktion<br />

geschaffen, die heute den Markt fUr Gebrauchsgiiter, Nippsachen, Wandschmuck<br />

u.a.m. iiberflutet. - Auch an sich so begrUf.Jenswerte Bemiihungen wie die<br />

des Bauhauses, das in den Jahren der Weimarer Republik mit dem Anspruch einer<br />

weitreichenden, vor allem das gesamte Gebiet der Industrieerzeugnisse umfassenden<br />

asthetischen Niveauanhebung hervorgetreten war, mu£te sich mit auf.Jerst geringen<br />

Erfolgen zufriedengeben, weil sie die materielle Basis der Geschmacksentwicklung,<br />

den herrschenden Typ der arbeitsteiligen Industrieproduktion, nicht verandern<br />

konnten. Der Hauptinitiator und erste Direktor des Bauhauses, Gropius, strebte eine<br />

,,Arbeitsgemeinschaft zwischen Kiinstler, Kaufmann und Techniker" an, von denen<br />

jeder seine besonderen Fahigkeiten zur Produktion beisteuern sollte (Gropius 1916;<br />

29), aber er konnte unterden bestehenden Verhaltnissen wohl nicht an den Arbeiter<br />

denken. Daher nimmt es nicht Wunder, daf.J gerade der Adressat der kiinstlerischen<br />

Bemiihungen, die auf Massenproduktion und Massenkonsum angewiesene Industrie,<br />

kaum zur praktischen Umsetzung der angebotenen Gestaltungsvorschlage bereit war.<br />

Vielmehr ,)agen die Dinge so, daf.J def wirkliche Nu tznief.Jer der Bauhausatbeit die<br />

Industrie sein konnte - die aber ihrerseits nur in bescheidenem Umfang von den Arbeitsergebnissen<br />

dieses Instituts Gebrauch macht" (Dexel 1928; 146).<br />

Der epistemologische Bruch<br />

Die tiefe Kluft, die durch die kapitalistische Arbeitsteilung zwischen dem Grof.Jteil<br />

der Bevolkerung von Industriestaaten und dem technisch-wissenschaftlichen F ortschritt<br />

aufgerissen wurde, ist das Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie be'<br />

wirkt mit ihrem Ausschluf.J des Industriearbeiters yom Produktionswissen die Festigung<br />

seiner Abhangigkeit von der Unternehmensleitung. Neben dieser, ihrem Wesen<br />

nach klassenspezifischen Verteilung technischer Kompetenz, gibt es jedoch auch<br />

noch andere Bedingungen, die - ebenfalls im Vorfeld des Anspruchs auf Mitbestimmungsrechte<br />

oder anderer Einschrankungen kapitalistischer Eigentumsrechte - in<br />

einer vollig klassenunspezifischen Weise fUr einen Ausschluf.J von Individuen aus der<br />

Beteiligung an der Beherrschung des industriellen Wandels sorgen, also gleichermaf.Jen<br />

den Arbeiter wie den Trager btirgerlicher Kultur, sofern er nicht eine naturwissenschaftliche<br />

oder technische Fachausbildung durchlaufen hat, betreffen. Denn die<br />

naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung als die kognitive Grundlage technischen<br />

F ortschritts besitzt Eigenarten, die einer allgemeinen Zuganglichkeit und Verfiigbarkeit<br />

wissenschaftlichen Produktionswissens entgegenstehen.<br />

Die neuzeitliche N aturwissenschaft, die in der Epoche Galileis entstand, laf.Jt<br />

als Fundament ihrer Theoriebildung allein eine experimentelIe, mit Hilfe von Instrumen<br />

ten gewonnene Erfahrung gelten. Ihr Wissen von Gegenstanden stammt nicht<br />

aus unmittelbarer Anschauung, sondern ist durch Rtickschliisse aus Me£ergebnissen<br />

gegeben, die das Resultat von bewuBten, vermittels technischer Gerate durchgeflihrten<br />

Handlungen sind. 1m allgemeinen bleibt die naturwissenschaftliche Erklarung<br />

59


einem mit hoherer ViskosWit. Und er wird auch der F ormulierung zustimmen, daB<br />

der Fall von Gegenstanden nach unten von ihrer Schwere abhangt, wenn er sich die<br />

in der. alltaglichen Umwelt machbare Erfahrung vergegenwartigt, daB beispielsweise<br />

ein faustgroBer Stein sehr viel rascher in einem Wasserbottich nach unten plumpst<br />

als ein daumennagelgroBes Steinchen, und daB ein Sandkom dort ganz langsam<br />

nach unten sinken wird.<br />

Das aristotelische Fallgesetz stellt also eine verallgemeinernde F ormulierung<br />

lebensweltlicher Erfahrung in theoretischer Absicht dar. Wie dieses Beispiel zeigt, ist<br />

die Naturerkenntnis des Aristoteles nicht spekulativ, wie von den Protagonisten der<br />

neuzeitlich-wissenschaftlichen Naturerkenntnis in propagandistischer Uberspitzung<br />

behauptet wurde, sondern sie ist empirisch, also durch Erfahrung begriindet. Seine<br />

Theorie extrapoliert die in einer vortheoretischen, niimlich der alltaglichen Lebenspraxis<br />

erworbene Erfahrung, die sich it). gemeinsamen Unterscheidungen und Orientierungen<br />

umgangssprllchlich artikuliert, tiber diese Praxis hinaus; sie kann damit<br />

einer zusatzlichen Stabilisierung allgemeiner Erfahrungsbeztige dienen. Da bei Aristoteles<br />

Erfahrungswissen und theoretisches Wissen in einem genetischen Zusammenhang<br />

stehen, ist ein Widerspruch zwischen beiden Bereichen im Prinzip - d.h. sofern<br />

bei der Formulierung theoretischer Satze keine methodologischen Fehler unterlaufen<br />

sind - ausgeschlossen.<br />

Wir leben selbstverstandlich heute in einer anderen Welt als Aristoteles, und es<br />

werden sich daher auch solche Erfahrungen mit der uns umgebenden, nun nicht<br />

mehr tiberwiegend durch Abhangigkeiten von Naturmachten bestimmten, sondern<br />

zum groBen Teil gesellschaftlich produzierten, physischen Lebenswelt machen lassen,<br />

die flir ihn als einen Griechen des vierten vorchristlichen lahrhunderts noch unvorstellbar<br />

waren. Aber jede moderne Formulierung einer theoretischen Naturerkenntnis,<br />

die lebensweltliche Erfahrung zur empirischen Grundlage hat, wird Merkmale<br />

aufweisen, die der aristotelischen Theorie entsprechen. Insbesondere wird ihr<br />

ein genetischer Zusammenhang zwischen dem Wissen einer alltaglichen, gemeinsamen<br />

Erfahrungspraxis und dem theoretischen Wissen zu eigen sein, der auch die Satze<br />

der aristotelischenPhysik - wie am Beispiel des F allgesetzes gezeigt wurde - heute<br />

noch so einleuchtend macht.<br />

Ganz anders verhalt es sich mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft, deren<br />

methodisches Vorgehen in der Epoche Galileis begriindet wurde. Ihre Satze werden<br />

unabhangig von jedem Erfahrungswissen einer lebensweltlichen Praxis, haufig sogar<br />

im Widerspruch zu diesem formuliert. Da flir sie jene andersartige Erfahrung maBgebend<br />

wurde, die mit der Einftihrung des Experiments ausschlieBlich an die Bedingungen<br />

einer messendenPraxis gebunden ist, geht mit ihr das Interesse an einer vortheoretischen<br />

Erfahrungsbasis empirischer Wissenschaft im aristotelischen Sinne verloren.<br />

Schon der Bezugsrahmen, in welchem sich die Untersuchungen Gali1eis und<br />

seiner Vorlaufer zur Fall- und Wurfbewegung abspielen, hat sich von Grund auf gewandelt.<br />

Seit der Mitte des 16. lahrhunderts sind diese Theoretiker nicht mehr an<br />

einer zusatzlichen Orientierungssicherung interessiert, sondern an der Losung eines<br />

technischen, von der raschen kriegstechnologischen Entwicklung hervorgebrachten<br />

62


schaftlichem Wissen ist durch die ,neue' Erfahrungsbasis def neuzeitlichen Naturwissertschaft<br />

zerrissen; beide Wissensbereiche sind - wie Bachelard das bezeichnet hat<br />

- durch einen epistemologischen Bruch getrennt. Flir die gali1eiische Wissenschaft<br />

ist die lebensweltliche Erfahrung zu einer vorwissenschaftlichen Erfahrung gewOT"<br />

den, als Empirie gilt jetzt das Experiment, die technisch kontrollierte Erfahrung. Ihre<br />

Begriffe sind technisch orientiert, sie dient einer technischen Praxis.<br />

ledoch nicht nur die Erfahrungs-Inhalte der neuzeitlichen Naturwissenschaft<br />

haben haufig nichts mehr mit def lebensweltlichen Erfahrung zu tun, auch die Prinzipien,<br />

die zu ihrer Erklarung dienen, stehen haufig jeder Alltagserfahrung kontradiktorisch<br />

entgegen. Als Beispiel kann def Tragheitssatz gelten, mit dessen Formulierung<br />

Newton seine Darstellung def Bewegungsgesetze in den ,Principia' (Newton<br />

1872) einleitet. Er lautet: jeder K6rper beharrt in seinem Zustande def Ruhe odet<br />

der gleichformig geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Krafte<br />

gezwungen wird, seinen Zustand zu andem. Dieser Satz ist, vom Standpunkt lebensweltlicher<br />

Erfahrung aus betrachtet, schlichtweg unsinnig. Denn erstens existiert unter<br />

realen Bedingungen nirgendwo ein kraftefreies Raumelement, da liberall wenigstens<br />

Gravitationsktafte wirken, so da£ es wenig sinnvoll erscheint, einen Satz fur<br />

Bedingungen zu formulieren, die nichts mit der konkreten Welt zu tun haben, und<br />

zweitens wird jede real ablaufende Bewegung durch Rejbung gebremst, so da£ es<br />

sehr absonderlich scheinen muE, bei irdischen V organgen von einer gleichformig geradlinigen<br />

Bewegung zu sprechen. Wenn Newton im Anschlu£ an seine Formulierung<br />

des Tragheitssatzes als Beispiel flir Tragheitsbewegung anftihrt, Geschosse verharrten<br />

in ihrer Bewegung, sofern sie nicht durch den Widerstand der Luft verzogert<br />

und durch die Kraft der Schwere von ihrer Richtung abgelenkt werden, so kann dies<br />

allenfalls fur diejenigen wr Veranschaulichung dienen, die bereits von def Tatsache,<br />

da£ Tragheitsbewegungen existieren, tiberzeugt sind; andere werden in der Flugbahn<br />

von Geschossen eine krummlinige, und keineswegs eine gleichfOrmig geradlinige Bewegung<br />

erblicken. Flir jemanden wie Aristoteles, def auf der empirischen .Basis lebensweltlicher<br />

Erfahrung steht, sind demnach erzwungene Bewegungen folgerichtig<br />

nach anderen Prinzipien zu erklaren: damit ein Korper eine gleichformige Bewegung<br />

vollbringt, muE eine konstante Kraft aufihn einwirken, die urn so gro£er sein muE,<br />

je gro£er die zu liberwindenden Widerstande sind, und je schwerer der w bewegende<br />

Gegenstand ist; die erreichte Geschwindigkeit ist dann proportional zur aufgewandten<br />

Kraft. Denn, wie jeder wei£, bewegt sich beispielsweise ein Wagen urn so<br />

schneller, je kraftiger man ihn zieht oder schiebt, und, bei gleicher Kraftaufwendung,<br />

desto langsamer,je schwerer er ist, und je groEer die zu liberwindenden Widerstan<br />

de (Reibung def Wagenrader und Unebenheiten def Stra£e) sind, die danach<br />

streben, ihn zum Halten zu bringen. Wahrend also die Theorie, die !ebensweltliche<br />

Erfahrung wr, empirischen Basis hat, vom Paradigma eines durch Kraftaufwand gegen<br />

einen konstanten Widerstand bewegten Korpers ausgeht, muE die neuzeitliche<br />

Physik ein kontradiktorisch zur alltaglich erlebten Umwelt stehendes, also abstraktes,<br />

unanschauliches Paradigma zugrundelegen, den ohne jeden Widerstand und<br />

kraftefrei bewegten K6rper (vgl. Toulmin et aL 1970; 96).<br />

So beklagt auch John Donne, ein zeitgenossischer Betrachter def Zerstorung<br />

64


der aristotelischen Weltvorstellung durch den Kopemikanismus mitseinen neuzeitlich-wissenschaftlichen<br />

Prinzipien, den Verlust der lebensweltlichen Heimat in der<br />

neuen Kosmologie:<br />

"The Sun is lost, and th'earth, and no mans wit<br />

Can well direct him where to looke for it.<br />

And freely men confesse that this world's spent,<br />

When in the Planets, and the firmament<br />

They seeke so many new; they see that this<br />

Is crumble d ou t againe to his A tomies.<br />

'Tis all in peeces, all coherence gone;<br />

All just supply, and all Relation" (Donne 1633; 242).<br />

(Die Sonne ist verloren, die Erde, und niemandes Verstand<br />

kann zeigen, wo sie zu suchen ist.<br />

Und frei bekennen Menschen, dafJ diese Welt fort ist,<br />

wenn sie in den Planeten, am Firmament<br />

so viele neue suchen; sie sehen, dafJ dies<br />

zerfallen ist in seine kleinsten Teilchen.<br />

Das ganze ist zerbrochen, aile Ordnung ist verschwunden,<br />

wie alles rechte Sein und aile Beziehungen).<br />

Dennoch konnte es fur lange Zeit gelingen, durch das Entfalten eines mechanistischen<br />

Weltbi/des die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit dem Anschein von<br />

Anschaulichkeit zu versehen. Nach ibm galt ein wissenschaftlicher Sachverhalt als<br />

verstanden, wenn ernach dem Modell eines Mechanisqms interpretiert werden konnteo<br />

Dies entsprach einer Rtickfuhrung naturwissenschaftlicher Modelle auf handfeste<br />

mechanische Modelle. So sollten z. B. Planetarien (Abb. 1) demonstrieren, wie sich<br />

die Monde urn die Planeten, und die Planeten urn die Sonne bewegen. Aber auch<br />

derartige Konstruktionen dtirften wenig zum Verstandnis naturwissenschaftlicher<br />

Theorie beigetragen haben; ftir die Betrachter eines Planetariums dtirften die kosmologischen<br />

Ordnungsbegriffe ,oben' und ,unten' (Rauch steigt nach ,oben', weil er<br />

leicht ist, und ein K6rper fallt nach ,unten', weil er schwer ist), die sie aufgrund lebensweltlicher<br />

Erfahrung mitbringen, in der Regel unbertihrt neben der Kenntnis<br />

des wissenschaftlichen Modells weiterbestanden haben; und wenn man ihnen gesagt<br />

hatte, daB sich die Erde nach dem kopernikanischen Modell mit einer Translationsgeschwindigkeit<br />

von 3 Millionen Kilometem pro Tag urn die Sonne dreht, hiitten sie<br />

wohl angesichts ihrer alltaglichen Erfahrung, daB die Erde doch ruht, genauso unglaubig<br />

dreingesehen, wie ohne Kenntnisnahme eines Planetariums. Lebensweltliches<br />

Wissen und wissenschaftliches Wissen blieben also trotz des mechanistischen<br />

Weltbildes getrennte Bereiche, wenn der zwischen ihnen bestehende Bruch auch<br />

teilweise dadurch gemildert werden konnte, daB wissenschaftliche Modelle durch<br />

Analogien mit handfesten Mechanismen mit dem Anschein eines anschaulichen<br />

Konkreten versehen wurden. Der Nutzen des mechanistischen Weltbildes besteht,<br />

was auch def Unterrichtsalltag in den heutigen Schulen noch beweist, vor allem darin,<br />

daB es eine Lernhilfe darstellt, d.h. ein Mittel, urn sich den Zugang zum naturwissenschaftlichen<br />

Wissen zu erleichtem - was nicht unbedingt etWas mit einer Verstlindnis-Hilfe<br />

zu tun haben muB.<br />

65


A bb. 1: Tischplanetarium, 18. Jahrhundert. (Nach: Toulmin et aI. 1970; 104).<br />

Mit der modernen Physik, d.h. der physikalischen Theorieentwicklung seit Beginn<br />

unseres Jahrhunderts, ist eine Phase in def wissenschaftlichen Naturerkenntnis<br />

erreicht worden, die keine Veranschaulichung der gewonnenen Resultate mehr zu­<br />

HUH. Denn sie hat erstens selbst das mechanistische Weltbild zerstort (vgl. Weizsakkef<br />

1970; 11 - 32) und damit die letzte Brlicke zwischen wissenschaftlichem Wissen<br />

und lebensweltlichem Wissen obsolet werden lassen, und sie hat sich zweitens def<br />

Untersuchung von Gegenstanden zugewandt, die wie z. B. Atome oder elektromagnetische<br />

Wellen, keine Objekte der lebensweltlich erfahrenen Umwelt mehr sind und<br />

schon deshalb einen Verzicht auf die Veranschaulichung theoretischer Madelle b'efordert.<br />

Der immense Verlust an Anschaulichkeit, der den jiingeren F ortschritt physikalischer<br />

Theorieentwicklung gegenliber die durch das Newtonsche Werk begriindet<br />

und im Laufe von zwei J ahrhunderten ausgearbeitet wurde, kennzeichnet,<br />

kann in einer auch flir den Nicht-Fachmann verstandlichen Fonn anhand von popularwissenschaftl{chen<br />

Darstellungen technischer Gerate, die den unterschiedlichen<br />

Phasen wissenschaftlichen F ortschritts zuzuordnen sind, augennmig gemacht werden.<br />

Als das erste Gerat wahlen wir die ,atmospharische' Newco-<br />

66


Abbildung 3: Rundfunk-Verlauf (Nach: Meyers Lexikon 1924 ff.; Bd. 10, nach Sp. 688),<br />

68


Ganz anders wie bei dieser Dampfmaschine sieht es mit der Verstandlichkeit vieler<br />

Technologien aus, die seit Beginn unseres lahrhunderts entstanden sind. Exemplarisch<br />

greifen wir uns aus dieser modernen Entwicklung die Beschreibung def noch<br />

wahrend des ersten Weltkrieges ausgereiften Rundfunktechnik hefaus, wie sie in<br />

,Meyers Lexikon' def 20er Jahre zu finden ist. In einer Abbildung zum Rundfunk­<br />

Verlauf (Abb. 3) werden die folgenden Stationen benannt, die notig sind, urn die<br />

Abwicklung des Rundfunks von def Aufnahme bis zum Harer vor seinem Radioapparat<br />

durchzuftihren: die Akteure, die in einem speziellen Aufnahmeraum (a)<br />

oder in Parlamenten, Kirchen etc. (b) sein konnen, befinden sich vor einem Mikrophon,<br />

d.h. einem Gerat zur Umsetzung des SchaUs in elektrische Vorgange. Die von<br />

den verschiedenen Aufnahmestellen komrnenden Leitungen mUnden in einem Schal tschrank<br />

(c), von dem aus die Verbindungen tiber einen Verstarker (d), ein Verstarkertiberwachungsgerat<br />

(e) zum Sender (h) laufen. Von dort aus werden tiber eine<br />

Sendeantenne die Radiowellen - im Bild durch schraffierte Bogen angedeutet -<br />

ausgestrahlt, welche, tiber eine Hausantenne empfangen, im Radioapparat in Schall<br />

umgewandelt und von der auf ihrem Sofa versammelten Familie genossen werden<br />

ki:innen. Da eine Darstellung der Elemente des Rundfunkverlaufs und ihres Zusammenhangs,<br />

wie sie in dieser Abbildung dargestellt werden, wegen def Undurchschaubarkeit<br />

der einzelnen Bestandteile, noch nicht vieI zum Verstandnis des Phanomens<br />

Rundfunk beitragen, werden im vorliegenden Lexikon-Artikel Sendeanlagen, Empfangsgerate<br />

und andere radiotechnische Apparate naher beschrieben. So lautet z. B.<br />

die genauere Darstellung des Senders: Abbildung 4 "stellt die Schaltung des Deutschland-Senders<br />

Ki:inigswusterhausen-Zeesen (Abb. 3, h) dar. St ist der kleine selbsterregte<br />

Steuersender, def mit zwei Rohren von je 1 kW ausgertistet ist und die Free<br />

quenz erzeugt, auf der der Sender arbeiten soll. Die Schwingungen seines Anodenkreises<br />

werden auf die weit leistungsfahigere Ri:ihre M mit Wasserktihlung tibertragen,<br />

auf die gleichzeitig tiber einen besonderen Verstarker die Sprechstrome aus der<br />

A bbildung 4: Schaltbild (Nach: Meyers Lexikon 1924; Bd. 10, nach Sp. 688).<br />

69


Zuleitung von Berlin wirken. M dient also als Zwischenverstarker und Mischrbhre.<br />

Si-;; wirkt mit ihrer modulierten Hochfrequenz auf die eigentlichen 6 graBen, wassergekuhlten<br />

Senderbhren mit je 20 kW Leistung. Diese bringen einen geschlossenen<br />

Schwingkreis (Zwischenkreis) zum Schwingen, dessen Schwingungen auf den Antennenkreis<br />

tibertragen werden. Durch Druck auf einen Knopf schalten sich alle Tei­<br />

Ie des Senders der Reihe nach selbstandig ein" (Meyers Lexikon 1924 ff.; Band 10<br />

nach Sp. 688, III). Eine soIehe Beschreibung kann einem Laien, auch wenn er tiber<br />

eine gewisse Allgemeinbildung in den Naturwissenschaften verftigt, nicht mehr viel<br />

sagen. Anders als bei der Abbildung der ,atmospharischen' Dampfmaschine, wo der<br />

lebensweltliche Erfahrungsbestand im Feuer unter dem Dampfkessel, im Einspritzwasser<br />

des Zylinders und anderen Bauteilen Ankntipfungspunkte hat, verweist die<br />

Tatsache, daB zur Erklarung rundfunktechnischer Zusammenhange besondere wissenschaftliche<br />

Begriffe und abstrakte Zeichnungen - wie Schaltbilder mit ihren<br />

Symbolen - , die nur dem Fachmann etwas sagen, herangezogen werden mussen,<br />

auf die Unanschaulichkeit moderner Technik. Da die Rundfunktechnik - und mit<br />

ihr viele technische Apparate neueren Typs - nicht mehr in gewohnheitsmaBig-anschaulichen<br />

Begriffen erklarbar ist, werden alle, die nicht die Prinzipien def zugrundeliegenden<br />

Fachwissenschaften beherrschen, von einem begreifenden Zugang<br />

ausgeschlossen. Wahrend noch das mechanistische Weltbild eine Brticke zwischen<br />

lebensweltlichem Wissen und wissenschaftlichem Wissen schlagen und dadurch auch<br />

als Hilfsmi Hel ftir die Aneignung etwa der Dampfmaschinentechnik selbst flir Laien<br />

dienen konnte, wird mit den fortgeschrittenen Technologien unseres Jahrhunderts<br />

eine rigide Trennung beider Wissensbereiche vollzogen.<br />

Unter dem Gesichtspunkt def Beziehung von lebensweltlichem und wissenschaftlichem<br />

Wissen laBt sich, so kann also zusammenfassend festgestellt werden, die<br />

Entwicklung der theoretischen Naturerkenntnis als eine in Phasen fortschreitende<br />

Auseinanderentwicklung beider Wissensbereiche beschreiben. 1m Unterschied zu der<br />

theoretischen F ormulierung von Satzen tiber Naturvorgange, die - wie die des Aristoteles<br />

- die Praxis alltaglicher Erfahrung zur empirischen Grundlage hat, Ibste<br />

sich die neuzeitliche Naturerkenntnis seit Galilei dadurch aus dem lebensweltlich<br />

verburgten Wissensbestand, daB fUr sie das Experiment, eine technisch kontrollierte<br />

Erfahrung zur empirischen Basis wurde. Der somit entstehende epistemologische<br />

Bruch, welcher sich in def Unanschaulichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis auBert,<br />

konnte zunachst noch durch die Ausarbeitung des mechanistischen Weltbildes - zumindest<br />

teilweise - tiberdeckt werden; jedoch brachte urn 1900 der naturwissenschaftliche<br />

F ortschritt Theorien hervor, deren Abstraktheitsgrad so hoch ist, daB sie<br />

auf keine Weise mehr an die gewohnheitsmaBige Anschauung anzubinden sind. In<br />

den modernen Zweigen def Wissenschaftsentwicklung, wie z. B. in def A tomphysik ,<br />

ist daIler das Verstandnis fUrwissenschaftliche Satze aufjene beschrankt, die mit ihrer<br />

fachlichen Qualifikation tiber einen Zugang zu Praxis gelangen<br />

die den theoretischen Aussagen Die FoIge ist, daB nun<br />

nicht nur die Masse def Arbeiter durch die Auswirkungen def Arbeitsteilung<br />

von def Aneignung des verwissenschaftlichten Produktionswissens ausgeschlossen<br />

sind, auch der ,Gebildete' als naturwissenschaftlicher Laie kann mit den<br />

70


dieser Wissenschaften nicht mehr mithalten. Die fortgeschrittensten<br />

Technologien, wie z. B. die Atomenergiegewinnung oder die Computerentwicksind<br />

darnit in einem bisher nicht gekannten MaBe zu einem Betiitigungsfeld<br />

von Spezialisten geworden, deren Tiitigkeit irnmer weniger einer demokratischen<br />

Kontrolle unterworfen werden kann, je welter der naturwissenschaftlich-technische<br />

F ortschritt vorangetrieben wird. Weil die liberwiiltigende Mehrheii der Bevblkerung<br />

in den hochindustrialisierten Liindern die Resultate naturwissenschaftlicher F Ofnicht<br />

mehr verstehen ist sie auch von den der<br />

Beherrschung ihrer technischen F olgewirkungen ausgeschlossen.<br />

Chancen einer Wiederaneignung des Produktionswissens<br />

Eine Kritik der aktuellen Entwicklung von Technik und Wissenschaft wird vor aHem<br />

daran ansetzen mtissen, daf. mit ihrer Hilfe eine Arbeits- und Freizeitumwelt geschafdie<br />

sich in bereits erheblichem Maf.e einem Zugriff demokratischer Willensbildungsprozesse<br />

entzieht. Die Verwissenschaftlichung unter kapitalistischen Bedingungen<br />

ist - gewiil> neben anderem wie z. B. der Herausbildung von Btirokratieneiner<br />

der Faktoren, die Lebenswelt in den hochindustrialisierten Liindem<br />

flir den numerisch groBten der Bevolkerung zunehrnend undurchschaubar<br />

und darnit tendenziell auch unveranderbar gemacht haben.<br />

Nun kbnnte man ob nicht die Naturwissenschaftler und die Techniker,<br />

oder wenigstens die gegentiber der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung Kritischen<br />

unter als diejenigen, die tiber die entsprechenden Kenntnisse verftigen,<br />

zu einer Einbeziehung des verwissenschaftlichten Produktionswissens in demokratische<br />

Willensbildungsprozesse beitragen konnten. Denn sie sind es ja gerade, die wissenschaftliches<br />

Wissen exklusiv besitzen und darnit auch tiber seine Weitergabe<br />

unter den Zielsetzungen einer politisch motivierten Aufkliirung verfugen<br />

kbnnen sallten. Flir sie falls sie derartiges anstreben, zwei Hinderdie<br />

mit den Bowohl aus def kapitalistischen als auch aus den<br />

71


Auswirkungen des epistemologischen Bruchesresultierenden Ursachen fijr die gesellschaftliche<br />

Ungleichverteilung naturwissenschaftlich-technischer Kompetenz zusammenhangen.<br />

Das erste Hindernis, das als Angestelltenproblem bezeichnet werden<br />

kann, ergibt sich aus ihrem sozialen Status, d.h. aus der Tatsache, da£ die historisch<br />

sich mit dem Beginn der kapitalistischen Nutzung naturwissenschaftlicher Resultate<br />

herausbildende Schicht der wissenschaftlich-technischen Intelligenz einer Schicht<br />

von Lohnabhangigen angehbrt, die gegeniiber Arbeitern merklich privilegiert ist. Das<br />

zweite, das sich als Wissensvermittlungsproblem fassen liillt, ergibt sich im Wesentlichen<br />

daraus, dar., in ihrer Ausbildung die Entfaltung der Fahigkeit zur Weitergabe<br />

ihrer Kenntnisse an Laien keine Rolle spielt.<br />

Das Angestelltenproblem laBt sich durch zwei Momente charakterisieren.<br />

Einerseits sind die Angehbrigen def wissenschaftlich-technischen Intelligenz vorwiegend<br />

nich t als Selbstandige, sondem als Angestellte in grbr.,eren Industrieunternehmen<br />

tatig, und damit wie andere Lohnabhangige auch unter jenen Bedingungen zum<br />

Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen, die ihnen von ihrer Unternehmensleitung,<br />

unter der sie arbeiten, vorgeschrieben werden. Andererseits haben sie gegeniiber den<br />

meisten anderen Lohnabhangigen, wie den Arbeitern und den kleinen kaufmannischen<br />

Angestellten, eine bevorzugte SteHung sowohl ihrer Entlohnung und ihrer<br />

sonstigen sozialen Privilegien als auch ihrer besonderen Ausbildung nach, welch letztere<br />

sie, wenn sie im Produktionsbereich tatig sind, fUr die Ausiibung von Leitungsfunktionen<br />

geeignet macht, und sie, wenn sie in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen<br />

tatig sind, auch bei der Wahrnehmung untergeordneter Aufgaben innerbetrieblich<br />

deutlich sondert von def Gro.8zahl einfacher Lohnabhangiger. Der Angestelltenstatus<br />

bezeichnet also ein bkonomisch bedingtes Abhangigkeitsverhaltnis,<br />

das Annahmen wie die folgende plausibel erscheinen liir.,t, die postuliert, daE Aussagen<br />

von Wissenschaftlern und Technikern aus beispielsweise kerntechnischen oder<br />

chemischen Industriezweigen zum gesellschaftlichen Nutzen, ZUI bkologischen Ungefahrlichkeit<br />

etc. der dort betriebenen technischen Anlagen nicht unbeeinflu.8t<br />

sind von starken wirtschaftlichen Abhangigkeiten. Dariiber hinaus bezeichnet es die<br />

innerbetriebliche und gesellschaftliche Abspaltung dieser Berufsgruppe von der<br />

Kommunikation mit der Masse der Lohnabhangigen, aber auch anderer gesellschaftlicher<br />

Schichten, die keinen dem ihren vergleichbaren sozialen Status besitzen. Es<br />

hat den Anschein, da£ eine Uberwindung dieser, vor allem durch die Auswirkungen<br />

der kapitalistischen Arbeitsteilung gepragten Schranken, die sich zwischen verschiedenen<br />

beruflichen Tatigkeiten und zwischen geistiger und kbrperlicher Arbeit (d. h.<br />

geistiger Konzeption und manueller Ausfiihrung) auftun, mit nennenswerter Wirkung<br />

nm in historischen Situationen, in denen die traditionellen Herrschaftsstrukturen<br />

ins Wanken geraten, stattfinden konnen. So zeigen Berichte uber das politische<br />

Engagement von Angestellten, unter denen sich auch technisch-wissenschaftlich<br />

Qualifizierte befanden, in der Ratebewegung von 1918 (vgl. Kadritzke 1975; 275 -<br />

280), oder iiber die Aktivitaten von N aturwissenschaftlern in def franzbsischen Mai­<br />

Revolte von 1968 (vgl. Pesquet o. da£ die sozialstrukturell bedingten Hemmnisse,<br />

die einer kritischen Betatigung von Angehbrigen def wissenschaftlich-technischen<br />

Intelligenz entgegenstehen, unter giinstigen geschichtlichen Vorzeichen durchaus<br />

72


Anmerkung<br />

Literatur<br />

Der Bestand an lebensweltlichem Wissen stellt keinen homogenen, ahistorischen Block<br />

dar, der in irgendeiner Weise mit den abgeschlossenen Theorien in den Naturwissenschaften<br />

vergleichbar ware. Er umfalH, da er sich auf der Grundlage der vom Menschen erfahrenen<br />

und gedeuteten Wirklichkeit entfaltet, jenes Wissen, das der Einzelne sich im Zusammenhang<br />

der konkreten Bedingungen seiner Arbeit, seiner privaten Existenz, seines<br />

gesellschaftlichen Lebens und anderer Bezlige erwirbt. Da je nach Klassenlage und historischem<<br />

Zeitpunkt flir unterschiedliche Gruppen undSchichten von Individuen unterschied"<br />

liche Lebensweltenexistieren, werden sich die betreffenden Bestande an lebensweltlichem<br />

Wissen entsprechend unterscheiden (vgl. Bohme et al. 1979; 18 - 22). Sofern siGh der folgende<br />

Gedankengang jedoch auf eine Gegenliberstellung von naturwissenschaftlichem<br />

Wissen und lebensweltlichem Wissen beschrankt, und nicht z. B. cine Gegenliberstellung<br />

des vorhandenen Spektrums der Wissenschaften mit dem Gesamt des in alltagiicher Erfahmng<br />

erworbenen und fundierten Wissen intendiert, konnen wir uns auf eine Thematisierung<br />

jener Aspekte des lebensweltlichen Wissens beschriinken, die auf dem Umgang<br />

mit der physischen Umwelt basieren. Daher wird im folgenden unser Begriffvon lebensweltlichem<br />

Wissen in der eingeschrankten Bedeutung des auf das Verhalten von Naturgegensttinden<br />

bezogene lebensweltliche Wissen verwendet werden konnen.<br />

Aristoteles, 1967: Physikvorlesung. Ubersetzt von Wagner, Hans. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />

B u chgesellschaft<br />

Bohme, Gernot; Engelliardt, Michael von, 1979: Zur Kritik des Lebensweltbegriffs. In: Bohme,<br />

Gernot; Engelhardt, Michael von (Hrsg.): Entfremdete Wissenschaft, S. 7 - 24. Frankfurt<br />

a. M.: Suhrkamp<br />

Braverman, Harry, 1977: Die Arbeit jm modemen Produktionsprozeil>. Frankfurt a. M. - New<br />

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Dexel, Walter, 1928: Warum geht Gropius? In: Wingler, Hans M. (Hrsg.): Das Bauhaus, S. 145 -<br />

146. Kiiln - Bramsche 1975: Rasch - DuMont Schauberg<br />

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Publie par Diderot & ... d 'Alembert. 2e ed. (Recueil des Planches, Tome premier).<br />

Lausanne - Berne: Les Societes Typographiques<br />

Donne, John, 1633: Poems. London: MarIiot<br />

Galilei, Galileo, 1973: Unterredungen und mathematische Demonstrationen tiber zwei neue Wissenszweige,<br />

die Mechanik und die Fallgesetze betreffend (Dis corsi e dimonstrationi mathematiche<br />

... , dO. Hersg. und tibers. von Ottingen, Arthur von. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />

Buchgesellschaft<br />

Gropius, Walter, 1916: Vorschlage ZUI Griindung einer Lehranstalt als klinstlerische Beratungsstelle<br />

flir lndustrie, Gewerbe und Handwerk. In: Wingler, Hans M. (Hrsg.): Das Bauhaus,<br />

S. 29 - 30. Koln - Bramsche 1975: Rasch - DuMontSchauberg<br />

Hieber, Lutz, 1978: Vermittlung wissenschaftlichen Wissens in Biirgerinitiativen. Blatter fur<br />

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Hieber, Lutz, 1980: Die Auswirkungen von Grofl,forschungseinrichtungen und Sonderforschungsbereichen<br />

auf die naturwissenschaftlich-technische F orschung in den Universita ten. Zeitschrift<br />

fUr Soziologie 9 (1980), Heft 2<br />

Kadritzkc, Ulf, 1975: Angestellte - die geduldigen Arbeiter. Frankfurt a. M. - Kiiln: Europaische<br />

Verlagsanstalt<br />

75


Kambartel, Friedrich, 1974: Wie abhangig ist die Physik von Erfahnmg und Geschichte? In:<br />

Hubner, K.; Menne, A. (Hrsg.): Natur und Geschichte (X. Deutscher KongreE flir Philosophie,<br />

Kiel, 8. - 12. Oktober 1972), S. 154 - 169. Hamburg: Meiner<br />

Kern, Horst; Schumann, Michael, 1970: Industriearbeit undArbeiterbewuEtsein, 2 Bde. Frankfurt<br />

a. M.: Europaische Verlagsanstalt<br />

Klemm, Friedrich, 1954: Technik. Freiburg - Munchen: Alber<br />

Klemm, Friedrich, 1969: Der Weg von Guericke zu Watt. Abhandlungen und Bcrichte des Deutschen<br />

Museums 37 (1969), S. 5 - 23<br />

Klingender, Francis D., 1976: Kunst und indus1rielle Revolution. Frankfurt a. M.: Syndikat<br />

Marx, Karl; Engels, Friedrich, 4: Manifest der Kommunistischen Partei. Marx-Engels-Werke Ed.<br />

4, S. 459 - 493. Berlin (DDR): Dietz<br />

Marx, Karl, 23: Das Kapital, Bd. 1. Marx-Engels-Werke Bd. 23. Berlin (DDR): Dietz<br />

Meyers Lexikon, 12 Bde, 1924 - 1930: Leipzig: Bibliographisches lnstitut<br />

Newton, Isaac, 1872: Mathematische Prinzipien der Naturlehre (Philosophia naturalis Principia<br />

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Pesquet, Jacques, o. J.: Rate in Saclay. In: Pesquet, J.; Gramsci, A.: Rate in Saclay - Rate in<br />

Turin, S. 5 - 65. Munchen: Trikont<br />

Toulmin, Stephen; Goodfield, June, 1970: Modelle des Kosmos. Miinchen: Goldmann<br />

Weizsacker, Carl Friedrich von, 1970: Zum Weltbild der Physik (1 L Aufl.). Stuttgart: Hirzel<br />

Weizsacker, Carl Friedrich von, 1976: Die Tragweite der Wissenschaft, Bd. 1 (5. Aufl.). Stuttgart:<br />

Hirzel<br />

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++<br />

+ +<br />

t Zum Problem von Naturwissenschaften und Gesellschaftsfonn erschienen in def t<br />

+ PROKLA: t<br />

t +<br />

:4: Bodo von Greiff / Hanne Herkommer, Die Abbildtheorie und "DasArgument", t<br />

tin: PROKLA Nr. 16 (1974) t<br />

:j: Frank Unger / Amhelm NeusiiB, Das neueste Problem des Klassenkampfs - Der :j:<br />

:1: Kampf gegen die Abbildtheorie, in: PROKLA Nr. 19/20/21 (1975) t<br />

+ +<br />

t Bodo von Greiff, Wo def Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus in :I:<br />

::: der Erkenntnistheorie nicht sitzt, in: PROKLA Nr. 22 (1976) :I:<br />

t Peter Dudek, Engels und das Problem def Naturdialektik, in: PROKLA Nr. 24 t<br />

:j: (1976) t<br />

:j: Lutz Hieber, Sohn-Rethels Bedeutung flir die Selbstreflektion naturwissenschaft- :j:<br />

:4: licher Arbeit, in: PROKLA Nr. 29 (1977) :::<br />

+ +<br />

:4: Peter Dudek, Naturwissenschaftliche Denkfonnen und bkononUsche Struktur - :4:<br />

+ ZUI Fortsetzung def Sohn-Rethel Debatte, in: PROKLA Nr. 24 (1979) :::<br />

:I: +<br />

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++<br />

76


Manfred G. Schmidt<br />

an der<br />

Ein Vergleich ihrer Politik in den Uindern<br />

Vorwort von Wolf-Dieter Narr<br />

1980.178 S., OM 26,-<br />

"Freiheit oder SoziaJismus", dies ist nur einer der<br />

Slogans, mit denen Parteipolitiker dem BOrger<br />

suggerieren wollen, mit seiner Wah I entscheide er<br />

Ober grundlegende politische Alternativen. Auf<br />

der anderen Seite behaupten Kritiker unseres<br />

Parteienstaates, die groBen Parteien hatten sich in<br />

ihrer prinzipiellen Politik bereits so angeglichen,<br />

daB die Unterschiede nur noch optischer bzw.<br />

rhetorischer Natur seien. Noch weitgehenderwird<br />

teilweise sogardie These aufgestellt, daB die poJitischen<br />

Handlungsspielraume so eng geworden<br />

sind, daB jedwede Partei an der Regierung nur<br />

minimale eigenstandige Gestaltungsmoglichkeiten<br />

hat.<br />

Solch allgemeine Einschatzungen werden in dieser<br />

Untersuchung einmal empirisch auf ihre<br />

Stichhaltigkeit geprilft.<br />

78<br />

Verlag SchumannstraBe<br />

Uta Stolle<br />

Arbeiterpolitik im Betrieb<br />

Frauen und Manner, Reformisten und Radikale,<br />

Fach- und Massenarbeiler bei Bayer, BASF,<br />

Bosch und in Solingen (1900 - 1933)<br />

1980. 336 S., DM 39,-<br />

Hartmann Wunderer<br />

Kultur- und Massenorganisationen in der Arbeilerbewegung<br />

(1890 - 1933)<br />

1980. 303 S., DM 38,-<br />

Nach dem Fall des Sozialislengeselzes bis zur<br />

faschistischen Machtergreilung hat sich in Deutschland<br />

im Umkreis der Arbeiterparteien ein brei- I<br />

tes Spektrum kultur- und sozialgeschichtlicher '<br />

Nebenorganisationen herausgebildel. Die Sozialdemokratischen<br />

Vereine waren gepragt durch ein<br />

Nebeneinander von marxistisch orientierten Zielbestimmungen<br />

und der Obernahme bOrgerlichhumanistischer<br />

Kultur- und Bildungsvorstellungen.


lisierte Endprodukt begehrlicher Durchschnittsgesinnung, und def Begriff der<br />

"Begehrlichkeit" verweist auf die ubrigen Ausgestaltungen feehter Ideologie: Wer<br />

mehr hat, dem wird's geneidet; die naturliche Ungleichheit zwischen den Menschen<br />

werde nicht akzeptiert; die Leistungsunterschiede wurden nicht belohnt; uberhaupt,<br />

der Kempunkt burgerlicher Moral, die individuelle Leistungsbereitschaft weIde<br />

grundlegend durch den sozialen Versorgungsstaat in Frage gestellt. Der "Selunarotzer"<br />

ist def, der nichts leistet und damit gesellschaftlich unverantwortlieh handelt. Sozialstaat<br />

und Sozialismus seien gar nicht so unterschiedlich, da den Fleiliigen genommen<br />

und den Faulen gegeben werde. Der Jugendliche, def Arbeitslosengeld erhalt und<br />

nicht jede Arbeit annimmt, der Student, def sich gegen das blinde karrierebewuBte<br />

Einpauken jeglichen ilun vorgesetzten Stoffes wehrt, werden zu negativen Figuren<br />

verzerrt: Derartiges sei das Resultat, zu welcher die allseits verbreitete "Anspruchshaltung"<br />

der Burger an den Staat filluen kanne und an deren Ende dann die "roten<br />

Pobelhorden" stehen, welche hinwiederum "die Feinde der Arbeiter verkarpem, die<br />

Feinde def Arbeiterfreiheit (! Ch. N.), die Feindedes kleinen Mannes" (7). In die<br />

gleiche Richtung geht der konservative Cheftheoretiker Schelsky, wenn er sein Bueh<br />

gegen die linke Intelligenz mit dem Titel "Die Arbeit tun die anderen" versieht und<br />

damit, bewuBt an einen von ilun theoretisch angenommenen Neidkomplex appellierend,<br />

die linke Intelligenz insgesamt des Sclunarotzertums bezichtigt. Oder ganz<br />

platt Un ,Arbeitgeber': "Immer weniger arbeiten flir immer mehr, und immer mehr<br />

Ieben von der Arbeit anderer". (18. 9. 1975) Und damit ist sicherlich nicht gemeint,<br />

def materielle Reichtum sei inzwischen so, daB flir alle Lebenserleichterungen maglich<br />

seien. Hier werden auch die Scharniere sichtbar, in denen sich dies alies in Richtung<br />

"Freiheit oder Sozialismus" dreht. Der Sozialstaat schrankt die Freiheit des<br />

Burgers ein. Er erzeugt eine Anspruchshaltung. Die Anspruchshaltung zersetzt das<br />

Leistungsprinzip - bei Arbeitem genannt ,FleiB, Sparsamkeit, Disziplin, ZuverHissigkeit'<br />

(8). Die Zersetzung des Leistungsprinzips fOOre zu seiner valligen Negation<br />

in def jungen Generation. Der Angriff auf das Leistungsprinzip werde noch durch<br />

die "sozialistischen Gliicksbringer" und "emanzipatorischen Reformeuphoriker"<br />

fortgeftihrt, welche "Gerechtigkeitsmoralismus", "Sehnsucht nach der blauen Blume<br />

def Utopie", "Wahn der totalen Gleichheit und Gleichmacherei" predigten (9). Resultat<br />

des ganzen: Der Sozialstaat beseitigt den sparsamen, fleiBigen, disziplinierten<br />

leistungsbewuBten sprich selbstverantwortlichen, sich selbst helfenden Burger und<br />

gibt damit den Hintergrund ab flir jenes Biindnis zwischen "Radikalen und Faulen"<br />

(10), welches nach 20-jahriger kultureller Wertestabilitat schon bei def Studentenbewegung<br />

entdeckt werden konnte. Und so oft auch die SPD ehrlich versichem<br />

mag, sie habe mit dem bezeichneten Feind nichts zu tun, die innere Logik des reaktionaren<br />

,Paradigmas' wird sie, sofern sie den Sozialstaat und nicht nUI den Rechtsstaat<br />

anstrebt, immer emeut schuldig sprechen.<br />

80


und die bewuBte Vergesellschaftungsleistung gegenuber def blinden des Marktes im<br />

politischen Gemeinwesen, im Staat, in def Kommune hervorhebt, so wird genau diese<br />

Seite des ,freien Burgers' in der Ideologie der politischen Rechten negiert (24).<br />

Den Staat als "politisches Gemeinwesen" im Unterschied zur privaten Wirtschaft<br />

mit def inhaltlichen Bestimmung sozialer Verantwortung gegenuber den Schwacheren<br />

aufgeftillt zu haben, macht ja gerade die Zutat def Sozialdemokratie zum burgerlichen<br />

Staat aus. Damit wurde der Staat eben mehr aIs nur eine gemeinsame Veranstaltung<br />

def Burger zur Sicherung ihres Privateigentums. Der neue Liberalismus sucht<br />

gewissermaBen den status quo ante wieder herzustellen. Der "starke liberale Staat"<br />

- von def politischen Rechten heute immer wieder ais Ziel propagiert - meint<br />

der die ,Freiheit' des Marktes und des Profits garantiert, die politische Freiheit unter<br />

dem Stichwort wehrhafte Demokratie demgegenliber zuruckzunehmen gedenkt<br />

und der wieder liberal im Unterschied zu sozial ist. Der Begriff sagt schon viel. Der<br />

Staat ist stark - auf der Basis modemer Technologie ist er ausgestattet mit den Mitteln<br />

und Moglichkeiten der totalen Dberwachung jedes einzelnen - eine faschistische<br />

Massenbewegung ais Basis der Machtaustibung ist heute gar nicht mehr so notig.<br />

Er ist liberal und dieser Begriff meint den Staat eben nicht in seiner Qualitat als<br />

Staat, sondern in seiner inhaltlichen Zielseizung: Sicherung der kapitalistischen Ordnung<br />

eingeschlossen jegHche unmittelbare Staatssubventionierung der Kapitalprofite<br />

(25). DaB man einen ,starken', notfalls brutal zuschlagenden, wenn auch nicht<br />

gerade einen faschistischen Staat - aber das sind dann tiberfltissige Spekulationen -<br />

brauchen wird, will man hinter 1918 zuruck, darin kalkuliert die politische Rechte<br />

durchaus korrekt.<br />

StrauB meint dazu: Flir ihn seien Kapitalismus und Faschismus unvereinbar.<br />

Auch das chilenische Militi:irregime sei au tori tar und keinesfalls faschistisch. Autoritar,<br />

dies hieBe "den Burger von der politischen Willensbildung ausschlieBen ... totalitar"<br />

bedeute "daruber hinaus noch seine samtlichen Willensbereiche im Offentlichen<br />

Leben wie im privaten Bereich total durchdringen" zu wollen. Derart "kollektivistische<br />

Systeme" seien der Faschismus, Marxismus, Leninismus, Kommunismus. Dem<br />

stlinde das "liberale, btirgerlich demokratische parlamentarische System" mit def<br />

Betonung auf def Person, dem Individuum, mit seiner Betonung des Menschen gegenliber,<br />

in dem allenfalls, wie eben in Chile, mal die Burger zeitweise von der politichen<br />

Willensbildung ausgeschlossen werden konnten (27).<br />

Die Klassenkampfe def Weimarer wurden in der Formel von def biologischen<br />

Einheit def arischen Rasse und def Rede von def Volksgemeinschaft aller<br />

Schaffenden als Grundlage politischer "klassenubergreifender" Einheit gewalWitig<br />

liquidiert. Ein derartiger Volksbegriff ist heute historisch nicht mehr moglich. Der<br />

autorWire Staat soll nicht auf den "Volksgenossen", sondern auf den atomisierten,<br />

blind ihre unmi ttelbaren Interessen verfolgenden Individuen aufbauen. Und insofern<br />

sind die hanebtichenen Geschichtsfalschungen der CSU mit ihrer<br />

von Nazis und Sozis auch kein Zufall. Sie passen in diese Ideologie: "Die Nazis seien<br />

Leute gewesen, die im groBen und ganzen kollektivistische Losungen angestrebt und<br />

durchgefUhrt haben." (28) Und: die Sozialisiemng der<br />

sondem die Sozialisierung def Menschen" sei das Ziel def Nazis gewesen<br />

83


Der rechte Chefideologe Schelsky klagt: "Die leidenschaftliche Hingabe, die<br />

Verteidigungsbereitschaft, der ide ale Anspruch, dal1 diese politischen Glaubensinhalte<br />

liber allen individuellen Zielsetzungen und Interessen rangieren und daher auch<br />

gro:Be individuelle Opfer erfordem, diese aktive politische Glaubigkeit", die - was<br />

Schelsky nicht erwahnt - noch der Faschismus fur sich zu mobilisieren suchte,<br />

"fehlt ... Flir die soziale Marktwirtschaft oder flir die Verfahren des Rechtsstaates<br />

zu sterben, dies zu erwarten ware absurd ... Gegentiber dem sozialistischen oder nationalistischen<br />

Glauben ist der Glaube an ,eine Gesellschaft der Selbstandigen' dadurch<br />

gekennzeichnet, dal1 er nicht die Interessen des Kollektivs grundsatzlich den<br />

Anspnichen der Person liberordnet und auf eine ferne politische Zukunft veTweist."<br />

(29) Bemerkenswerterweise auch hier die Gleichsetzung von Faschismus<br />

und Sozialismus, also keine neue Idee von Strau:B, sondern im Strom rechter Ideologie<br />

heute schwimmend.<br />

An das blind seine Interessen verfolgende Privatindividuum sucht man also anzukntipfen.<br />

Denken und politisches Handeln im Sinne gesellschaftlicher Verantwortlichkeit<br />

wird als potentiell faschistisch denunziert. Das Strau£'sche PWdoyer fUr unkontrolliertes<br />

Wachs tum uberhaupt und hemmungslose Entwicklung der Kernenergie<br />

nimmt diese Figur des interessierten Privatindividuums als Ansatz.<br />

Was schon flir den Faschismus galt, gilt heute umsomehr: Eine Ideologie, die<br />

die vorhandene Krise zu Ibsen verspricht ohne das kapitalistische System in Frage<br />

zu stellen, kann nicht mehr das Klasseninteresse der Besitzenden ZUI einzigen Grundlage<br />

haben, sie kann am ,Yolk' nicht vorbei. Sie operiert mit dem Versuch der Festschreibung<br />

dessen, was als Kitt die bundesrepublikanische Gesellschaft tiber existierende<br />

Interessengegensatze zwischen Kapital und Arbeit hinaus zusanunengehalten<br />

hat, das "gemeinsame Produktionsinteresse" von Kapital und Arbeit ZUI Sicherung<br />

,des wirtschaftlichen Wachstums. Zu fragen ist, inwieweit sich in der antikollektivistischen<br />

Ideologie der heutigen Rechten selbst wieder auch gegenwiirtige Bewur..tsensformen<br />

der Lohnabhangigen reflektieren, so wie sich im demagogischen Begriff<br />

des Nationalsozialismus das kollektive Bewu£tsein der Arbeiterschaft der Weimarer<br />

Republik widerspiegelte? Und zu fragen ist natlirlich auch, we1che neuen historischen<br />

WahTheiten denn hinter dieser antikollektivistischen Ideologie stecken.<br />

II. 2. "Ich bin gegen den Wahn der totalen Gleichheit und Gleichrnacherei" (Straufi)<br />

"Nicht nur solange die Einkommen, sondern solange die Arbeit selbst ungleich veTteilt<br />

ist, kann von sozialer Gerechtigkeit letztlich nicht die Rede sein." (31)<br />

Keine rechte Ideologie konnte heute fur Hauptthema von der naturgegebenen<br />

Ungleichheit der Menschen und ihren Har.. auf die "utopistischen Gleichmacher"<br />

noch mit dem Hinweis auf Besitz und Nichtbesitz rechtfertigen. 1m Gegenteil, da:B<br />

die Arbeiter auch etwas besitzen, wenn auch nicht so viel, gerade dies wird immer<br />

wieder betont. Zurtickgegriffen wird vielrnehr auf die in der stofflichen Gestalt der<br />

menschlichen und der maschinellen Produktivkrafte verankerte Arbeitsteilung und<br />

Herrschaft, auf das entwickelte System ungleicher Verteilung der Arbeitsarten und<br />

84


verrichten, sollen dieses ihr Schicksal auf ihre mangelnde Intelligenz zuriickfOOren.<br />

An anderer Stelle lobt der Verfasser mit Emphase die natiirliche Ungleichheit:<br />

" ... Sie ist aber auch Grundlage gewesen fUr die konsequente Arbeitsteilung, die<br />

funktionale Hierarchie und darnit fUr die erstaunliche Leistungsfahigkeit und Flexibilitiit<br />

def menschlichen Population." Man beachte den Sprachgebrauch. Ziichtung<br />

einer intellektuellen Elite und Aufgabe jedes Wunsches auf Verbesserung bei<br />

denjenigen, die unten geblieben sind, weil Einsicht in gene tisch bedingte Ungleichheit:<br />

Dies wird als biologistische Lasung def kapitalistiseh produzierten Krise erneut<br />

angeboten.<br />

Der ,rassiseh gleiche V olksgenosse', in welchem noeh die Uberwindung von<br />

Klassengegensatzen pervertiert gerade von biirgerlichen Jugendliehen getraumt wurde,<br />

steht heute nieht mehr auf der Innerhalb des eigenen<br />

sehaftskbrpers solI def AusleseprozeB erfolgen, um das des Kapitalismus unter<br />

anderem als ein System def Degradierung der Individuen in ihrer Arbeit zu legitimieren.<br />

Wie sieh hier zeigt, ist der Sehritt von eiIler Theorie def flir die Entwieklung<br />

des Fortschritts notwendigen funktionalen Arbeitsteilung der Gesellschaft zu ihrer<br />

Legitimation als Naturprodukt bis hin zu ihrer biologistischen Mystifizierung mit allen<br />

einsehlie.t1enden Folgen der Mensehenverachtung nicht allzu weit. Von den arbeitswissenschaftliehen<br />

Lehrsti.ihlen der deutsehen Universitaten wird sie so und so<br />

nieht erst seit neue stem gepredigt. Treffen sich bornierte Arbeitsarten mit biologisch<br />

als untersehiedlieh eingrenzbaren Gruppen - Auslander, Frauen - so ist dies ein<br />

gerne aufgegriffener Ansatzpunkt flir die Reaktualisierung biologistiseher Vorurteile.<br />

Der Spott der Reehten - ieh denke nur an die beifallheischende Geste des<br />

Bundeskanzlerkandidaten, wenn er die Phase sozialliberaler Reforrnen mit ihrem<br />

Versuch zur Herstellung wenigstens von Chaneengleichheit und ihrem Versuch zur<br />

Farderung der Arbeiterkinderund ihrer Forderung naeh gesellsehaftlieher Demokratisierung<br />

als "visionare Phase" lacherlieh zu maehen sucht - liber das Ansinnen zur<br />

Herstellung mensehlieher Gleichheit als von Fahigkeiten maeht noeh einmal<br />

deutlieh: Barbariseher Springpunkt der reifen kapitalistisehen Verhaltnisse ist<br />

in der Tat das entwickelte System der Arbeitsaufteilung und Herrschaft mit der HersteHung<br />

enorrn ungleicher Individuen bezogen auf die Arbeitsarten. Antiutopie heilit<br />

heute nicht mehr einfaeh: Ihf 8011t die Hoffnung aufgeben, satt zu werden, sondern:<br />

ihr 8011t die Hoffnung aufgeben, diese verankerte Ungleichheit aufzuheben. Denn:<br />

ihre Aufrechterhaltung 1st die Bedingung eures Sattwerdens, ja - drohend mit der<br />

dueh mangelnde Elitebildung nicht mehr aufhaltbaren akologisehen Katastrophe -<br />

mit eurem Uberleben. Gleiehzeitig seien alle Versuche gesellschaftlicher Demokratisierung,<br />

die ja von der Fahigkeit der Individuen zum begriindeten Urteil in den Angelegenheiten<br />

der Arbeit und des Lernens ausgehen, gefahrdend fiir die Effektivitat<br />

gesellschaftlieher Organisation. Der Sachverstand der Elite sei allein in der Lage, die<br />

komplexen Begriffe zu begreifen. Der Versueh einer gesellsehaftliehen Demokratisierung<br />

fOOre zum Chaos (35). Das vorhandene politisehe System wird als demokratisehes<br />

Definition der Interessen des Arbeiters, des Arztes,<br />

des Bauern, des Ingenieurs oder anderer gesellsehaftlieher Gruppen ist also nur aIs<br />

unterschiedlieher Interessenlagen denkbar." (36) Womit niehts anderes<br />

86


gesagt des Pluralismus eine unmittelbare RefIexion<br />

der gesellschaftlichen sich der konsequent<br />

antidemokratische "Aus der der individuellen Freihei<br />

als letzter Norm des die notfalls auch mit physischer Gewalt geschtitzt<br />

werden folgt wegen der weitgehend gene tisch Verschiedenheit<br />

der Talente und der mit der Arbeitsteilung verbundenen der Interessen<br />

und daB die Norm der GleictJleit nur im Sinne der Chancengleichheit ... Gtiltigkeit<br />

haben kann." (37) Mit Chancengleichheit ist hier allenfalls das gemeint, was<br />

Hans Moor unter Eliteauslese versteht. Oder anders gesagt, die Reduktion von Demokratie<br />

auf politische Demokratie ankere in der natlirlichen Ungleichheit der Menund<br />

jeder Versuch zur Demokratisierung auch der Gesellschaft sei<br />

weil Entscheidungsfreilieiten der natlirlichen Elite<br />

mit allen Mitteln der wehrhaften Demokratie zu bekampfen. Oder anders gesagt,<br />

der liberale Staat" hat im wesentlichen nur die Funktion, das gesellschaftlicher<br />

Ungleichheit und Herrschaft zu stabilisieren.<br />

II 3. bin kein Traumer und Utopiker" (Strauf3)<br />

Die Kritik der blirgerlichen Leistungsideologie, die seH der Studentenbewegung gerade<br />

von Seiten der Jugendlichen in vieIniltigsten und auch wiederholt neuen - sei<br />

es aktiv politischen, sei es passiven Formen vorgetragen wird, richtet sich zum einen<br />

gegen das vorhandene System gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Hierarchie, zum<br />

anderen gegen die Reduktion des Arbeitszwecks auf die Maximierung von Einkommen<br />

und Karriere. Der Theoretiker Bahro hatte nicht zuletzt deshalb in der Bundesrepublik<br />

einen solchen Erfolg, weil er zentIal diese beiden Momente angreift. Nach<br />

der von der politischen Rechten vermittelten Ideologie ist ein wertvolles Gesellschaftsmitglied<br />

nur der, der sich anstrengt. Je mehr er sich anstrengt,je mehr er leistet,<br />

je mehr er seinen Protest gegen nicht ertragliche Arbeitsbedingungen verdrangt,<br />

je mehr er bringt, desto besser sind die Chancen, den Arbeitsplatz zu erhalten, desto<br />

besser lauft die Gesamtwirtschaft, desto besser wird er bezahlt, desto besser sind seine<br />

Aufstiegsaussichten, desto besser kann er durch Statussymbole des Konsums seine<br />

Achtung in der Gesellschaft erkaufen. Und darin liegt dann das einzige Gliicksversprechen:<br />

Die "Bedurfnisse sind unendlich". Diese Grundannahme der burgerlichen<br />

bkonomie, die den unbegrenzten Verwertungs- und Vermehrungstrieb des Kain<br />

der menschlichen Bedurfnisstruktur als Naturgesetz verankert wissen machentpuppt<br />

sich zunehmend als Grundlage gegenwartiger Antiutopie. Gluck solI<br />

nm im Besitz und Mehrbesitz von Konsumgtitern moglich sein. Mit dieser Vorstellung<br />

soll die kapitalistische Gesellschaft flir ewig erkHirt werden. So kommentiert<br />

Rolf Zundel in def ZEIT (20.7.1979): "Die Grenzerfahrungen der wissenschaftlichtechnischen<br />

Gesellschaft" rucken "bei der heutigen politischen Rechten" kaum ins<br />

Blickfeld, es sei denn machtbezogene Rohstoffpolitik wie bei StrauB". Und die<br />

F AZ kommentiert eine Aufsatzsammlung, herausgegeben von dem Konservativen<br />

Kaltenbrunner (30. 4. 1974): "Die daB konservative Politik nicht unbedingt<br />

87


Schwachen der Altemativbewegung in ihrer Kritik am Sozialstaat, wo lire berechtigten<br />

Momente? Dazu eine Ausgangsthese: Wahrend die politische Rechte den EinfluB,<br />

den die Arbeiterbewegung auf die Ausgestaltung def burgerlichen Gesellschaft<br />

genommen zuruckschrauben kritisiert die Alternativbewegung die VOfhandene<br />

und zwar in einer historischen wo diese<br />

Kritik von def tradierten Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik zum Teil nicht<br />

mehr geleistet wird. Und davon ist die Altemativbewegung gepragt.<br />

Es ist kein daB in Uindem mit antikapitalistischen "HI.OO""f."'"<br />

(Frankreich, vor aHem Italien) und mit umfassenden sozialen Kampfen der Arbeiterschaft<br />

die Altemativbewegung geringeres Gewicht hat oder sich wesentlich auf<br />

Okologiefragen beschrankt. Die franzosische Linke ftihrte den vergangenen Wahlunter<br />

dem Selbstverwaltung. Die italienische Arbeiterbewegung hat<br />

in den def Fabriken und ansatzweise in kommunalen Raten, in Raten<br />

von Arbeitslosen, Organisationsformen hervorgebracht, welche die kapitalistisehe<br />

Form der Vergesellschaftung unter der Lohnabhangigen, namlieh<br />

Konkurrenz und Sozialstaat als kompensatorische Institution ftirdie angerichteten<br />

Schaden, praktisch kritisieren. Urn nur ein Beispiel zu nennen: Die breite Diskussion<br />

einer alternativen Gesundheitspolitik, in welcher die Arbeitenden die schadigenden<br />

Wirkungen der Arbeits- und Produktionsbedingungen auf Fabrikebene durch<br />

Selbstorganisation und Offentliche Diskussion angehen, in welcher Arbeitsmedizin<br />

als abgeloste Wissenschaft, an der die Betroffenen keinen Anteil haben, kritisiert<br />

wird, fehlt als irgend relevanter Bestandteil der Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepublik.<br />

Eine breite Diskussion dariiber, wie man Gesundheitsschadigungen unmittelbar<br />

im Produktionsprozeil> durch Organisierung def Betroffenen angehen k6n-.<br />

ne, hat es bei uns nicht gegeben. Insofern ist es aueh kein Zufall, daB die Linke in<br />

der Bundesrepublik immer wieder nach Italien hinsah, nicht, weil da der Kapitalismus<br />

reifer, sondern in der Tat deshalb, weil die Arbeiterbewegung dort der Reife<br />

des Kapitalismus entsprechende neue Ziele und Organisationsformen gefunden hatwenigstens<br />

flir einen historisehen Augenblick.<br />

DaB die Entwicklung def Individuen, die Entwicklung ihrer Fiihigkeit solida­<br />

Tisch zu handeln, sich gegen hierarchisch arbeitsteilige, btirokratisch organisierte<br />

und durch Wissenschaft verfestigte Strukturen eigene und gleichzeitig gemeinsam<br />

solidarische wieder die Entwicklung<br />

Menschlichkeit etwas mit Sozialismus zu tun dies gerat leider bei uns haufig<br />

aus dem Blickfeld. Und wo das Problem offensichtlich z. B. als Krise def gewerkschaftlichen<br />

Jugendarbeit, wird es als spezielles Jugendproblem eingegrenzt<br />

und damit verdrangt. Ein Begriff von und Solidaritat, welcher die auf<br />

Grund historischer Bedingungen in def zunachst primar bei den Juentwickelten<br />

Hoffnungen auf bessere M6glichkeiten zu leben und zu arbeiten<br />

nicht emsthaft def Altemativbewegung nur daP.,<br />

aber bei Gatt nichts mit def Kapitalismus<br />

oder Sozialismus zu tun habe.<br />

Und darin liegen m. E. wiederum die<br />

- den Begriff mit allen denkbaren Fragezeichen<br />

90<br />

der Alternativbewegung<br />

insofern sich unter ihm


eine Rechnung, die aile sozialen Kosten fehlender Pravention einschliell.en wiirde<br />

(etwa durch Kriminalitat), wohl kaum einer gut ausgebauten sozialen<br />

V orbeugestruktur sprechen wiirde."<br />

Diesem Beispielliegt eine Konzeption von Sozialpolitik von seiten der Bologneser<br />

Stadtverwaltung zugrunde, die eine gesellschaftlich verantwortliche Antwort<br />

auf die mit dem Autonorniepostulat def Altemativbewegung zunachst konkret kritisierte,<br />

aber darnit nochnicht geloste Problematik traditioneller Sozialfi.irsorgemaBnahmen<br />

versucht. "Mit dem Sarnrnelbegriff ( ... ) ,handicappiti' umschreiben die 80zialpolitiker<br />

Bolognas alle Schwachen und Ausgeschlossenen, die iibeT den Prozell.<br />

der Ent-Institutionalisierung in die Gese'llschaft integriert werden sollen ... Die Gesellschaft,<br />

so fmden die Bologneser Sozialarbeiter, solI sich mit dem auseinandersetzen,<br />

was sie hervorbringt. Isolierung der Benachteiligten ist unmenschlich, flir Betroffene<br />

und Betreuer ... Nur die Integration der kann zu einer gesarntgesellschaftlichen<br />

BewuBtwerdung sozialer Probleme fwuen und darnit den Weg flir<br />

praventive MaBnahmen ebnen ... Bolognas Sozialpolitiker wollen das Ghetto btirgerlicher<br />

Wohlfahrt abschaffen."<br />

Der Sozialfiirsorgestaat rni t seinen ghettoisierenden Institutionen reagiert<br />

demgegeniiber in der Tat rein kompensatorisch-systemstabilisierend auf die von def<br />

Gesellschaft erzeugten Widerspriiche und ihre Opfer. Eine sozialistische Alternative<br />

zu dieser Politik kann weder auf die Hoffnung bauen, Verelendung zwinge gewissermaBen<br />

Veranderungswillen hervor - solche Vorstellungen widersprechen historischen<br />

Erfahrungen ebenso wie jeder Gegenwartsanalyse iiber die Folgen etwa von<br />

Arbeitslosigkeit; sie kann auch nicht die Politik des "Selberrnachens", der Autonomie<br />

urn jeden Preis, als Lbsungsstrategie anbieten. Gegeniiber solchen Vorstellungen<br />

bildet die an einem Beispiel dargestellte Politik def Bologneser Kornmune eine konkrete<br />

Alternative: Sozialpolitik, welche die menschliche Wiirde jedes einzelnen wm<br />

Ziel hat und welche sich gleichzeitig als Element gesamtgesellschaftlicher BewuBtwerdungsprozesse<br />

begreift und insofem bewegendes Element sozialer Veranderung<br />

ist. Dies kann auch noch einrnal in Konfrontation zu dem Vorschlag, welcher von<br />

konservativer Seite in GroBbritannien vorgelegt wurde, deutlich werden: danach sollen<br />

fUr ,auffallig' gewordene jugendliche Arbeitslose Erziehungslager in def Nahe<br />

von Arbeiterwohnvierteln errichtet werden, in denen Zucht und Ordnung in der<br />

Weise praktiziert werden sollen, daB keiner, der je da war, dorthin wieder zuriick<br />

mochte: Ein Vorschlag, def in def Konsequenz def Sozialstaatskritik von rechts<br />

auch in der BRD liegt: Die Elenden sollen fUr ihr Elend bestraft werden, da sie ja<br />

selbst dran schuld seien und das Ganze sol! noch mbglichst billig sein. Die ,Gesellschaft'<br />

lehntjede Verantwortung abo<br />

Die verdeutlichende konkrete Realitat lieBe sich vielfaltig verlangern. Doch<br />

die Einzelfalle zeigen die Struktur dessen, was mi t def Kri tik des SozialfUrsorgestaates<br />

von Rechts und von Links gemeint ist. Und das Beispiel Bologna zeigt auch, in welche<br />

Richtung Sozialpolitik sich entwickeln kann, die gesellschaftliche Verantwortlichkeit<br />

als Solidaritat praktiziert und nicht als Verdrangung. Ausgrenzung, Kompensation<br />

def durch die kapitalistische Gesellschaft erzeugten Widersprliche und ihrer<br />

Gefangnisse, psychiatrische Anstalten, Erziehungsheime. aber auch die Zu-<br />

94


nahme der Sonderschulklassen - all diese Institutionen des "Sozialfiirsorgestaates"<br />

stehen ihrer inneren Struktur und ihrer zur Gesamtgesellschaft nach in<br />

der Tat fUr eine Sozialpolitik, die durch gewisse denjenigen, die es<br />

geschafft haben, die Opfer der herrschenden gesellschaftlichen Entwicklungsprinzipien<br />

yom Hals halt bzw. zu halten versucht: Genau der Prinzipien, die von der<br />

tischen Rechten als "Freiheit des Burgers" noch einmal auf den Sockel gehoben<br />

werden sollen: der asozialen Riicksichtslosigkeit der Konkurrenz, des der<br />

individuellen Leistung, der "freien" Beweglichkeit der Individuen der<br />

Konkurrenz. Und je mehr Opfer diese gesellschaftlichen Entwicklungsprinzipien<br />

fordem, man denke nur an die Zunahme des Alkoholismus und der Resignation bei<br />

den Jugendlichen und an das zunehmend vorzeitige Ausscheiden alter Menschen aus<br />

dem ohne diill> gleichzeitig das der Lasung dieser Probleme<br />

in Form kompensatorischer, die Opfer ghettoisierender Sozialpolitik in Frage<br />

gestellt wird, je starker wird die Moglichkeit der Rechten, die zunehmenden Kosten<br />

als demagogisches Spielmaterial gegen den Sozialstaat wenden zu konnen und auf<br />

gewalttatig-polizeiliche Losungen der Probleme zum Zwecke der Entlastung der<br />

gemeinheit' von entsprechenden Steuerabgaben zu drangen. Denn die existierenden<br />

institutionellen Formen von Sozialfiirsorge halten die Vorstellung es handele<br />

sich urn das Versagen von Individuen und nicht urn das def Gesellschaft. Sie<br />

demonstrieren nicht die Notwendigkeit der progressiven Veranderung der gesellschaftlichen<br />

Entwicklungsprinzipien.<br />

Oder urn es noch einmal anders zu sagen: Wenn zum Beispiel in der Frauenbewegung<br />

Autonomie, Selbstverwaltung eingefordert, staatliche Kontrolle abgelehnt,<br />

trotzdem gesellschaftliche Verantwortung angemahnt wird, indem von den Kommunen<br />

die materielle Unterstiitzung def autonom gefiihrten Frauenhauser verlangt<br />

wird, so ist dies auf keinen Fall vergleichbar mit der Kritik des Sozialstaats von<br />

Rechts. SchlieBlich handelt es sich nicht urn eine "Reprivatisierung" der Risiken.<br />

Sondern urn eine Vorstellung von menschlicher Wiirde und Verantwortlichkeit der<br />

einzelnen von Solidaritat und Gleichheit und von gesellschaftlicher Verantwortung.<br />

AIle sollen alle anfallenden Tatigkeiten tun kbnnen und die gleiche Bezahlung bekommen.<br />

Die Frauen sollen seIber iiber ihr Schicksal entscheiden kannen. Demgegeniiber<br />

beruht gerade die Ideologie def politischen Rechten auf dem fanatischen<br />

Festhalten an menschlicher Ungleichheit als einer Naturkonstante und steht damit<br />

immer potentiell in der Nahe biologistisch bis rassistischer<br />

ster. Das Manko der Konzeption liegt diill> im gesellschaftliche<br />

Verantwortung allein ills materielle Unterstiitzung, als Geldleistung eines ansons<br />

ten gleichgiiltigen Gemeinwesens eingefordert Damit sind aber wiedemm<br />

Dime nsionen gesamtgesellschaftlicher Verandemng gekappt.<br />

III. 4. Die Dimension des Wiinschens als Kritik<br />

Es sollte zu denken geben, diill> die Normen menschlicher Beziehungen, die spiegelbildlich<br />

inl zu denen der politischen Rechten stehen, gegenwlirtig weni-<br />

95


· ger von Gewerkschaften und SPD als - wenn auch zum tell die eigene Ohnmacht<br />

spiegelnd - von der Altemativbewegung formuliert werden. Die Menschen sollen<br />

gleiche M6glichkeiten nicht nur der Entwicklung ihrer Fahigkeiten in der Schule,<br />

sondern auch deren Anwendung und Weiterentwicklung in der Arbeit haben. Man versucht<br />

dies durch Schaffung eigener Arbeitszusammenhange und Realisierung der<br />

Gleichheit durch Rotation von Tiitigkeiten innerhalb derselben herzustellen. Den<br />

Opfern der Leistungsgesellschaft gebiihrt nicht nur eine materielle Existenzsicherung,<br />

sondern gleichermat:,en praktizierte Solidaritat. Sie sind nicht Versager, sondem<br />

in ihnen reflektiert sich das Elend der Gesellschaft. Sie sollen zur Selbsthilfe<br />

befahigt und nicht noch einmal als Objekte verwaltet werden. Die Negation der Arbeit<br />

als menschliche Tiitigkeit, die Reduktion menschlicher Freiheit auf die Sphiireder<br />

Konsumtion gilt es zu beseitigen: Man versucht in den Nischen der kapitalistischen<br />

Produktion sich arbeitend selbstverwaltend anzusiedeln und dabei eine andere<br />

V orstellung von Arbeit zu en twickeln und zu praktizieren.<br />

Die freie Zeit ist der M6glichkeit nach ,Reich der Freiheit', der Entfaltung<br />

und Selbstverwirklichung der Individuen, nicht gegen oder gleichgtiltig gegen andere,<br />

sondem gerade mit anderen . .In ihr sollen die Individuen nicht wieder blot:,es Objekt<br />

einer profitorientierten Vermarktung von Bediirfnissen sein: Man entwickelt<br />

eine Gegenkultur, fragt sich nach M6glichkeiten eines altemativen Tourismus, sucht<br />

dieses Feld, zunachst wenigstens fUr sich selbst, dem Kapital zu entziehen. Kapitalwachstum<br />

um des Kapitalwachstums willen bedeutet nicht einfach Fortschritt: Da<br />

man sich den vorhandenen Reichtum nicht gesellschaftlich aneignen kann, sondem<br />

aus der Situation heraus eine normative Kritik, die kaum gesellschaftliche Machtinstrumente<br />

entwickelt hat, prak,tiziert, formuliert man die Kritik im demonstrativ<br />

armlichen Leben und nimmt tiber-Arbeit in Kauf, um zu zeigen, dat:, es auch ohne<br />

geht. Die Formen, in denen die Kritik praktiziert wird, reflektieren selbst noch, dat:,<br />

es eben nicht die herrschende Kritik der herrschenden Verhiiltnisse ist.<br />

Die Unglaubwiirdigkeit alternativer Versuche ,,zu leben und zu arbeiten" fur<br />

diejenigen, die an der traditionellen Arbeiterbewegung orientiert sind, hat allerdings<br />

ihre materielle Grundlage. Solche alternativen Lebensformen siedeln sich in Nischen<br />

des Systems an, in Winkeln der Marktwirtschaft, an Punkten, wo das staatliche Sozialfursorgesystem<br />

offensichtlich versagt und wo das schlechte Gewissen der Kommunen<br />

iiberdieses Versagen materielle Unterstiitzung fur neue Versuche gewahrt.<br />

ABM-Gelder, Subventionen fur kleine Betriebe, das Gesarnt-Gestriipp staatlicher<br />

Subventionspolitik wifd durchforstet, um Lebensm6glichkeiten zu finden. Ein Teil<br />

derjenigen, die an einem Projekt arbeiten, beziehen Arbeitslosenunterstiitzung oder<br />

werden aus ABM-Geldern bezahlt, man nimmt in der Rechtsform "freier Wohlfahrtsverbande",<br />

die von der Katholischen Kirche im wesentlichen durchgesetzt wurde,<br />

das Subsidiaritatsprinzip in Anspruch und im aUt:,ersten Notfall hilft das ,Netzwerk'.<br />

Sicherlich gibt es auch "sich selbst tragende Projekte" im Bereich handwerklicher<br />

Produktion, aber im wesentlichen tragen sich die Projekte eben doch nicht selbst<br />

und k6nnen es auch nicht. Zudem findet sich haufig auch unmittelbare materielle<br />

Existenznot bei minimalem Einkommen und natiirlich auch tiberarbeit.<br />

Es handelt sich also im wesentlichen um moralische, ideelle Negationen der<br />

96


unter Okonomismu8 weniger die Krisentheorie rus den Glauben an den'naturgesetzlich<br />

fortschrittlichen Gang def Technologie und der mit fur verbundenen gesellschaftlichen<br />

Formen der Organisation der industriellen Produktion, einmal abgesehen von<br />

der Konkurrenz. Die negativen ResuItate techriologischen Fortschritts galt es durch<br />

die Entwicklung des Sozialstaats abwfangen: Arbeitslosenversicherung fur die Arbeitslosen,<br />

Invalidenrente fur die von der Arbeit endgilltig Krankgemachten, Krankenversicherung<br />

flir die vorubergehend Krankgemachten. In der Stabilisierung dieses<br />

Systems der Vergesellschaftung unter Berucksichtigung def Interessen der Arbeitenden<br />

rus Trager individueller Rechtsanspruche trat auch der ursprtingliche Begriff von<br />

Solidaritat als Fahigkeit def Individuen wr gemeinsamen Selbsthilfe zunehmend zuruck.<br />

Die Arbeiterbewegung rus "Lager", als Gesellschaft innerhalb und zum Teil<br />

auch auEerhrub def Gesellschaft, die Individuen durch personlich praktiziertes ZusammengehOrigkeitsgeflihl<br />

und gegenseitige HHfeleistung verbindend, die gegenseitige<br />

Hilfe auch durch gemeinsame Kassen organisierend, eine eigene Kultur entwikkelnd<br />

und gegen das Btirgertum sich abgrenzend: Solidaritat als Kultumorm gegen<br />

die des btirgerlich-egoistischen Individuums setzend. Diese Arbeiterklasse hat sich in<br />

der Bundesrepublik in der Tat aufgelOst.<br />

IV, 2. Die Solidaritiit ist in den Himmel der Institutionen gewandert<br />

Gemeinschaftliche Tatigkeiten und Verantwortlichkeiten wurden und werden entweder<br />

mit oder ohne Druck der Gewerkschaften yom Gesetzgeber zu staatlichen Aufgaben<br />

erklart. Dort werden sie als gesellschaftliche Sondertatigkeit btirokratisch<br />

arbeitsteilig verwaltet. Die Individuen haben dann nichts mehr damit zu tun. Wo in<br />

den Gewerkschaften Solidaritat als individuelle Fahigkeit und als Solidaritat der<br />

Gleichen erinnert wird, gilt sie vor allem rus solche def LeistungsHihigen, der Beschaftigten,<br />

derer, die es geschafft haben. Die anderen werden mehr oder weniger<br />

guten Gewissens def Sozialftirsorge als Objekte def Staatstatigkeit tiberlassen. Solidaritat<br />

wird von def Sozialdemokratie eher im Sinne def alten Katheder-Sozialisten<br />

umdefiniert: namlich daB def Staat sich urn die sozial Schwachen zu ktimmem habe.<br />

Der einzelne selbst entlastet sich von "Solidaritat". Er verfolgt als Einzelperson seine<br />

Interessen und stattet seinen gesellschaftlichen Zusammenhang und den Anspruch<br />

gegenseitiger Hilfe in Geldbetragen an die Gewerkschaft und nattirlich in Sozialversicherungsbeitragen<br />

abo Damit gehen aber die Momente kollektiven BewuEtseins, die<br />

in den ersten solidarischen Organisationsformen der Arbeiterschaft vorhanden waren,<br />

und in denen die Organisationen selbst den Soziruismus gewisserweise vorzuformen<br />

gedachten, verloren. Die moralische Identitat def Lohnabhangigen, die solidarisches<br />

BewuEtsein als Kulturleistung dem btirgerlichen Egoismus und Individuruismus<br />

entgegenhielten, diese Identitat verschwindet. Marcuse versucht das als Problem<br />

unter den weiterentwickelten Verhiiltnissen zu fassen: "Es geht urn jeden einzelnen<br />

und urn die Solidaritat von Einzelnen, nicht nur von Klassen und Massen." (47)<br />

Er meint die Notwendigkeit def Wiedergewinnung von Solidaritat als gesellschaftlicher<br />

Fahigkeit def Individuen.<br />

99


errevolution yom Proletariat sprach, taglich mit Begriffen wie "der Pobel" und<br />

"die StraBe" hantierte. Wenn heute yom "freien Burger" gesprochen wird, so ist<br />

dies zunachst einmal als Fortschritt zu vermerken. Hinter entwickelte Formen kann<br />

auch nicht einfach zuriickgefallen werden. Auch der Faschismus konnte nach der<br />

Novemberrevolution das Proletariat nicht mehr als "Pobel" haben, er versuchte es<br />

mit dem "Arbeiter der Faust" im Unterschied zum "Arbeiter des Kopfes" und knupf·<br />

te dabei durchaus an proletarisches SelbstbewuBtsein an. Die politische Rechte<br />

kann heute am "freien Burger" nicht mehr vorbei, also versucht sie diese historische<br />

Figur aller weitertreibend-emanzipatorischen Hoffnungen zu entkleiden, sie auf die<br />

Kategorie des ,Leistungsmenschen', der "selbsWitigen Menschenware" (Marx) zu reduzieren,<br />

die politisch-gesellschaftliche Dimension des "freien Burgers" abzukappen:<br />

die Dimension der Hoffnung auf Freiheit von Angst und von Herrschaft, die Hoffnung<br />

auf die Entwicklungsmoglichkeiten menschlicher Fahigkeiten in umfassendem<br />

Sinn, niimlich nicht nur als Aroeits-, sondem auch als Entscheidungsfahigkeiten und<br />

als Fahigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und und ... Das existierende System<br />

von Herrschaft auf der Basis von Kapital und Wissen wird wiederum zur biologischen<br />

Naturgestalt mystifiziert. Es geht der politischen Rechten im Effekt eben<br />

nicht urn den,freien Burger". Sie will sich diesen Fortschritt aneignen, urn dann den<br />

Ruckschritt zu organisieren. Die Rlicknahme sozialstaatlicher Sicherungen wiirde<br />

unter gegebenen Bedingungen zumindest Teile der ,Lohnabhangigen' wieder zum<br />

,Pobel' degradieren, zum bl08en Objekt von Entwicklungen, die von ihnen in keiner<br />

Gestalt beeinfluBt werden konnen.<br />

Zuriickgefallen wiirde da nicht einfach auf das kollektive Klassensubjekt, sondern<br />

in die ,Marginalisierung', die neue Form, wie die kapitalistische Gesellschaft<br />

Gruppen auBer sich stellt, nachdem sie das ,Proletariat' als Klasse integriert hat,<br />

bzw. dieses sich selbst, also selbst tatig geworden, integriert hat (48). Die Menschen<br />

machen ihre Geschichte selbst, und dies gilt spatestens seit der Novemberrevolution<br />

auch flir die Lohnarbeiter. Sie machen sie unter gegebenen Bedingungen und Umstanden,<br />

aber sie machen sie. Die kommunistische Kritik an dieser Integration als<br />

Werk sozialdemokratischer Arbeiterverrater will dies nicht wahrhaben. Die ,Massen'<br />

werden - und der Begriff sagt es schon - in dieser Vorstellung nicht nur als Objekt<br />

des Kapitals, sondern auch noch einmal als bl08e Objekte ihrer FUhrer denunziert.<br />

Jedes eigene Wollen als Subjektivitat wird den Einzelnen dabei abgesprochen. Man<br />

muP" da durchaus selbstkritisch sein. Wie leichthin unterHiuft einem selbst der Begriff<br />

yom ,kollektiven Handeln' als rein emphatisch unkritischer.Gerade Hnke Inteldie<br />

sich doch zumindest zu reflektierenden Subjekten - wenn dies auch<br />

nicht alles ist - entwickelt haben, schwarmen yom Handeln der Massen. 1st der Gestus<br />

nicht verraterisch? Da der Kopf allein nicht handeln kann, braucht man ausftihrende<br />

Instrumente fur seine Ideen. Warum gelingt es der marxistisch geschulten linken<br />

Intelligenz so schwer, sich gesellschaftliche Veranderung yom Ausgangspunkt<br />

gewordener Subjektivitat aus zu denken. Warum interpretiert sie das ,Individuum­<br />

Sein' der Lohnabhangigen allein nach der Seite der Integration in die blirgerliche<br />

Gesellschaft, nach der Seite des konkurrierenden Leistungsindividuums. Warum<br />

kbnnen Marxinterpreten im entwickelten Anspruch der Individuen auf ,Selbsttatig-<br />

101


"Die Arbeiter sind nicht bereit, sich einem wahnwitzigen Arbeitstempo<br />

zu un terwerfen, urn zu produzieren, die von vornherein reif fUr<br />

den Mull sind!"<br />

ROUND TABLE der PROKLA-Redaktion mit Gewerkschaftern und Gewerkschafts­<br />

Wissenschaftlern zu Problemen der Arbeitsbedingungen, derTechnologieentwicklung<br />

und der Gewerkschaftspolitik in der okonomischen Krise<br />

mit Teilnehmem aus: Norwegen, Polen den USA und<br />

der<br />

Auf den folgenden Seiten yerOffentlicht die PROKLA den Mitschnitt eines Roundtable-Gespriichs,<br />

zu dem die Redaktion anliil1lich der Konferenz des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB)<br />

"Humanisierung der Arbeit zwischen Staat und Gewerkschaften" yom 27. - 29.3. 1980 eingeladen<br />

hatte. Wir danken insbesondere den Mitarbeitem des Instituts fUr Vergleichende Gesellschaftsforschung<br />

im WZB, datl, sie uns das Zustandekommen dieses Gespriichs ermoglicht haben.<br />

Die Bearbeitung dieses Tonbandmitschnitts besorgten Elmar Altvater, Jiirgen Hoffmann und<br />

Frieder Wolf; bei der Bearbeitung wurden Reihenfolge und Inhalte der Beitrage nicht Yerandert,<br />

es wurden leichte sprachliche Korrekturen yorgenommen und wir mul1ten auch an vielen Stellen<br />

Kiirzungen vornehmen - schliel1lich dauerte die Diskussion (befOrdert Yon etlichen Flaschen<br />

"Barbera d'Asti" aus ltalien) ca. vier Stunden.<br />

An dem nahmen teU:<br />

Sophie AU (CGIL, Italien)<br />

Tamar Bermann (Arbeidsforskningsinstituttene<br />

Mike Cooley<br />

RainerErd<br />

Fred Gordon<br />

Matteo RoIlier<br />

Melanie Tartur<br />

Als weitere Caste und Teilnehmer der<br />

Peter Auer<br />

Knut Dohse<br />

Funke<br />

Fur die Redaktion der PROKLA:<br />

Elmar Altvater<br />

Eckart Hildebrandt<br />

Hoffmann<br />

Hurnnni"'PY,n"'T der Arbeit":<br />

Die<br />

Use Niketta<br />

Frieder O. Wolfund Alf<br />

107


PROKLA: Wir m6chten zu Beginn einige der Thesen, die Euch zurStrukturierungder Diskussion<br />

zugegangen sind, wiederholen. 1m Anschluj3 damn soUte aus liinderspezifischer Sieht dazu<br />

Stellung genom men werden. Dann konnen wir in die Diskussion del' einzelnen Probleme einsteigen.<br />

1. Es sprich t einiges dafur, d,;if3 sich die Position del' Arbeiterbewegungen in den letzten<br />

Jahren versehlechtert hat.<br />

Mit dem Einsetzen del' langjristigen Stagnation auf dem Weltmarkt, Branehenstrukturkrisen,<br />

neuen Leistungs- und Personalpolitiken haben sich die Grundlagen gewerkschaftlicher Politik<br />

entscheidend veriindert. Teile del' Arbeitsbevolkerung werden marginalisiert, die Konkurrenz<br />

zwischen den soztalen Gruppen nimmt zu (z. B. zwischen Angelernten und Faeharbeitern, zwischen<br />

Arbeitern und A ngestellten) , Belegschaften und ihre Veriretungen folgen del' Konkurrenz<br />

del' Einzeluntemehmenuntereinander. DieArbeitder Gewerkschaften wird zunehmend politisch<br />

(durch konservative Parteien, durch Konkurrenzorglmisationen, durch korporativistische Staatsstrategien)<br />

in Frage gestellt. Die Gefahr del' Verselbstiindigung uberbetrieblicher Gewerkschaftspolitik<br />

gegeniiber den konkreten betrieblichen Zustiinden und Konflikten verstiirkt sich. Welches<br />

sind die aktuellen Hauptprobleme von Gewerkschaftspolitik und wie werden sie angegangen?<br />

2. Eine der wesentlichen Erfahrungen der Krise besteht darin, d,;if3 zwischen der Zahl der<br />

zur VeTfiigung stehenden Arbeitspliitze und ihrer Humanitiit (BelListungen, Qualifikation, Beschiiftigungssicherheit,<br />

Lohn) ein negativer Zusammenhang besteht. In der BRD z. B., bei einem<br />

hohen Qualifikationsniveau der Arbeitsbevolkerung, hohen Anspriichen an Beschiiftigungs- und<br />

Einkommenssicherheit, einer starken Tendenz zu "white collar"-Tiitigkeiten stellte sich fur viele<br />

individuell die En tscheidung zwischen Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg.<br />

Die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit, Versetzungen und Einkommensverminderung fuhren<br />

zu Anpassungsverhalten in den Betrieben und verschiirfter Konkurrenz unter den Kollegen,<br />

zwischen den Betrieben. Welche neuen Perspektiven in der Betriebs- und Gewerkschaftspolitik<br />

haben sich aufgnmd der Krise uber die Verteidigung errungener Position en hinaus entwickelt?<br />

3. 1m Zentrum der Uberlegungen zur Humanisierung del' Arbeit standen Anfang der siebziger<br />

Jahre neue Modelle der Arbeitsorganisation, der Arbeitsstrukturierung. Es hat sieh gezeigt,<br />

d,;if3 die Unternehmen die Herrschaft uber die Gestaltung des Produktionsprozesses massiv verteidigen,<br />

daj3 Arbeitsstrukturierung wesentlich Rationalisierung unter veriinderten Marktbedingungen<br />

mit neuen technischen Moglichkeiten bedeutet. Sind Modelle der Arbeitsgestaltung entstanden,<br />

die wenigstens im Ansatz die Moglichkeit der Schaffung neuer, qualifizierter, kreativer<br />

Arbeitspliitze in der industriellen Produktion eroffnen? Wo sonst konnten solche Arbeitspliitze<br />

entstehen?<br />

4. Einige Grundprinzipien kapitalistischer Produktionsorganisation, die tmditionell aus<br />

dem Rahmen betrieblicher und gewerkschaftlicher lnteressenvertretung ausgeklammert sind,<br />

sind in letzter Zeit in Frage gestellt worden.<br />

a) Atomenergie, Waffenproduktion, fragwilrdige Pharmaerzeugnisse etc. zeigen die Kosten<br />

der Trennung von' Produzent und Produkt. Inwieweit ist es sinnvoll und moglich, dem unmittelbaren<br />

Produzenten Einfluj3 auf und Verantwortung for sein Produkt zu geben? 1nwieweit<br />

kann darin eine Losung del' ok%gischen Krise, aber auch der Krise der Arbeitsidentitiit gesehen<br />

werden?<br />

b) Die Produktionsstruktur und das Herrschaftsgefoge del' kapitalistischen Produktionsweise<br />

beruht unter anderem auf dem Prinzip der detaillierten Arbeitsanalyse, der Arbeitszerlegung<br />

und der Arbeitsteilung. Dies gilt.sowohl horizontal (Zerlegung in spezialisierte Teilarbeiten)<br />

wie vertikal (zunehmende Trennung von dispositiven und ausfuhrenden Tiitigkeiten). Welche<br />

Chancen bietet gegeniiber dieser scheinbar zwangsliiujigen Entwicklungsdynamik eine Strategie<br />

der Zusammenlegung von Teilarbeiten, der historischen Uberwil}dung dieser Prinzipien?<br />

c) Die Diskussion um verschiedene Modelle der Arbeitszeitverkurzung hat deutlich gemacht,<br />

d,;if3 sehr untersehiedliche Vorstellungen uber das Verhiiltnis von Arbeit und Freizeit existieren.<br />

Der tradition ellen Vorstellung einer anstrengend-entjremdeten Lohnarbeit, die durch<br />

wachsende Freizeitb16cke zur Erholung und Selbstverwirklichung unterbrochen wird, stehen zu-<br />

108


nehmend Vorstellungen eines gleichgewichtigen, integrierten Verhiiltnisses von Arbeit und Frei·<br />

zeit gegeniiber mit schopferischen Gestaltungsmoglichkeiten in beiden Bereichen.<br />

5. Mit der zunehmenden okonomischen und politischen Verfiechtung der Nationen gewinnt<br />

der internationale Einfluf3 auf nationale Entwicklungen zunehmend an Bedeutung. So ist<br />

insbesondere zu fragen, welehe Chancen alternative A rbeitsmodelle/Produk tionss truk turen , wie<br />

sie sich an einzelnen Orten herausgebildet haben, angesichts internationaler Anpassungszwiinge<br />

haben.<br />

Wetter ist zu fragen, ob nicht nationale Politiken der Modernisierung der Volkswirtschaft<br />

einschlief3lich ihrer Humanisierungsaspekte zu noch umfassenderen Arbeitspiatzverlusten, zu<br />

noch grof3erer Kulturzerstorung und A bhiingigkeit in den Drittweltliindern fiihren.<br />

* * *<br />

Andy: Ich mochte einmal die Lage in den USA und in der Bundesrepublik im Vergleich<br />

beschreiben:<br />

In beiden Uindern sind die Gewerkschaften in der Defensive - d. h., es gibt<br />

kaum Uberlegungen oder gar praktische Ansatze zu einer grundlegenden Veranderung<br />

der vorhandenen Gesellschaftsstrukturen. Die Offer.sive des Kapitals wird demgegeniiber<br />

durch die Krise - aufgrund der spezifischen )nstitutionalisierung der Arbeiterklasse'<br />

in beiden Landern - noch weiter verstarkt werden; denn es wird eher<br />

eine Situation des betriebsegoistischen ,Rette-sich-wer-kann' eintreten, als d


herstellung der altenAusbeutungsverhaItnisse,<br />

die das "Wirtschaftswunder" in I talien<br />

ennaglicht haben. DeI zweite Vorschlag<br />

wird von den Linkskriiften und<br />

den Gewerkschaften gemacht: Durch einen<br />

qualitativen Sprung in def Produktionsstruktur<br />

solI em neues technologisches<br />

Niveau erreicht und damit ein<br />

neues Entwicklungsmodell entwickelt<br />

werden.<br />

N atiirlich stecken in beiden V Ofsehlagen<br />

poli tische Implikationen. In<br />

dem ersten ist praktisch impliziert, daB<br />

def italienische Stiden als Arbeitskraftereservoir<br />

aufrechterhalten bleibt, die<br />

MobilWit des Arbeitsmarkts durch ein<br />

wie auch immer unterentwickeltes soziales<br />

N etz garantiert wird. Der V orschlag<br />

def Linkskrafte und der Gewerksehaften<br />

hingegen beansprueht, die Krise auf eine<br />

andere Weise Iosen zu kannen, darauf<br />

kommen wir noeh zuruck.<br />

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei<br />

def Diskussion urn die Lasung der Krise sind auch die intemationalen Pression en.<br />

Ein aktuelles Beispiel daftlr sind die Diskussionen innerhalb der EG-Kommission<br />

tiber die Umstellungsprozesse in def europaischen Stahlindustrie, die ja von def EG<br />

gefOrdert und subventioniert werden: Die franzosische und die deutsche StahIindustrie<br />

wollen verhindem, dal1 sich die italienische Stahlindustrie auf einen Typ von<br />

Stahlprodukten umstellen kann, der tiberhaupt eine Chance im internationalen Wettbewerb<br />

auf dem Stahlmarkt haben k6nnte.<br />

Die italienische Situation ist vielleicht deswegen besonders zugespitzt, weil die<br />

Wege zur Dberwindung der Krise hier ziemlich offen sie sind allgemein bekannt<br />

und werden allgemein diskutiert. Jedem ist die Alternative klar und die Geweschaften<br />

mtissen positive Losungsmaglichkeiten zur Dberwindung der Krise angeben<br />

k6nnen, wenn andere soziale Krafte in diesem Bereich v6llig versagen.<br />

Es ist ziemlich ungewbhnlich, daB sich Gewerkschaften dem Problem von Produktivitat<br />

und Effizienz einer Volkswirtschaft stellen und dies hat natiirlich auch<br />

F olgen fUr die Vorstellungen der vergangenen Jahre. Daruberhinaus<br />

es aber noch ein offenes namlich das des Verhaltnisses zwischen<br />

entwickelten und unterentwickelten Landem. das eventuell die<br />

in die Reihe def hbherentwickelten Lander zu<br />

flir die Dritte Welt dar. Denn dieses Land<br />

genau auf der Grenze zwischen<br />

und<br />

<strong>Prokla</strong>: Du hast die Problematik des<br />

m!"lSCflen Riickstands im Zusam-<br />

112


menhang einer bestimmten weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung aufgeworfen. Nun<br />

gi bt es ja in I talien Dis kussionen uber F orderungen nach arbei tsin tensiven Inves ti tionen.<br />

Dies hat sicherlich sehr viel mit dem engeren Themenkreis der ,Humanisierung<br />

der Arbeit', mit dem Verhiiltnis von Menschen zu Arbeitsp/atz und Produktion und<br />

Produkt zu tun. A ber die Weltmarktkonkurrenz verhindert eine solche Orientierung,<br />

die beschiiftigungswirksam sein k6nnte, und erfordert statt dessen eher kapitalintensive<br />

In ves ti tion en. DasProblemfur die Gewerkschaften innerhalb dieses Widerspruchs<br />

besteht nun darin, auf der einen Seite beschiiftigungswirksame und qualitativ hochstehende<br />

Arbeitspliitze fordem zu miissen und der anderen Seire der Weltmarktkonkurrenz<br />

unterworfen zu sein, die im Gegensatz dazu sehr kapitalintensive und<br />

daher in der Regel auch arbeitssparende Investitionen erfordert ...<br />

Matteo: Wir sehen drei um mehr Beschaftigung zu schaffen: Erstens<br />

gibt es in der Industrie noch gro£ere Beschaftigungsmoglichkeiten durch Umstellungen<br />

der Produktion auf hochqualifizierte Strukturen - vorwiegend flir den internen<br />

Konsum (etwa im Rahmen eines "neuen aber auch rur den Export.<br />

Zweitens besteht entgegen den vorherrschenden in Italien noch ein<br />

gro£es, unausgeniitztes Arbeits21atzereservoir im tertiaren Sektor. Wenn man z. B.<br />

an besondere Dienstleistungsbe;eiche denkt wie etwa der Forschung oder j.ener Bereiche,<br />

die der industriellen Produktion vorgelagert sind - die auch erst einen qualifizierten<br />

Sprung in der Produktionsstruktur ermoglichen - dann sind gerade hier<br />

noch viele unausgenutzte Moglichkeiten vorhanden: unsere Patentbilanz z. B. ist<br />

selbst gegeniiber Malta defizitar ...<br />

<strong>Prokla</strong>: ... wobei diese Lizenzbilanz auch etwas mit der Forschungs- und Lizenzpolitik<br />

der Multinationalen Konzerne zu tun hat .. ,<br />

Matteo: Sicher. Eine dritte Moglichkeit liegt in der Tendenz zur Reduzierung<br />

der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Hier haben wir in Italien eine besondere<br />

Situation z. B. gegeniiber der in der Bundesrepublik. Gerade die CGIL * steht<br />

dieser Thema tik z. Z t. ein wenig lau gegeniiber, obwohl doch I talien im Durchschnitt<br />

sehr viellangere Arbeitszeiten zu verzeichnen hat. Was aber den Proze£ der Verkiirzung<br />

der Arbeitszeit angeht, Italien an der in Westeuropa. Deshalb wird<br />

diese Moglichkeit nicht in dem MaBe in Betracht gezogen und hat deshalb nicht den<br />

Stellenwert in der gewerkschaftlichen Politik wie etwa die der Einkommen.<br />

<strong>Prokla</strong>:<br />

ke in der liuna.?Sn?pl.;!lJtlK<br />

* 'CGIL 0= Confederazione Generale Italiano del LavOIo, ltalienischer Gewerkschaftsdachverband,<br />

de! in der N achkriegszeit vor der alle Arbeiter (ahnlich<br />

treten hat, heute weitgehend nm sozialistisch ist. V gl. dazu<br />

CISL, Zur Geschichte und Theorie de! italienischen Gewerkschaftsbewegung, Berlin<br />

1973: merve<br />

113


zwischen Basis und Dberbau innerhalb def Gewerkschaftsbewegung.<br />

Was dabei allerdings den technologischen Wandel angeht, vertritt die Gewerkschaftsbtirokratie<br />

immer noch die Auffassung, eine Losung der gegenwartigen Stmkturprobleme<br />

konne nur dadurch erreicht werden, da£, man noch mehr neue Technologie<br />

einsetzt - und nicht etwa weniger. Dementsprechend beteiligen sich Gewerkschaftsfuhrer<br />

dann an einer sogenannten ,indikativen Planung', in Zusamlnenarbeit<br />

mit dem Industrie- oder mit dem Beschaftigungsministerium, und wenn dann diese<br />

Planungen in die Praxis umgesetzt werden, werden sie von den Gewerkschaftsmitgliedern<br />

bekampft!<br />

Die Krise bietet nach meiner Auffassung viele Moglichkeiten, urn gmndlegende,<br />

radikale Veranderungen einzuleiten. Aber es gibt eben leider gegenwartig ein politisches<br />

Vakuum in GroBbritannien: Auf def einen Seite findet man die Angestellten,<br />

die Ingenieure und die Wissenschaftler einem schnell en ProletarisiemngsprozeB<br />

unterworfen - zum groBen Tell aufgmnd des technologischen Wandels - , so da£,<br />

etwa def bedeutendste Zuwachs an Gewerkschaftsmitgliedern in den letzten Jahren<br />

in diesen Bereichen liegt. Andererseits versagt die Linke in GroBbritannien vollstandig<br />

darin, irgend eine Art von Alternative angesichts dieser erschreckenden Krise<br />

aufzuzeigen. So gibt es etwa keinen wirklich linken Beitrag zur gesamten Okologiebewegung,<br />

die dadurch gewissermaBen Friihromantikernuberlassen bleibt, die sich<br />

Gedanken machen tiber eine Ruckkehr zum Landleben und ahnliche Sachen, die flir<br />

die Mehrheit der Arbeiterklasse nichts bedeuten. Es gibt auch keine linke Kampagne,<br />

die sich auf die Anti-A tom-Bewegung bezieht, auch hier besteht ein erschreckendes<br />

V aku urn. Insgesamt ist sich die Linke vollstandig im Unklaren tiber den Stellenwert<br />

von Wissenschaft und Technologie - die von ihr immer noch als neutrale Produktivkrafte<br />

betrachtet werden, ohne zu sehen, da£, selbst noch die Methodologie der Wissenschaften<br />

ein Reflex def okonomischen Basis ist, auf deren Gmndlage sie sich entwickelt<br />

hat. Daher stellen sich dann etwa Leute von der Britischen Kommunistischen<br />

Partei - in einer Situation, in der die Arbeiter sich Sorgen tiber eine Dequalifikation<br />

und verscharfte Kontrolle aufgrund technologischer Entwicklungen machen - hin<br />

und versuchen den Arbeitem klar zu machen, alles ginge in Ordnung, wenn sie bloB<br />

den Kapitalismus zerschlagen wtirden. BloB dariiber, wie sie von dem Punkt, an dem<br />

sie stecken, dahin kommen sollen, den Kapitalismus zu zerschlagen, habe ich aus ihren<br />

Ausftihrungen nichts entnehmen konnen - vor all em da sie nicht Massenbewegungen<br />

mobilisieren, die allein die Arbeiter dahin bringen konnten.<br />

Dazu kommt noch def Widerstand gegenuber der EG: GroBe Teile der Arbeiterklasse<br />

mochten so schnell wie moglich wieder "raus aus der Gemeinschaft", die<br />

sie bloB als Wachstumsgebiet der Multinationalen Gesellschaften betrachten - was<br />

ja auch weitgehend zutrifft. BloB wird diese F ordemng so sehr mit chauvinistischen<br />

Illusionen tiber den Ruckzug ins kleine, feine England verbunden, da£, sie dadurch<br />

fast wieder falsch wird. Auch in def Frage der Arbeitslosigkeit herrscht eine ganz<br />

betrachtliche Verwirrung: viele meinen, es sei doch gut, wenn man nicht zu arbeiten<br />

brauchte. Dabei tibersehen sie, da£, wir in Richtung auf ein duales Wirtschaftssystem<br />

schliddern, indem ein groEer Tell der Bevolkerung von jeder Beschaftigung auBer<br />

hobbyformigen sozialen Diensten, Reparatur- und Recycling-Arbeiten - an dem<br />

117


Mir da£ unter den die wir eiliS in dieser Beziean<br />

der steht: Es gibt in ihm tiberhaupt keine Antworten der Arbeiterauf<br />

die gegenwartigen Probleme auBer eben einer solchen defensiven Miliwie<br />

Mike sie beschrieben hat. Dieses Land ist GroBbritannien.<br />

Das Vakuum, das Du beschworenhast,Mike,ist also in erster Linie ein<br />

Vakuum bei den Gewerkschaften - womit ich keineswegs die linken Intellektuellen<br />

fUr ihr vollstandiges Versagen im Angesicht der britischen Krise entschuldigen will!<br />

<strong>Prokla</strong>: Nur eine kurze Du hast die These vertreten, daft es<br />

in gewissem Grad eine Substitution politischer Parteien bzw. ihrer Funktionen durch<br />

die Gewerkschaften gibt. Das heiftt dann aber doch, daft das Vakuum, iiber das thr<br />

redet, nicht bloft ein Vakuum in der Gewerkschaftsbewegung ist, sondern ein Vakuum<br />

der gesamten politischen Linken; dabei haben es die Gewerkschaft/?n noch<br />

eher als die traditionellen linken Gruppierungen und Parteien iiberhaupt verstanden,<br />

was vor sich geht in Europa und in den iibngen industnalisierten Landem - aber<br />

auch sie sind nicht dazu in der Lage, alle die Probleme in den Griff zu bekommen,<br />

die mi t diesen verbunden sind.<br />

Kommen wir zunachst zum Abschluft der Berichte aus den kapitalistischen<br />

Landem zur Gewerkschaftsentwicklung und -palitik in der Bundesrepublik.<br />

Rainer: Vergleicht man die gewerkschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik<br />

mit der in den anderen Landem, dann kann man doch hier in den letzten<br />

zwanzig J ahren drei Phasen gewerkschaftlicher Politik unterscheiden: Zunachst jene<br />

Phase, die bis zur okonomischen Krise 1974/75 reichte; sie war dadurch gepragt,<br />

daB die Gewerkschaften insgesamt ein doch sehr positives Verhaltnis zur kapitalistischen<br />

Entwicklung hatten, was sich z. B.<br />

darin ausdriickte, daB die ganze Rationalisierungspolitik<br />

der Gewerkschaften darauf<br />

ausgerich tet war, die F olgen kapitalistischer<br />

Entwicklung tiber monetare<br />

Kompensationen zu bewaltigen. Dann<br />

gab es - und das war fUr die Linke in<br />

der ein wichtiger Hoff­<br />

- eine Umorientierung<br />

einer kritischen Politik gegentiber<br />

der technologischen und tiberder<br />

Entwicklung;<br />

die durch den Rain<br />

der Druckindustrie,<br />

durch den A bsicherungsvertrag in der<br />

z. T. auch durch die<br />

Diskussion urn die 35 Stunden-Woche<br />

war und die von der<br />

Mitte der 70er Jalue bis 1979 reichte -<br />

eine relativ kurze Phase also. Seit der ver-<br />

119


lorenen Auseinandersetzung um die 35 Stunden-Woche in der Stahlindustrie scheint<br />

sich aber ein "roll back" einzuste11en, was siCh z. B. in der IG Metall, der IG Chemie<br />

und teilweise auch in der IG Druck darin auBert, daB diejenigen Gruppen, die<br />

sehr stark fur Alternativen in der Technologie- und Rationalisierungspolitik eingetreten<br />

sind, in die Ecke gedrangt werden, wol].ingegen fUr die Gewerkschaftspolitik<br />

so etwas wie - in einem soziologischen Terminus - ein korporativistischer Verbund<br />

charakteristisch ist; eine Form von korporativistischen Strukturen zwischen<br />

Staat, Kapital-umt Gewerkschaften, die eine ganz zentrale Konsequenz flit unser<br />

Thema hier hat: sie schlieBt namIich gebrauchswertorientierte Diskussionen auf Betriebsebene<br />

weitgehend aus zugunsten von zentralisierter Politik im korporativistischen<br />

Verbund!<br />

<strong>Prokla</strong>: Und in diesem Zusammenhang scheinen sich einige deutsche Gewerkschaften<br />

wieder starker an die Chancen des westdeutschen Kapitals aUf dem Weltmarkt<br />

zu binden - eine Weltmarktorientierung, die fiir die Gewerkschaften in den<br />

Konkurrenzliindern gar nicht mehr vorhanden sein kann, eben wegen der Hegemonie<br />

des westdeutschen Kapitals zumindest in Westeuropa. Denn eine Weltmarkto!fensive<br />

des deutschen Kapitals - und dies ist ja schlieftlich die Substanz des Konzepts<br />

der "Modernisierung der Volkswirtschaft" zum Beispiel bei Scharpf/Hauff*<br />

- kann in einer Phase allgemeiner okonomischer Stagnation nur auf Kosten der Beschiiftigung<br />

in anderen Liindern gehen. Es ist auch - dies nur am Rande - wohl<br />

nicht zufii/Zig, daft in westdeutschen wirtschaftspoZitischen Alternativvorstellungen<br />

der internationale Zusammenhang unterbelichtet ist, in britischen oder diinischen<br />

Konzeptionen dagegen z. B. an erster Stelle steht ...<br />

Die bisherigen Statements bbogen sich aile auf Erfahrungen in kapitalistischen<br />

Liindern. Melanie, Du hast Dich intensiv mit der Diskussion und der Politik<br />

zur ,,Humanisierung der Arbeit" in den sozialistischen Liindern Osteuropas beschiiftigt.<br />

Die Steigerung der Arbeitsproduktivitiit, die ,,Modernisierung der Volkswirtschaft"<br />

- um mal diesen Terminus zu gebrauchen - , ist ja schon seit langem ein<br />

zentrales Ziel der sozialistischen Wirtschaftsplanung in Osteuropa. Welche neuen<br />

Formen der Arbeitsorganisation und welche sozialen Probleme sind damit verbunden?<br />

Melanie: Die Modernisierung der Volkswirtschaft undals deren Teil eine Strategie<br />

organisatorischer Modernisierung und Rationalisierung im Bereich der unmittelbaren<br />

Produktion ist in Osteuropa, ich beziehe mich auf die UdSSR, die CSSR<br />

und Polen - ein seit der Mitte der sechziger Jahre propagiertes Ziel. Angesichts der<br />

Grenzen der verftigbaren Arbeitskrafte- und der materie11en Ressourcen sol1 eine<br />

Verlagerung von extensiven auf eher intensive Faktoren des wirtschaftIichen Wachstums<br />

erreicht werden. Da die weiterhln hohen Akkumulationsraten bei einer immer<br />

noch geringen gese11schaftIichen Produktivitat der Arbeit ein niedriges Lebensniveau<br />

der Masse der Bevolkerung erzwingen, besteht tiber das Modernisierungsziel als solches<br />

ein breitergese11schaftlicher Konsens.<br />

*<br />

120<br />

Vgl. Volker Hauff/Fritz W. Scharpf,Modernisierungder Volkswirtschaft, Ffm-Koln 1975;<br />

vgl. dazu 'auch die Diskussion in <strong>Prokla</strong> Nr. 38, insbesondere den Beitrag von D. Moraal/<br />

K. HUbner.


Das Problem scheint mir in Form und Inhalt def Modernisierungspolitik und<br />

der in ihrem Rahmen verfolgten Reorganisationsstrategien zu liegen.<br />

Ansatze zur Reorganisation der Fabrikarbeit flllden sich unter dem ritel der<br />

"Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation" (Sowjetunion) bzw. "komplexen Rationalisierung"<br />

(CSSR) als "neue" odeT "progressive" Formen der Arbeitsorganisation<br />

und im Rahmen def "betrieblichen Sozialplanung". Dieser Terminus ist in der UdSSR,<br />

CSSR und in Polen geHiufig. Er bezeichnet die okonomisch-technische Betriebspolitik<br />

flankierenden Ma£nahmen nicht nur im Bereich der betrieblichen Sozialpolitik,<br />

sondern auch def Arbeitsbedingungen, def Qualifizierung und def Arbeitsorganisation.<br />

In Polen wird au£erdem von def "Humanisierung der Arbeit" gesprochen,<br />

worunter in den sechziger Jahren die Rezeption def Human Relations- und Neo­<br />

Human Relations-Schule und seit den siebziger lahren auch MaBnahmen auf dem<br />

Gebiet def Arbeitsgestaltung subsumiert werden.<br />

Meine folgenden AusfUhrungen zur Form der staatlichenPolitik organisatorischer<br />

Modemisierung beziehen sich auf die Sowjetunion und die Polen hat in<br />

disem Punkt eine gewisse Au£enseiterrolle.<br />

Wichtigstes Merkmal der Reorganisationsansatze ist die zentralistische Bestimmung<br />

def innerbetrieblichen Reorganisationsma£nahmen, und zwar nicht nur indirekt<br />

(liber ProduktivWi tskennziffern, Beschaftigtenzahl.en usw.), sondern direkt<br />

liber methodische Empfehlungen zur Arbeitsplatz- und FabrikoJ;ganisation, die Entwicklung<br />

von standardisierten ArbeitspHitzen, Arbeitsabschnitten, ganzen Werken<br />

mit standardisierter Arbeitsorganisation und -normierung und von Modellen def<br />

Mehrmaschinenbedienung, der Mehrberuflichkeit und def EinfUhrung von Gruppenformen<br />

der Arbeitsorganisation, die mit Hilfe quantitativer Kennziffern liber den<br />

Flinf-Jahr-Plan, die Jahresplane und den betrieblichen Produktionsplan in die Produktion<br />

eingefUhrt werden sollen. Darliberhinaus tiber methodische Empfehlungen<br />

ZUT betriebichen Sozialplanung. Bislang gibt es zu diesem Punkt nur Auflagen hinsichtlich<br />

der Art und der Zahl def Kennziffern, nicht hinsichtlich der quantitativen<br />

inhaltlichen Bestimmung. So1che inhaltliche Ausfiillung def Methodiken der Erstellung<br />

von Sozialplanen auf gesamtgeseilschaftlicher, Industriezweig- und Produktionsvereinigungsebene<br />

ist gegenwartig in der Diskussion.<br />

<strong>Prokla</strong>: Was bedeutet das die Entwicklung der Arbeit?<br />

Melanie: Was die Inhalte der organisaorischen Modemisierung betrifft, so sind<br />

zunachst drei Aspekte festzuhalten, die durch die Form der Politikformulierung bereits<br />

bestimmt sind: Charakteristisch fUr die osteuropaischen Ansatze ist die potentien<br />

gro£e Reichweite del ReorganisationsmaBnahmen. DeI zentralistische<br />

erlaubt sowohl Branchen- und Regionalplane als auch die integrative Gestaltung verschiedener<br />

Politikbereiche (Technikpolitik, Ausbildungs- und Arbeitspolitik u. m.).<br />

Real allerdings gibt es bislang nicht mehr als Ansatze dazu, den Horizont der Arbeits-<br />

und Arbeitskrafteplanung zu iiberschreiten.<br />

Die angesprochene groBe Reichweite def Planung wird reduziert<br />

durch die technokratische Legitimation def angestrebten MaBnahmen. Die Teilnahme<br />

der Organisierten wird bestenfalls als ,,Heranziehung" der Betroffenen auf betrieblicher<br />

Ebene angestrebt und zwar mit dem Widerstande gegen technisch-<br />

121


organisatorische Veranderungen aufzufangen.<br />

Expliziter Bezugspunkt der Rationalisierungs- und 1st die Steigerung<br />

der ArbeitsproduktiviHit. Dabei soIl die Orientierung auf gesamtgesellschaftliche<br />

und nicht nur einzelbetriebliche ProduktivWit durch den zentralistischen Zugriff<br />

gesichert werden. Die institutionelle Anbindung def Planung allein an Betriebsleitung<br />

und die AusfUhrungsorgane def Wirtschaftsverwaltung und der Verzicht einer<br />

unmittelbaren Anbindung an die Reproduktionsinteressen def Arbeiter sogar<br />

1m Falle def betrieblichen Sozialplanung - bEt die Beriicksichtigung<br />

die mehr als nur reaktive Beriicksichtigung) der Hingerfristigen sozialen Kosten allerdings<br />

als unwahrscheinlich erscheinen.<br />

1m Rahmen def Rationalisierungs- und Sozialplanung werden MaBnahmenbiindel<br />

die durchaus als Pendant zur westdeutschen def Arbeit"<br />

betrachtet werden kannen.<br />

Mit dem Ziel def Reduktion von Arbeitsbelastung sollen Monotonie/Ermiidungsprobleme<br />

tiber die Verlangerung von Taktzeiten und die Individualisierung des<br />

Arbeitsrhythmus aufgefangen und physisch schwer belastende Arbeiten reduziert<br />

und die materieHen Arbeitsbedingungen verbessert werden.<br />

Mit dem Zie! der Einsparung von Arbeitskraft sollen Mehrmaschinenbedienung<br />

(Intensivierung), Mehrberuflichkeit (Disponibllitat) und die Integration von Operationen<br />

und Spezialberufen (Aufgabenerweiterung und -bereicherung), zum Tell in<br />

Fonn der Gruppenarbeit eingeflihrt werden. Mit dem Ziel def Motivierung und Integration<br />

def Arbeitenden sollen Arbeitsgruppen eingerichtet werden mit flexibler innerer<br />

Arbeitsteilung (,,komplexe Brigaden") oder salche, die auch begrenzt arbeitsvorbereitende,<br />

organisierende und kontrollierende Funktionen tibernehmen ("autonome<br />

Arbeitsgruppen") - bei Anwendung von Gruppenleistungslohn; es 8011 der<br />

Leitungsstil demokratisiert werden und es sollen durchlassige Karrieremuster geschaffen<br />

werden.<br />

Diese Ansatze sind eingebettet in eine Politik def Rationalisierung, die nach<br />

wie vor Arbeitsteilung (vertikale und horizontale) und Spezialisierung flir das A und<br />

o effektiver Arbeitsgestaltung zu halten scheint. Gewicht und StoErichtung der<br />

"neuen Fonnen der Arbeitsorganisation" in der Gesamtpolitik def Rationalisierung<br />

weisen durchaus markante landerspe?ifische Unterschiede auf:<br />

Das sowjetische Modell steht - mit groBen Anteilen von Mammut- und Groll,betrieben<br />

mit standardisierter Massenproduktion, mit einer gering qualifizierten Arbeiterschaft<br />

und extremer innerbetrieblicher Arbeitsteilung - dem tschechischen<br />

Modell gegeniiber mit einer Dominanz von Mittel-und Kleinbetrieben und einer<br />

qualifizierten Arbeiterschaft (Facharbeiter).<br />

Die strukturellen Schwachen des zentralen administrativen Planungssystems<br />

sind das Interesse def Betriebe an einfachen Planen und auf bloB fOfmale<br />

Planerflillung, die Innovationsfeindlichkeit der Betriebe und die Fehlinfonna­<br />

Honen von un ten nach oben. Sie lahmen nach wie vor die Steuerungsfahigkeit des<br />

starIen def Wirtschaftsplanung und -verwaltung, ftihren zu immer neuen<br />

Engpassen in der Versorgung der Betriebe mit den nbtigen Produktionsmitteln und<br />

fuhren zu immer neuen punktuellen administrativen Eingriffen in das betriebliche<br />

122


Handeln. Das unter den Bedingungen des herrschenden Planungssystems dysfunktionale<br />

Autonomiestreben der Betriebe wird dadurch immer wieder bestitigt und veTschiirft.<br />

Und im Interesse dieses Autonomiestrebens liegt es, Arbeitskraftreserven -<br />

ungeachtet aller Rationalisierungsplane - doch zu halten.<br />

<strong>Prokla</strong>: In den bisher vorgestellten<br />

Statements gab es ja versehiedene Diskussionspunkte.<br />

Filr dieDiskussion sehlagen<br />

wir vor, daj3 ein Schwerpunkt auf<br />

die folgende Frage gelegt wird: Welche<br />

betrieblichen Konfiiktstrukturen, welche<br />

neuen Interessenartikulationen und welche<br />

neuen und -ziele haben<br />

sieh in der Krise aUf dem Hintervon<br />

Rationalisierung, veriinderter<br />

Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit<br />

entwiekelt? Wir denken z. B. an jene<br />

- die Bundesrepublik v6llig neue<br />

- Produktorientierung bet Lucas Aerospace,<br />

auf die vielleieht Mike noch nilher<br />

eingehen kann, an eine verdnderte<br />

Haltung gegenilber Arbeit und Freizeit,<br />

neue Modelle innerbetrieblieher Arbeitsteilung<br />

usw., die natiirlieh mit volkswirtschaftliehen<br />

Zwiingen sieh konfrontiert<br />

sehen ...<br />

Peter: ... eben, wie sieht z. B. jener<br />

qualitative Sprung in der Technologie<br />

aus, die von der Linken als Alternative gefordert ist, welche Modelle gibt es fUr<br />

einen solchen "Sprung" ...<br />

Mike: Eine Gegenwehr gegen Arbeitslosigkeit und die anderen Auswirkungen<br />

technologischer Veranderungen findet offensichtlich bisher auf zwei Ebenen staU:<br />

Einerseits gibt es eine Auseinandersetzung zwischen unseren Gewerkschaften und<br />

den Unternehmen im Bereich des Mascmnenbaus tiber die EinfUhrung der 35 Stunden-Woche;<br />

andererseits bin ich aber auch zu dem SchluB gekommen, dar., viele britische<br />

Arbeiter einfach von sich aus beschlossen haben, nur noch 35 Stunden in der<br />

Woche zu arbeiten, ohne erst groB noch daftir zu kiimpfen: Sie haben sich einfach<br />

gesagt, dar., sie fUr den Laden nur noch wochentlich ungefahr 35 Stunden arbeiten<br />

wollen und viele tun es auch einfach. Wenn also Mrs. Thatcher und andere behaupten,<br />

die britischen Arbeiter wiirden nicht hart genug arbeiten wollen ...<br />

<strong>Prokla</strong>: Aber sie werden weiter filr 40 Stunden bezahlt?<br />

Mike: durchaus!<br />

<strong>Prokla</strong>: So was muj3 man doch wissen!<br />

Mike: J a, es gibt eben noch groBe Bereiche in der Industrie, in denen keine genaue<br />

Stiickzahl durch die Arbeitsorganisation oder die Entlohnungsform durchge-<br />

123


setzt werden kann - andererseits gibt es aberauch Bereiche def Industrie, wo so<br />

was einfach nicht geht, wo das Tempo, in dem def einzelne Arbeiter arbeitet, mehr<br />

und mehr durch die Maschinerie und die Organisation des Arbeitsprozesses kontrol­<br />

Hert wird. Soleh eine ,Arbeitszeitverktirzung' kann aber nicht in def gesam ten Gesellschaft<br />

als gleichfOrrnige Entwicklung durchgesetzt werden.<br />

Es gibt auch eine ganze Menge Arbeiter, die es schon so sehr ankotzt, wie sich<br />

die ,Industriegesellschaft' entwickelt, daB sie durchaus bereit sind, ihre Arbeitsplat­<br />

.ze sausen zu lassen, wenn die Unternehmer eine ordentliche Surnme als Ablosung<br />

anbieten. Ich finde das bedauerlich, aber es stimmt: Viele sind einfach davon tiberzeugt,<br />

wenn sie vier- oder fiinftausend Pfund kriegen k6nnen, wtirden sie genau so<br />

ohne Job zurechtkomrnen konnen wie mit dem Arbeitsplatz, vielleicht flir eine<br />

kleine Firma arbeiten oder sich selbstandig machen. Ich halte das wirklich flir eine<br />

Illusion und eine Schwache def Arbeiterbewegung - aber es ist dochziernlich we it<br />

verbreitet.<br />

Die wichtigste neuere Entwicklung ist die Entstehung und Verbreitung der<br />

Verbindungsausschtisse von Shop Stewards, die sichjetzt schon weit tiber die gesamte<br />

britische Industrie ausgedehnt haben, Die traditionellen Organisationsstrukturen<br />

der britischen Gewerkschaftsbewegung haben sichja als unfahig erwiesen, mit Kon·<br />

zernen klar zu komrnen, in deren zahlreichen Betrieben viele Gewerkschaften arbeiten.<br />

Bei Lucas Aerospace gibt es z. B, 13 verschiedene Gewerkschaften, in denen die<br />

Beschaftigten organisiert sind - da ist es den Untemehmern immer gelungen, sie<br />

gegeneinander auszuspielen! Deswegen bilden sich jetzt in immer mehr Unterneh·<br />

men Verbindungsausschtisse der Shop Stewards.<br />

Solehe Verbindungsausschiisse der Shop Stewards k6nnen in technologisch<br />

starken Bereichen eine sehr wichtige Dialektik in Gang setzen: In ihnen kann zum<br />

einen das analytische Wissen der beteiligten Wissenschaftler genutzt werden, in Verbindung<br />

mit - zurn anderen - einem Klassenverstandnis der 6konomischen Fragen<br />

auf der Seite def beteiligten Industriearbeiter - was auf beiden Seiten eine neue,<br />

radikalere Politisierung sowohl def technischen wie def betriebs- und volkswirtschaftlichen<br />

Fragen in Gang setzen kann. Z. B. haben wir vor vier Wochen eine Tagung<br />

veranstaltet. Wir haben uns mit Verbindungsausschtissen aus anderen Unternehmen<br />

zusammengesetzt, urn mit ihnen tiber alternative Strategien flir ihre Industrien<br />

zu diskutieren, flir deren Durchsetzung sie sinnvoll kiimpfen k6nnten und<br />

wtirden.<br />

Als zentraler Punkt hat sich dabei einmal wieder herausgestellt, da£ es darauf<br />

ankomrnt, die Produkte unter dem Gesichtspunkt ihres Gebrauchswertes zu betrachten<br />

und nicht von ihrem Tauschwert auszugehen. So wie man in Gro£britannien<br />

den Nationalen Gesundheitsdienst aus def Marktwirtschaft herausgenomrnen hat,<br />

gibt es jetzt die M6glichkeit, auch weite Teile der industriellen Fertigung aus der<br />

Marktwirtschaft herauszunehmen. Diese Idee breitet sich unter den Beschaftigten<br />

seIber recht schnell und nachhaltig aus - wahrend die Fiihrungsspitzen def Gewerkschaften<br />

ihr gegentiber zumindest indifferent bleiben, sofern sie sich nicht sogar<br />

gam offen und eindeutig dagegen stellen. Damit ist aber bereits eine Entwicklung<br />

von einiger Bedeutung in Gang gekomrnen - inzwischen auch tiber die nationalen<br />

124


emeuerbarer Energie. Diese Konzeption kommt aber bezeichnenderweise nicht aus<br />

der Arbeiterklasse, sondern von gewissermaBen freischwebenden Intellektuellen.<br />

Diese Konzeption soIl auch genau das leisten, was Du angesprochen hast, namlich<br />

nicht nur die Gestalt der Produkte verandern, sondern den ProduktionsprozeB selbst<br />

umgestalten: vor allem solI dadurch eine v6llige Dezentralisierung der Produktion<br />

moglich gemacht werden, die dann die Trennung von Produzenten und Konsumenten<br />

aufzuheben enTIO glichen sol1. Vor aHem in einer Gegend wie Kalifornien trifft<br />

das wirklich ein dringendes Bedtirfnis: die Trennung von Arbeit und von<br />

Produktion und Konsumtion, von Arbeitsplatz und Zuhause ist hier allein schon<br />

durch die Weite des Landes auf die Spitze getrieben - wenn jemand taglieh 350 km<br />

mit dem Auto fahrt, ist das in Kalifomien nichts Besonderes.<br />

Aber zu Dir, Mike, kannst Du nicht wenigstens ungefahr angeben, wie Du die<br />

GroBenordnung dieser Bewegung ei.nschiitzt - die in den USA sicherlieh sehr klein<br />

ist und ich meine doeh, daB das in GroBbritannien nicht grundlegend anders sein<br />

kann! Meine zweite Frage zielt darauf, von wo eigentlich die Initiative fUr so etwas<br />

ausgeht.<br />

Fred: lch bin da eigenltich optimistischer als Andy - ich glaube, die Wirtsehaftskrise<br />

wird in den USA die Humanisierung der Arbeit f6rdem (Zwischenrufe).<br />

Aber was die Idee der Arbeiter von Lucas Aerospace angeht, ihre Fabrik ineigene<br />

Regie zu tibemehme n und etwas gesellsehaftlich Ntitzliches zu produzieren, habe ieh<br />

doch eine Frage, auf die ich bisher noch keine Antwort gehOrt habe: hieBe das<br />

eigentlieh, sieh vom Markt zUrUckzuziehen, vor allem, sich vom Weltmarkt abzusehlieBen?<br />

Steckt da nieht eine ganz problematische Vorstellung von ,unabhangiger<br />

EntwiCklung' auf einer ,glticklichen Insel' - oder auf mehreren, wie bei unseren britischen<br />

Freunden - dahinter, die letztlieh bloB eine romantische Fluchtvorstellung<br />

ist?<br />

Andy: Was mir wirklich Sorgen macht, ist die Tatsache, daB die US-amerikanische<br />

Arbeiterbewegung tiberhaupt keine Gesamtstrategie hat und deswegen notwendig<br />

auf zwei Sorten von Auswegen verfallen wird: Zum einen sich aufbestimmte<br />

protektionistische MaBnahmen hin zu orientieren, also korporatistisch zu reagiefen,<br />

urn - in einer Front mit Staat und Kapital - die US-amerikanische Wettbewerbsfahigkeit<br />

zu verteidigen; zum anderen wird es - in Gestalt einiger EinsprengseJ -<br />

Initiativen wie Lucas Aerospace geben, deren Bedeutung aber marginal bleiben wird<br />

- jedenfalls bezogen auf den ganzen Kontinent, den die USA praktisch darstellen.<br />

Nattirlieh liiBt mieh so eine Perspektive pessimistisch werden - denn ohne eine zusamme<br />

nfassende Kraft, ohne einen Brtickschlag tiber die vielfiiltigen - vor allem rassisehen<br />

und ethnischen - Spaltungen der US-amerikanischen Arbeiterklasse, kann<br />

es in den USA keinen gesellschaftlichen Fortschritt geben!<br />

Matteo: Was ist eigentlich der technologische Sprung, den wir in Italien machen<br />

mUssen? leh sehe fiinf Ebenen, auf denen eine Antwort moglich und notwendig<br />

ist:<br />

Erstens geht es dabei um Importsubstitutuion und zweitens urn die Entwicklung<br />

gesellschaftlicher Konsumgtiter. Das kann im Zusammenhang erortert werden,<br />

denn auf beiden Ebenen geht es letztlich darum, wie ein technologisch hochent-<br />

126


wendigkeit des "technologjschen Sprungs'" verteidigt, urn I talien aus jener merkwlirdigen<br />

Situation zu bringen, entweder das erste Land des peripheren Kapitalismus<br />

oder das letzte Land des hochentwickelten Kapitalismus zu sein, und gefordert,<br />

sich von bestimmten Produktionszweigen wie Textil-, Bekleidungs-, Schuhindustrie<br />

etc. liberhaupt zu trennen. Aber ist es allein das Produkt, von dem man sich trennen<br />

mU£, urn diesen technologischen Sprung zu machen? Wenn man sich dagegen die<br />

italienische Handelsbilanz betrachtet, dann geht daraus hervor, daE gerade diese<br />

Branchen noch auf dem Weltmarkt wettbewerbsfaru.g sind! Da liegt aber das Problem,<br />

wenn Trentin sich von jenen Branchen, in denen die Dritte Welt genauso wettbwerbsfahig<br />

ist, loslasen will.<br />

<strong>Prokla</strong>: Aber kann die Exportfdhigkeit nicht auch daran liegen, daj3 die Art<br />

und Weise, wie dieseProdukte in Italien produziert werden, also unter Bedingungen<br />

des doppelten Arbeitsmarktes ...<br />

Sophie: ... daraufkomme ich gleich.<br />

Es sind dies ja Produkte, die sich auf<br />

dem Weltmarkt halten kannen, nicht<br />

nm, well sie auch modern produziefen,<br />

sondern auch, well sie eben aus<br />

"Italien" kommen; dahin ter steht also<br />

auch eine bestimmte Kultur, Modetradition<br />

etc., die so ohne weiteres nicht von<br />

der Dritten Welt libernommen werden<br />

kann - eine bestimmte hochentwickelte<br />

Technologie hat da nicht den Stellenwert.<br />

Gleichzeitig sind dies auch Produkte<br />

von Industrien, die sich der gewerkschaftlichen<br />

Kontrolle weitgehend entziehen,<br />

wo also Arbeitsbedingungen existieren,<br />

die einfach kriminell sind. Aber<br />

gerade dies sind die Produkte, mit denen<br />

wir auf dem Weltmarkt konkurrenzfahig<br />

sind (Textil-, Bekleidungs-, Leder- und<br />

Schuhindustrie beschaftigen ca. 1.5 Mio<br />

Arbeitskrafte und verbuchen einen Aktivsaldo<br />

von umgerechnet 11 MId. DM<br />

in der Handelsbilanz!), wahrend jene<br />

Sektoren, in denen die gewerkschaftliche Kontrolle stark ist, sich in der Krise befinden!<br />

Da liegt das Problem: der gewerkschaftlich kontrollierte Bereich wird immer<br />

starker in die Defensive gedrangt. Die Frage des "was produzieren?" ist hier auch<br />

vallig untergega.'1gen! Wenn wir frtiher uns noch gefragt haben, ob z. B. die Automobllproduktion,<br />

auf demja die italienische Entwicklung der Nachkriegszeit ganz zweifelios<br />

basiert, angesichts der Sackgasse, in die dieses "Konsummodell" gerat, weiter<br />

forciert werden sollte, dann ist heute angesichts der Krise davon keine Rede mehr.<br />

Zwar kbnnen die FIAT -Arbeiter aufgrund ihrer Kontrollrechte wochenlang Entschei-<br />

128


dungen hinauszogem, zugleich sehen abeT die Gewerkschaften, da£ ohne Produktivitatssteigerungen<br />

FIAT sich nicht mehr auf dem Weltmarkt halten kann.<br />

<strong>Prokla</strong>: Zeigt dies nicht in aller Deutlichkeit, daj3 die Probleme dey Technologiekontrolle<br />

(und nicht nur diese) auf nationaler Ebene allein uberhaupt nicht mehr<br />

zu ldsen sind?<br />

Sophie: Erstens das und zweitens glaube ich, da£ wir es hier nicht nur allein<br />

mit der Position der italienischen Arbeiterklasse zu tun haben, es gibt da ja groJ:,e<br />

Parallelen zu sozialdemokratischen Positionen: Hier treffen sich Zweite und Dritte<br />

Intemationale! Es geht hier namlich urn das grundsatzliche Verhaltnis zur Technik,<br />

ZUI Technologieentwicklung, die traditionell mit F ortschritt schlechthin gleichgesetzt<br />

wird. Ganz explosiv wird dies bei der Frage der Atomtechnologie, die auch in<br />

Italien immer akmeller wird. In ihren fortgeschrittenen Teilen ist die italienische<br />

Arbeiterklasse in der Tradition der Dritten Intemationale entstanden und ihr verhafeiner<br />

Tradition, die technologischen F ortschritt mit F ortschritt schlechthin verwechselt.<br />

Diesen Vorwmfkann ich Trentin, der die fortgeschrittensten Teile der italienischen<br />

Gewerkschaftsbewegung reprasentiert, nieht ersparen, Wenn wiT uns z. B.<br />

mal anschauen, was an Rationalisierungen in der Textilindustrie schon gelaufen ist:<br />

dort ist alles mit Informatik vollgestopft! Da werden nicht in irgendeiner Hinterstube<br />

Kleider genaht ...<br />

<strong>Prokla</strong>: Also nicht in den "malerischen Gassen" Neapels ...<br />

Sophie: Eben, daliegt eine Verwechslung zwischen Textil- und Bekleidungsindustrie<br />

vor.<br />

Das Faszinierende an der italienischen Arbeiterbewegung ist m. E., da£ sie<br />

sich einem Problem gestellt hat, das keine andere nationale Arbeiterbewegung gelOst<br />

hat, namlich dem der demokratischen Kontrolle tiber Arbeitsbedingungen im Betrieb<br />

- als Kontrolle undnichtin irgendeiner Form von Humanisierung! Man kann ja sehr<br />

leicht mal irgendwo einen kleinen altemativen Versuch starten und der kann auch<br />

sehr schon und tiberzeugend ausgehen, aber solange man sich nicht das Problem der<br />

Verallgemeinerungsmdglichkeit stellt, bleibt der Versuch isoliert! Und dartiberhinaus<br />

stellte sich in Italien - und stellt sich immer noch - das Problem der politischen<br />

Macht der Arbeiterklasse. Die Fragestellungen der italienischen Arbeiterklasse seit<br />

1969 sind nm auf diesem Hintergrund zu verstehen und je mehr die politische<br />

Machtfrage in den Hintergrund gerat, desto obsoleter werden auch die Antworten<br />

der italienischen Arbeiter auf konkrete Probleme der Art, wie wir sie hier diskutiereno<br />

Ich glaube und befiirchte, daJ:, wir in der Frage der Atomtechnologie noch einmal<br />

einen ganz entscheidenden Prtifstein de! gesamten gewerkschaftlichen Strategie<br />

haben werden und mbglicherweise tiber dieses Problem groJ:,e Konflikte innerhalb<br />

der Gewerkschaften anstehen - Matteo sieht das nicht so und hat da keine so gro­<br />

Ben Probleme mit der Atomenergie. lch hoffe aber, daf1 sich an dieser Frage auch<br />

eine Reihe anderer Fragen mitentztinden werden: die Frage nach dem "was produzieren?"<br />

und "wie produzieren? ", nach der bkologischen Belastbarkeit eines Landes,<br />

das sowieso schon okologisch tiberbelastet ist ...<br />

<strong>Prokla</strong>: Nun wird ja in der Bundesrepublik die Frage der Atomenergie gerade<br />

129


unter den Aspekten der Weltmarktoffensive des deutschen Kapitals diskutiert ...<br />

Sophie: In Italien wird da gar keine Alternative gesehen angesichts der wesentlich<br />

gro£eren Energieabhangigkeit verglichen mit der Bundesrepublik, da wird<br />

alles andere zweitrangig. Und da liegen auch die Schwierigkeiten jener, die eigent­<br />

Bch gegen das A tomp rogramm sind.<br />

<strong>Prokla</strong>: Nicht nur das A tomprogramm, sondem iiberhaupt die Modemisierungsstrategien<br />

sind ja engan die staatliche Politik gebunden. Nun spielte der Staat bisher<br />

in den Beitragen eher eine untergeordnete Rolle, zumindest wurde seine Rolle nicht<br />

explizit benannt. Vielleicht kann Tamar noch einmal am Beispiel der norwegischen<br />

Modemisierungspolitik die Rolle des Staats aufgreifen ... ?<br />

Tamar: Norwegen ist ja nicht nur wegen seiner Olquellen in erner anderen Lage<br />

als die hier dargestellten Lander. Die Entwicklung der Olrndustrie ist gewisserma­<br />

:Ben die F ortsetzungwesentlicher Entwicklungen in der norwegischen Industriestruktur<br />

tiberhaupt. Wir haben ja ansonsten so gut wie keine Rohstoffe, wir hatten bislang<br />

erne relativ gute Position der Fischindustrie auf dem Weltmarkt, aber da es eine<br />

sich ausschlieBende Alternative zwischen OlfOrderung und Fischfang gibt, wird sich,<br />

so ftirchte ieh, diese Branche nichthaltenkonnen(Zwischenruf: Olsardinen!).Norwegen<br />

ist sehr exportabhangig - z. B. durch die starke Position def Schiffahrt auf<br />

dem Weltmarkt, deren TransportkapazWit an vierter Stelle in der Welt stand. Da<br />

N orwegen aber aufgrund der Wasserkraft Getzt komrnt noch das 01 dazu) tiber billige<br />

Energien verftigt, hat man sich auf energieintensive Fertigungen (z. B. der Schmelzindustrien,<br />

Aluminiumproduktion etc.) konzentriert und in den Bereichen def hochteehnisierten<br />

Elektronikindustrien mit hoehqualifizierten Faeharbeitern versucht<br />

man - ahnlich wie in Danemark und Schweden - Marktnischen auszunutzen.<br />

<strong>Prokla</strong>: Und wie sehen in diesem Zusammenhang die staatlichen Programme<br />

zur Humanisienmg der Arbeit aus?<br />

Tamar: Bei uns spricht man nicht von ,,Humanisierung der Arbeit" - der Begriff<br />

ist durch die "human relations"-Ansatze der 50er und 60er Jahre diskreditiert.<br />

Einmal sind Mindestnormen fur die Arbeitsbedingungen relativ breit in Gesetzen<br />

festgelegt worden und dartiberhinaus sttitzt die Regierung die Politik def starken Gewerkschaften<br />

in ihrer F orderung nach mehr Kontrolle tiber den Arbeitsproze£. Andererseits<br />

ist aber abzusehen, daB es gerade in def Chemie- und Metallindustrie in<br />

den nachsten J ahren zu einer gewerkschaftlichen Krise kommen wird, weil alte<br />

F acharbeiterqualifikationen durch Computer- und Steuerungsspezialisten ersetzt<br />

werden; hier versuchen die Gewerkschaften z. B. den Einsatz von neuen NC-Maschinen<br />

zu fOrdern, wei! sie meinen, daB mit dem Import der gangigen NC-Maschinen<br />

aus den USA auch immer die US-Arbeitsorganisation eingekauft worden ist ...<br />

<strong>Prokla</strong>: In der Bundesrepublik werden die Gewerkschaften ja in Modernisierungskonzeptionen,<br />

die als Entwiirfe fiir eine Strukturpolitik des Staates vorgeschlagcn<br />

wurden, eingebaut, sie sollen mitbestimmen -- allerdings als Branchengewerkschaften<br />

und im Rahmen einer Modernisierungsstrategie, die auf den Weltmarkt bezogen<br />

ist. Liegt in diesem ,,Einbau" der Gewerkschaften nichtauch eine groj3e Gefahr<br />

fur die zukunftige gewerkschaftliche Politik - nicht nur, weil sic ja dann auch<br />

die negativen Auswirkungen einer Modern is ierungspolitik auf die Belegschaften mit-<br />

130


e ich, auch das Beispiel der Druckindustrie: die war ja - rein aUs linguistischen<br />

Grunden - lange Zeit gegen den Weltmarkt abgeschirmt. Und habenjetzt noch die<br />

entwickeltsten F ormen einer Kontrolle des Arbeitsprozesses durch die Arbeiter.<br />

Mike: Auf der ersten Seite des Plans der Arbeiter von Lucas Aerospace steht<br />

geschrieben, da£ es keine Insel def sozialen Veran-twortlichkeit in einer See der Verkommenheit<br />

geben kann - das ist den Arbeitern also wirklich zutiefst klar und<br />

braucht man ihnen nicht erst zu erzahlen! Ganz klar gibt es eine reale Gefahr, da£<br />

sich der Kapitalismus diese Konzeptionen ,altemativer Technologie' und ,alternativer<br />

Energiequellen' selbst zu eigen machen wird. Es ist durchaus vOIstellbar, da£<br />

sich das kapitalistische System daraus eine neue Schokoladenkruste backt!<br />

Wenn also solche Vorstellungen nicht in Konfrontation mit Staat und Unternehmen<br />

erkampft werden, unter der Kontrolle def Arbeiter, dann kann es durchaus<br />

sein, da£ diese Vorstellungen dazu fOOren, da£ die schopferischen Krafte def Arbeiter<br />

durch soIehe Konzeptionen - die drum nach Art des betrieblichen Vorschlagswesens<br />

funktionieren - noch grundlicher enteignet wtirden. Insofern unterscheidet<br />

sich diese Bewegung narurlich keineswegs von den anderen gesellschaftlichen Prozessen,<br />

ail denen wir teilnehmen!<br />

Wir haben inzwischen vielfaltige internationrue Kontakte. Vor allem mochte<br />

ieh hier auf das eindrucksvolle Beispiel der australisehen Gewerkschaften verweisen,<br />

die immerhin ein Technologiemoratorium von flinf Jahren beschlossen haben! In<br />

der Bundesrepublik haben wir aneinem Film mitgearbeitet, def vom WDR mit VFW<br />

in Speyer - ruuaElieh def 1973 dort gefuhrten Kampfe gedreht wurde. Er wird im<br />

Juni 1980 gezeigt, hoffentlich mit einiger Wirkung!<br />

Sonst gibt es hier noch die ,Investitionsberatungsstelle' der IG Metall, die ich<br />

aber fur ziemlich gefahrlich halte, weil durch sie eben doch die Enteignung def<br />

schopferischen Krafte def Arbeiter mehr gefordert wird rus sonst irgend etwas.<br />

Auf zwei Punkte mochte ich aber zum SchluE noeh hinweisen: Die Frage def<br />

Atomkraft muE unbedingt mit dem Problem einer alternativen Produktions- und<br />

Produktstruktur verbunden werden dann erst wird ihre gesamte gesellschaftliche<br />

Tragweitedeutlich. In Frankreich haben wir mit Arbeitern diskutiert, daB es durchaus<br />

moglich ware, Autos zu bauen, die 20 Jahre hielten - in Verbindung mit einer<br />

Wartungsstruktur, durch die wertvolles technisches Konnen erhalten und weiterentwickelt<br />

werden konnte. Dadurch konnte man nicht nur mehr - und bessere - Arbeitsplatze<br />

schaffen als fUr die gegenwartige Produktion von Wegwerfautos - es gabe<br />

auch eine enorme Energieersparnis - bei besserer Befriedigung spezifischer gesellschaftlicher<br />

Bedlirfnisse!<br />

Die Rolle des Staates in dem ganzen Proze!!, mlissen wir sehr grundlich bedenken!<br />

Da herrscht noch ziemliche Verwirrung unter den Beteiligten, auch und vor allem<br />

in Gro£britannien. James Connally, der irische Gewerkschaftsflihrer, hat einmal<br />

gesagt: Wenn Verstaatlichung dasselbe ware wie Vergesellschaftung, dann ware der<br />

Henker ein radikaler Sozialist! - aber es ist eben nicht dasselbe!<br />

132


++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++<br />

+ +<br />

t PROKLA 32: Traditionelle Arbeiterorganisationen, neue soziale Bewegungen :j:<br />

::: und die Krise: Italien und Frankreich +<br />

+ :::<br />

+ Claus Leggewie, Von der Krise des Kapitalismus ZUI Krise der Partei - Zur Ent- :I:<br />

+ wicklung der KPF seit der "historischen Niededage" vom Marz 1978 :I:<br />

+ +<br />

:I: Gerhard Leithauser, Ungeloste Probleme einer wirtschaftspolitischen Alternative +<br />

+ in Frankreich t<br />

+. +<br />

:I: Elmar Altvater, Politische Implikationen def Krisenbereinigung - Uberlegungen t<br />

t zu den Austerity·Tendenzen in Westeuropa t<br />

t Otto Kallscheuer I Traute Rafalski I Gisela Wenzel, Die KPI heute - Aspekte der :::<br />

t Identitatskrise der kommunistischen Massenpartei (Italien - Gratwanderung +<br />

:I: zwischen Stabilisierung und UbergangsprozeB, Teil H)t<br />

+ Gunther Aschernann I Cornelia Frey, "Wenn ich arbeite, geht es mir schlecht, ar- +<br />

::: beite ich nicht, ist es das gleiche" - Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitslosen- :::<br />

+ bewegung in Italien :I:<br />

t Thomas Bieling, "Wo die Macht aufhort, entsteht die Hoffnung" - Die zweite :::<br />

t italienische Studentenbewegung zwischen sozialer Ernanzipation und politi· t<br />

i scher Repression +<br />

+ Diskussion: i<br />

t Paul Mattick, Zur Kritik def Uberakkumulationstheorie von Beckenbach und t<br />

t Kratke :::<br />

t Michael Kruger, Randnotizen zur gegenwartigen krisentheoretischen Debatte t<br />

+ +<br />

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++<br />

133


OAS<br />

120<br />

Argument-Vertrieb<br />

Tegeler Str. 6<br />

1 000 Berli n 65<br />

Oritte Welt und Erste Welt (III)<br />

Kulturelle Identitat, Self-Reliance,<br />

GrundbedOrfnisse. Alltagliche Krisenbewaltigung.<br />

Spontaneismus. Kommentierte<br />

Bibliographie: Umweltfragen.<br />

9,80; 8,50 f. Stud. (Abo: 8,50/7,-).<br />

W. Haug: Ideologie/Warenasthetikl<br />

Massenkultur<br />

Thesen Ober Ideologie. Kritische Psychologie<br />

und Ideologie-Theorie. Thesen<br />

zur asthetischen Erziehung.<br />

SH 33 4,00 OM.<br />

Kritische Psychologie - Handlungsstrukturtheorie.<br />

Kritik: Rogers, Otto­<br />

Wundts Kritik am Experiment.<br />

Werkstattpapiere: Alkoholismus -<br />

Heroinsucht - Jugend<br />

15,50; 1 f. Stud. 1 1,-)


technologischen Erweiterungen durch gewerkschaftliche Gruppen widerstand, auch ihren ,,Anteil"<br />

an der Schwache sozialer Bewegungen und der theoretischen ,,Entwaffnung" der Arbeiterklasse<br />

im gesellschaftspolitischen Krafteverhiiltnis damals wie auch heute.<br />

Eine weitergehende Analyse zum konkreten Verhiiltnis von Handlungsstrukturen und gesamtgesellschaftlichem<br />

RegelSystem, die auch die klassenspezifisch antikapitalistischen Latenzform<br />

en mit aufzunehmen hatte, muP., noch geleistet werden; wir hoffen, in dem Artikel dazu<br />

Ansto:l?>e gegeben zu haben.<br />

Wenn wir im folgenden dennoch relativ eng am historischen Material argumentieren, so<br />

liegt dieser methodischen Praferenz die Uberlegung zugrunde, die Handlungsstrukturbedingungen<br />

mit ihren Folgen fur eine Krisendeutung und politische Losungsformen aufzuzeigen, die<br />

nicht nur traditionell Ansatzpunkte einer gewerkschaftlichen Antikrisenpolitik gewesen sind,<br />

sondern auch heute die BRD-Diskussio71 v.a. in den "Memoranden zur alternativen Wirtschaftspolitik"<br />

bestimmen. Stichworte dazu sind:<br />

Ma:I?>nahmen ZUI Vollbeschaftigung ("Recht auf Arbeit");<br />

Konsum- und Lohnverzicht zugunsten eines wirtschaftlichen Wiederaufschwungs (Wachstumspolitik)<br />

;<br />

Lohnerhohungen a1s Kaufkraftsteigerung; Unterkonsumtionstheorie;<br />

Planmoglichkeit und Kon trolle erner arbeitsorientierten Produktionspolitik;<br />

Sicherung der Leistung des "Sozialen Netzes";<br />

Sozialisierung de! Schliisselindustrien;<br />

Konsolidierung der gewerkschaftlichen Gegenmacht und Starkung der Basisbewegungen<br />

im Betriebsbereich;<br />

Handlungsfahigkeit sozialdemokratischer Gewerkschaften innerhalb einer sozialdemokratisch<br />

en Regierungsverantwortung;<br />

Investitionskontrolle, volkswirtschaftliche Rahmenplanung und Veranderung staatlicher<br />

Finanzziele etc.<br />

2. Wirtschafts- und Gewerkschaftspolitik des ADGB in der Krise<br />

Wir setzen hier die sozialokonornische Entwicklung als wesentliche Erfahrungszusammenhiinge<br />

flir die deutsche Arbeiterbewegung voraus (1) und wollenjetzt stichwortartig<br />

einige Merkmale gewerkschaftlicher Entwicklung in def Weimarer Republik<br />

aufzeigen, die die Haltung zur Wirtschaftspolitik und den Arbeitbeschaffungsprogrammen<br />

innerhalb der Gewerkschaften wesentlich mitbestimmt haben.<br />

DeI Preis, den die Gewerkschaften flir die Anerkennung ihrer Organisation als<br />

legitirnierter Vertreter der Arbeiterinteressen 1918/19 bewu£t in def von ihnen<br />

auch gegen die radikaleren Bestrebungen von Jinks' in der Arbeiterbewegung'mitinitiierten<br />

ZAG (2) zahlten, war der Verzicht auf den Versuch, weitgehende, das politische<br />

System transforrnierende Veranderungen def okonomischen Grundstrukturen<br />

von oben vorzunehmen; weiterhin def Verzicht auf Eingriffe in die dkonomische/technische<br />

Entscheidungssphare der Unternehmungen, auf eine arbeitsorganisatorische<br />

Umgestaltung, und sie akzeptierten die geforderte Beschrankung der Betriebsratstatigkeiten<br />

auf den sozialpolitisch subsidHiren Bereich. Mit diesen Unterlassungen<br />

spalteten sie den radikaleren Tell unter ihren Mitgliedern ab, was sich VOflibergehend<br />

zunachst in def Starkung syndikalistischer und unionistischer Gruppen<br />

organisatorisch niederschlug, die besonders auf der unmittelbaren Betriebsebene<br />

gro£eren Einflu£ erlangten: Nach def erfolgreichen Verklirzung gewerkschaftlicher<br />

Politik auf den Lohn/Leistungsrahmen (heute: Tarifpolitik), der nur begrenzte reak-<br />

136


tive Steuerungspotentiale besitzt, nahmen die sozialdemokratischen ,,M:ehrheitsgewerkschaften"<br />

bei den Auseinandersetzungen urn die Lohn-, Sozialisierungs- und<br />

Arbeitszeitfragen eine eher vorsichtig abwiegelnde, an Verteilungsgeskhtspunkten<br />

orientierte Position ein, die nicht ohne Voraussetzung war. Als Vulgarisierung der<br />

Marx'schen Arbeitswertlehre findet sieh dieses sozialdemokratisehe Politik- bzw.<br />

Technikverstandnis schon lin Gothaer Programm. Mit dem Begriff der "Werksmoral"<br />

wurde Fabrikarbeit schleehthin mit proletariseher Leistung identifiziert, die enormen<br />

Teehnologieveranderungen def Zeit als wachsende Naturbeherrschung einseitig<br />

gefeiert und auf die Formbestimmung def Arbeit, begriffen als Arbeit sans phrase,<br />

frtihzeitig verziehtet. Nicht als potentiellesSubjekt gesellschaftlicher Evolution, sondem<br />

in einer Entkoppelung von bilden und gebildet werden (Hegel) schwimmt die<br />

Arbeiterbewegung in ihrer Selbsteinschatzung auf def "Woge des F ortschritts". Daher<br />

bestehen auch in den politischen Debatten def Zeit nicht mehr die empirisch bezogenen<br />

Bildungs-, bzw. BewuBtseins- und Arbeitsbegriffe zur Disposition, sondern<br />

in Abwehr def gegebenen Erfahnmgen der KlassenbewuBtseinsbegriff (Lukacs).<br />

Es ist unseres Erachtens auch von daher berechtigt zu sagen, dai1 die Freie Gewerkschaftsbewegung<br />

(FG) poHtisch erheblich geschwacht aus dem Kriege hervorging<br />

und die dort erlebte katastrophische Technikerfahrung keineswegs als Korrektur<br />

ihres Fortschrittsverstandnisses verarbeitete. Ihre positive Einstellungzur Entwicklung<br />

def Produktivkrafte schloB im Betriebsbereich weiterhin die Anerkennung<br />

der tayloristischen Arbeitsgestaltung und die Kapital- und Managementstrategien in<br />

def Technikentwicklung ein; die vermuteten sozialen Folgen gedachte man weitgehend<br />

sozialpolitisch tiber eine SPD-Regierung gesetzlich abfedem zu konnen.<br />

Mit sehr defensiv gehaltenen Strategien verzichtete sie sogar weitgehend auf<br />

eine KHirung def Beziehungen von Arbeiterinteressen und Gesellschaftssystem, wie<br />

sie von den radikalen Teilen der Arbeiterbewegung, die von der tiefgreifenden sozialstrukturellen<br />

Veranderung der rapiden Industrialisierung am starksten betroffen waren,<br />

in offenen Kampfstrategien immer wieder angemeldet wurden.<br />

Die okonomische Entwicklung nach Kriegsende zeigt dann auch in den unterschiedlichen<br />

Etappen, dai1 und wie sich in dem Antagonismus von Lohnarbeit und<br />

Kapital die Kapitalseite nach def Uberwindung def revolutionaren Situation 1919<br />

'IS"'''''"'''' durchsetzte und in der Phase def Inflation und intensiven Rationalisierung<br />

die notwendig damit verbundene Schwache def Gewerkschaften fUr sich nutzen<br />

konnte Eine Schwache, die aus def okonomisch induzierten, auch struktur·<br />

ellen des Gesam tarb ei ters resultierte und sich in fehlender V ereinpolitisch<br />

sie wurde nocll vom ADGB dUTCh seine Politik der<br />

, und darunter besonders def verstarkt<br />

Es stell te sich schnell anhand der En twicklung<br />

dai1 die tiber die ZAG "errungene" als<br />

ner nicht gleichzeitig Tarifautonomie bedeutete, und die Gewerkschaften bii£ten<br />

auch hier ihre tiber zwei Seiten einer Medaille ein : Die staatliche<br />

mit der Verbindlichkeitsklausel band sie einerseits an so et-<br />

, andererseits orientierte<br />

der EinfluBnahme starker auf staatliche Instanzen - wie<br />

137


mit ihrer fatalen Implikation krisenfreier Wirtschaftsentwicklung dazu bei, daB<br />

Tragweite und Bedeutung der beginnenden Krise kaum erkannt und verharmlost<br />

wurden. Nach den offensichtlichen MiBerfolgen des ADGB mit einer auf die Gesamtkonjunktur<br />

zielenden "Hochlohnpolitik" bel den konkurrierenden Einzelunternehmem<br />

richtete sich diepolitische und gewerkschaftliche Strategie zunehmend<br />

darauf den Forderungen def Kapitalseite dUTch den Verzicht auf die Errungenschaften<br />

der ProsperiHit direkt und indirekt entgegenzukommen: Der Reformismus<br />

macht jetzt wieder deutlich seine Politik fur die Interessen der Arbeiter von der ka­<br />

Konjunkturentwicklung bzw. von der Krisenlosungsform abhiingig.<br />

Die politische Krise def Republik wurde nicht auf die okonomische Krise zuruckbezogen,<br />

sondem die politische Strategie wurde tiber die bekannte Annahme neutraler<br />

Staatsgewalt als eines allen Klassen gleichermaB.en ZUI stehenden Instruments<br />

politischer auf die Erhaltung def politischen Form der<br />

palamentarischen Republik tiber die okonomische Krise hinweg orientiert. Auf die<br />

Einschatzung des politischen Krisenverlaufs schien im Lager des Reformismus der<br />

vorliegende Zusammenhang von Politik und Okonomie in def Systernkrise<br />

def Weimarer Republik jedenfalls kaum EinfluE zu haber!.<br />

Einschrankend muE hier erwahnt werden, daB die von uns angedeutete Selbstauflosung<br />

sozialdemokratischer Politik insoweit der Antinamie [algte, wie<br />

es fUr sie unmoglich war, umfassende ,Valkspartei' zu werden und gleichzeitig der<br />

Krise mit gmndlegenden Strukturveranderungen des deutschen Kapitalismus - besonders<br />

gegen die aggressiven Teile def kartellierten Schwerindustrie (12) - entgegenzutreten.<br />

In def Einschatzung des okonomischen Krisenverlaufs durch die SPD tauchte<br />

der Zusammenhang nur insofem auf, als man friihzeitig dem ungehemmten okonomischen<br />

,,Reinigungsvedauf" disproportionaler Entwicklungen ohne staHgeben<br />

wollte. Erst herausgefordert von den aggressiven ArbeitsbeschaffungspHinen<br />

des ADGB,die im Grunde das Arbeitslosigkeitsproblem teilweise von den<br />

schaftlichen Erfordernissen mit Hilfe staatlicher Stlitzung abzukoppeln versuchten,<br />

forderten die SPD-Wirtschaftsfachleute Hilferding, Naphtali und Paul Hertz die Zudes<br />

Staates, da erst die Krise die Grundlage fUr die erneute Wiederher­<br />

MIO,llUlil'; des Verwertungsgrades des und den zyklischen sorgen<br />

konne. AuEerdem fUhre eine solchermaBen tiber ArbeitsbeschaffungsmaBnahmen<br />

der Kapazitaten zu Inflation bei<br />

def strukturellen Defizite im des<br />

def sozialdemokratischen<br />

14


seiner mit denen der btirgerlich-konservativen Krisenlosungsmuster feststellen muB.<br />

Gleichzeitig wurde es flir die Freien Gewerkschaften bei Dauer der Depression immer<br />

unmoglicher, auch nur ein Minimum alltaglicher Arbeiterforderungen zu realisieren,<br />

da das Kapital in wesentlichen Teilen selbst an der Grenze seiner Reproduktionsfahigkeit<br />

stand. AuBerdem hatten diese Forderungen ganz andere Kampfschritte<br />

notwendig gemacht. So blieb es groBtenteils bei wortradikalen <strong>Prokla</strong>mationen<br />

und realitatsferner orthodoxer Kapitalismuskritik.<br />

Die ideologische Absicherung wirtschaftspolitischer Zuriickhaltung sozialdemokratischer<br />

Politik in der Krise geht auch auf die Theorie des "Organisierten Kapitalismus"<br />

als Basis des Ubergangs zum Sozialismus zurtick. Sie rechtfertigt anscheinend<br />

auch die gewerkschaftliche Auffassung des Krisenausgangs, indem man aus der<br />

Not einfach eine Tugend macht: "Wenn die Nebel dieser okonomischen Krise sich<br />

verzogen haben werden, dann wird man deutlich sehen, daB auch in dieser Zeit die<br />

sozialistischen Fundamente starker, die kapitalistischen schwacher geworden sind."<br />

(16) Das bedeutete eine klare Absage an eine eigene strukturpolitische Konzeption<br />

und eine - erfahrungsgeleitete - Fehleinschatzung der politisch mbglichen Form<br />

der Krisenlosung mit einer Konstellation aus verschiedenen gesellschaftlich integrierten<br />

Gruppen WI faschistischen Massenbasis; diese Gruppierungen waren auch V.OIdergriindig<br />

integrierbar durch ein breites, inkonsistentes NS-Gesellschaftsprogramm,<br />

in dem man leicht sein "Unbehagen am System" gespiegelt fand; zum Beispiel im<br />

NS-Wirtschaftsprogramm mit seinem ne.uen Arbeitsethosversprechen (17).<br />

Dieser "Zukunftsglaube" anstelle gewerkschaftlicher Eigenaktivitaten lieB<br />

sich in und von den Gewerkschaften immer weniger verteidigen angesichts der voll<br />

auf die Arbeiterklasse abgewalzten Krisenlasten, so daB unter diesem Druck im<br />

ADGB als einziger deutscher Gewerkschaft begonnen Vv'urde, eigenstandige, zumindest<br />

konjunkturtheoretisch unorthodoxe VorschHige ZUI Uberwindung der Wirtschaftskrise<br />

auszuarbeiten und zu propagieren. Als Arbeitsbeschaffungsprogramme<br />

traten sie ab 1930 mit aggressiven Antidepressionsvorschlagen auf einer Defizitfinanzierungsgrundlage<br />

zur effektiven Erhohung der Nachfrage in die Offentliche wirtschaftspolitische<br />

Diskussion ein und fanden sogleich starkes sozialpolitisches Echo.<br />

Diese Plane schienen von den bisherigen Versuchen hauptsachlich dahingehend abdaB<br />

sie an den bkonomischen Bewegungen ansetzten und den<br />

staatlichen Bereich tiber umfassende staatliche<br />

d. h. sie versuchten sich zumindest wieder auf beide Seiten des Verhaltnisses<br />

schaftlicher zu beziehen. Wir k6nnen hierbei durchaus von einem anti-<br />

durch die von der SPD<br />

verscharfend scharf behindert<br />

Der ADGB versuchte mit diesen<br />

Inhalte U!31H01J.J;;\01<br />

142<br />

Er wurde aber


wollen.<br />

Ob den Arbeitsbeschaffungsprogrammen und dem im AnschluB gemeinsam<br />

mit dem AfA-Bund vorgelegten Plan zum "Umbau der Wirtschaft" (19) eine aufgrund<br />

der veranderten materiellen Lage und det Erfolglosigkeit von EinzelmaBnahmen<br />

erheblich veranderte Wirtschaftstheorie als politisches Orientierungsmoment<br />

ftir gewerkschaftliche Strategie und Taktik zugrundeUegen oder ob die Programme<br />

auf unverandert reformistischer Grundlage Arbeitslosigkeit als Krisensymptom gesellschaftlich<br />

losgelost tiber eine folgenreiche Belebung der Gesamtwirtschaft sozialpolitisch<br />

nur "einzudammen" versuchen, wollen wir anhand dieser Plane herausarbeiten.<br />

2.1. Arbeitsbeschaffungals "Kampfgegen die Wirtschaftskrise"<br />

Den inhaltlich fortgeschrittensten und geschlossensten Stand, der innerhalb und<br />

auBerhalb der Gewerkschaften weite Verbreitung bis zur parlamentarischen Verwendung<br />

gefunden hat, reprasentiert der WTB-Plan zur Arbeitsbeschaffung yom 26. 1.<br />

1932. Er wurde nach abgeschlossenem MeinungsbildungsprozeB ohne weitere Erarterung<br />

durch die wenigen Redner auf dem KrisenkongreB am 13. 4. 1932 in die<br />

einmtitige EntschlieBung aufgenommen. Seinen inhaltlichen Ausgangspunkt nahm<br />

dieser Plan nachweislich wohl in den Ausarbeitungen des Leiters des Statistischen<br />

Btiros des ADGB, Wladimir Woytinsky, der zunachst von nationalen Grenzen in der<br />

Folgewirkung der Wirtschaftspolitik absah und sich auf einen Zusammenhang von<br />

Strukturwandel deT Wirtschaft und ihren F olgen fUr die Arbeiterklasse bezog. Dominant<br />

ftir seine Vorschlage ZUI Krisenbekampfung war die Ursachenbestimmung der<br />

mangelnden Kautkraft und dami t Warentiberproduktion (Unterkonsumtionstheorie),<br />

die er durch einen intemationalen Preisabbau reguliert sehen wollte. Diese Uberlegungen<br />

fanden Eingang in das auf Februar 1931 datierte "Aktionsprogramm fUr<br />

die Belebung der Wirtschaft". Seine starke gewerkschaftsinterne Beachtung riihrte<br />

sicherlich auch daher, daB das Aktionsprogramm in seiner volkswirtschaftlichen<br />

Orientierung die Arbeitslosigkeit quasi im Nebeneffekt tiber eine staatlich induzierte<br />

Wirtschaftsbelebungsaktion zu mildew versprach. Diese starker volkswirtschaftliche<br />

Konjunkturbetrachtung war fUr die Gewerkschaftsbewegung auch in den Ftihrungskreisen<br />

noch ungewohnt. Aber im konkreten Fall bisheriger Erfolglosigkeit nach<br />

dem ersten Weltkrieg und in der Rationalisierungsphase kam sie ihnen durch ihIen<br />

starken Gegenwartsbezug wahl entgegen.<br />

Handlungsanleitende Stichpunkte des Programms waren:<br />

Beeinflussung der Preisentwicklung durch einen staatlich induzierten Produktionsaufschwung<br />

sinnvolle Arbeitsbeschaffung nUI durch Kapitalschopfung und nicht tiber eine<br />

Umverteilung knapper Mittel in der Krise<br />

beides steht im Zusammenhang mit der Goldpreiswahrung, wobei es sich auf die<br />

monetaren Uberlegungen bei Keynes beruft.<br />

Mit der Behauptung: "Krisen im Kapitalismus sind vermeidbar" und der ab-<br />

143


filligen Bemerkung zur sozialistischen Zukunftsmusik bricht Woytinsky eine nie beendete<br />

polemisch gefiihrte Kontroverse urn das ,,Nur-Gewerkschafts1um" innerhalb<br />

von SPD und Gewerkschaften wieder auf.<br />

Das erweiterte Programm wurde - neben dem von Horsing aus Reichsbannerkreisenschon<br />

verOffentlichten Plan gegen die Arbeitslosigkeit - auf der Vorstandssitzung<br />

des ADGE am 9. 3. 31 als zu publizierende Druckschrift andiskutiert und<br />

ohne nachweisbare Korrekturen zum Druck freigegeben. Damit bekam der Plan in<br />

allen seinen Implikationen gewerkschaftsOffentlichen programmatischen Charakter.<br />

Das antizyklische Moment fand seine Erwagung in dem scheinbar neuen - well national<br />

bezogenen, aber auch international gedachten - Vorschlag, nach dem der<br />

Staat in der Prosperitat Reserven fUr ein deficit-spending-Programm in der Depression<br />

bilden sollte.<br />

Die nachste Konkretions- und direkte Vorlaufstufe zum WTE-Plan innerhalb<br />

der Krisendiskussion erfuhr der Plan mit der Zuspitzung zur Arbeitsbeschaffungsforderung<br />

in den "Thesen zum Kampf gegen die Wirtschaftskrise" yom 23. 12. 1931 (20).<br />

Als verOffentlichte Fassung wurde dieser - starker national akzentuierte Arbeitsbeschaffungsplan<br />

als WTE-Plan vom 26. 1. 1932 bezeichnet und in einigenYunkWn,<br />

so in der Finanzierung tiber eine Reichskredit A.G. prazisiert unter EinschluB von<br />

N otensch6pfung.<br />

Die Hauptgedanken dieser WTE-Fassung, die bis zum KrisenkongreB 1932 offensichtlich<br />

erfolgreich als Elemente gewerkschaftlicher Strategie in der Arbeitsbeschaffung<br />

verankert worden sind, konnen wie folgt umrissen werde,n:<br />

Zur Belebung der Wirtschaft mu£ ein Ansto£ von au£en erfolgen, da die bisher<br />

wirksamen Krisentiberwindungskrafte au£er Funktion sind.<br />

Dieser Ansto£ ist vorgesehen tiber die Restituierung von 1 Mia Arbeitslosen in<br />

Arbeitsplatze durch Offentliche Korperschaften, die die Kreditsumme von ca. 2<br />

Mrd. RM als Schuldverpflichtung langfristig tibernehmen; eventuelle Baransprtiche<br />

konnen tiber zusatzliche NotenschOfpung laufen.<br />

Laufzeit dieser Arbeitsbeschaffung zunachst ein Jahr.<br />

Inflationsbeflirchtungen sind grundlos, da die Massenkaufkraft oder die Notenvermehrung<br />

tiber ein Jahr relativ gering gehalten sind, z. T. wieder in die Reichsbank<br />

zurti'ckflieBen und dort abgebaut werden k6nnen.<br />

Der kreditierte Wirtschaftsaufschwung bringt Erspamisbildung wieder in Gang,<br />

die dann in der Deckung vorgezogener Mittel wieder Verwendung finden.<br />

Warenverknappung durch zusatzlichen Notenumlauf ist in dieser Krise deswegen<br />

nicht zu erwarten, weil die technischen Voraussetzungen ZUI schnell erweiterbaren<br />

GUterproduktion schon vor der Krise vorhanden waren und derzeit nm brach<br />

liegen.<br />

- Erwartet werden muil; tiber die Kaufkraftsteigerung von 2 Mrd. RM eine etwa urn<br />

150 Mill. RM mehr belastete diese Gr6Benordnung ist aber<br />

von der deutschen Handels· und Zahlungsbilanz durchaus verkraftbar.<br />

AbschlieBend wird in dem noch einmal<br />

da£ diese vorgeschlagene a.lctive<br />

als sie in dem normalen Krisenverlauf von selbst zur gekommen wa-<br />

144


en, wenn die Privatinitiativen an groBen Industrieprojekten wie bisher funktioniert<br />

hatten und auch weiterhin Anlagem6glkhkeiten in den Kolonien zur Verfligung<br />

standen.<br />

Deutlich wird hier wiederum, daB dieser gewerkschaftliche Krisenplan strukturkonservativ<br />

ist. Er enth1Ht keine Korrekturen def Formbestimmtheit def Arbeit,<br />

der konkreten Arbeitsorganisation, der Technikpolitik und des sozialstrukturellen<br />

Entwicklungsprozesses, wie er sich als Voraussetzung und Ergebnis def kapHalistischen<br />

Vergesellschafrung der Arbeit herausgebildet hat.<br />

2.1.1. DeI KrisenkongreB des ADGB (13. 4.1932) und die Gewerkschaftskrise<br />

Die politische Bedeutung dieses kurzfristig einberufenen auBerordentlichen Kongresses<br />

innerhalb def Arbeiterbewegung, sieben Monate nach einem ordentlichen GewerkschaftskongreB,<br />

def noch ganz im Zeichen def Wirtschaftsdemokratie gestanden<br />

wird durch den einzigen Tagesordnungspunkt Notwendigkeit der<br />

Arbeitsbeschaffung" schon angezeigt. UnmiBverstandlich verweist diese F ormulierung<br />

auf die nunmehr kaum noch kompromiBbereite Vertretung des gewerkschaftlichen<br />

Standpunktes gegeniiber der SPD, wonach gerade in der Krise die Gewerkschaften<br />

aktiv die In teressen def Lohnarbei ter insgesam t zu verteidigen haben, denn:<br />

"Kollegen, sagt es drauBen, wo immer sich die Gelegenheit bietet, ohne Arbeit geht<br />

nicht die Kapitalistenkiasse, sondern die Arbeiterklasse werst zugrunde." (21) Damit<br />

wurde hin zur SPD, die sich nur sehr zogernd wegen def Finanzierung zur Arbeitsbeschaffungsprogramma<br />

11k, aber vor allem wegen def verzerrenden Wirkungen<br />

von Eingriffen in der Krise insgesamt bekannte, innerhalb def Gewerkschaften und<br />

flir die offentlichkeit ein Bekenntnis zum sozialen Kampf abgelegt. Gleichzeitig<br />

wurde dami t versucht, auf die laufenden innerministeriellen Beratungen EinfluB<br />

auszuiiben. Der Erfolg blieb aber hauptsachlich deswegen aus, well die Reichsbank<br />

sich gegenjegliche Kreditausweitung sperrte.<br />

Ober die vorgeschlagene aktive, konjunkturell bezogene konkrete Wirtschaftsauf<br />

der Grundlage des WTB-Arbeitsbeschaffungsprogramms stellte man sich,<br />

wie Eggert es sinngemaE ausftihrte, einen okonomisch und politisch gangbaren<br />

durch die Krise vor, der sich zwischen den Extremen der tatenlosen "Zusammenbruchstheoretiker"<br />

und den Unternehmerforderungen nach Freiheit des<br />

schen Wirtschaftssystems "durchkiimpft bis zu einer planmailJigen """'''''."0'",''''HU.'''0wirtschaft".<br />

DaB diesem Weg des WTB-Plans die Reichsregierung vor aHem wegen<br />

des Primats des ausgeglichenen Haushalts und der drohenden Inflationsgefahr durch<br />

Kreditgewahrung nicht folgen konne - bei Anerkennung von Arbeitsbeschaffungsprogrammen<br />

- , verdeutlichte Reichsarbeitsminister auf<br />

dem Kongre8. Er wandte sich besonders in der der Faktoren zur<br />

direkt gegen die von zuvor auf dem der<br />

krafttheorie ins Feld def und setzte die Notdef<br />

145


(33). Ausgearbeitet als monetire Konjunkturtheorie trug sie dazu bei, den Charakter<br />

der Wirtschaftskrisen rn monetire DisproportionalWiten zu verfabeln und implizierte<br />

auch den Glauben an erne Verstarkung staatlicher Konjunkturlenkung ZUI<br />

zuktinftigen Krisenvermeidung (34).<br />

2.2.2. ,,Das revolutionare Automobil wird der Sache der revolutionaren Arbeiterklasse<br />

dienen" (35): Produktivitatspolitik und Kapitalbildungsprimat als Zielorientierung<br />

gewerkschaftlicher Krisenpolitik<br />

Bisher konnte von uns dargelegt werden, daB die Kaufkrafttheorie hoher, besser:<br />

steigender Lohne tradierter Kern gewerkschaftlicher Lohnpolitik gewesen ist. Diese<br />

Politik wurde von den Gewerkschaften immer verstanden als Kampf gegen die Tendenz<br />

der Senkung des Preises der Arbeitskraft unter mren Wert, wie sie nach ihrer<br />

Erfahrung im Kapitalismus durch die standige Steigerung der Produktivkraft der Arbeit<br />

inszeniert wurde.<br />

Diese Lohntheorie erfuhr entlang der Entwicklung der Produktivkrafte und<br />

der Vergesellschaftung der Arbeit - und nicht umgekehrt - erne Reihe von Ausdifferenzierungen,<br />

die als lohnpolitische Argumentationsfiguren Bezug nahmen zu<br />

konkreten Veranderungen im Interessenbereich gewerkschaftlicher Vertretung.<br />

Als ern gutes Beispiel daftlr in der Weimarer Republik laBt sich hier die hauptsachlich<br />

lohnpolitisch gerechtfertigte, aber gesamtwirtschaftlich bezogene Haltung<br />

def Gewerkschaften ZUI Rationalisierungsbewegung def 20er Jahre angeben (35a).<br />

Mit dem Hinweis auf die steigenden Zuwachse geseilschaftlichen Reichtums tiber die<br />

F ortschritte in der Produktivitat geseilschaftlicher Arbeit unterstiitzten die Gewerkschaften<br />

in dem Glauben an damit auch steigenden Lebensstandard unbesehen aile<br />

betrieblichen und tiberbetrieblichen MaBnallmen, die unter dem Rationalisierungsetikett<br />

durchgeflihrt wurden, ernschlie£lich der neuen Technikeinftihrungen und der<br />

weitergehenden Taylorisierung.<br />

Dieses kritiklose emphatische Verhaltnis zur Veranderung der Form des Produktionsprozesses<br />

(der "Fordismus" als Beispiel fUr die Berechtigung hoher Lohne)<br />

basiert selbst noch einmal auf der spezifisch erfahrungsverarbeitenden Annahme,<br />

daB die Befriedigung der Grundbediirfnisse notleidender Bevblkerung nur durch<br />

erne moglichst rasche Entwicklung des Produktionsapparates moglich ware. Die dabei<br />

zu erbringenden Opferleistungen im rationalisierten ProduktionsprozeB an Fahigkeitsverlust<br />

und abnehinender Selbstverwirklichung in der Arbeit seien eben notwendig<br />

(und kompensierbar), urn die Bedingungen des Lebens abzusichern, bis d


und bedtirfnisbezogenen Ansatz der abhangig Beschaftigten aus. Diese zweckrationale<br />

Haltung muBte eine Entwicklung von Lebensutopien in Spannung zur Realitat<br />

dauerhaft und folgenreich flir die Arbeiterbewegung ausblenden; als verbreitet verankerte<br />

Einstellung war diese urn die Utopie verktirzte Zweckrationalitiit mit eine<br />

V oraussetzung flir die anHingliche A ttraktivitat def nationalsozialistischen Arbeitsideologie<br />

bei den abhangig Beschaftigten und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern.<br />

An dieser F ortschrittseinstellung muBte und konnte sich substantiell auch<br />

wahrend der Massenarbeitslosigkeit nichts andem, da die Gewerkschaften wie bei<br />

def Bestimmung des Arbeitslohns auch hier yom Gegensatz zwischen Lohnarbeit<br />

und Kapital im unmittelbaren Produktionsbereich absahen und erst an der Verteilungssphare<br />

des Wertzuwachses machtpolitisch ansetzten. Deshalb konnten sie auch<br />

die Rationalisierungsbewegung als nicht kapitalistisch fonnbestimmt verstehen und<br />

untersttitzen. Selbst als die dort zugrunde liegende arbeitswissenschaftliche F onn in<br />

def Weltwirtschaftskrise ihre Legitimation zu verlieren begann und def bis dahin<br />

auch betrieblich anschauliche Zusammenhang von Entwicklung def Arbeitsproduktivitat<br />

und Gtiterreichtum brtichig wurde, stellte sich nach unserer Kenntnis flir das<br />

KlassenbewuEtsein keine Evidenz in dem Sinne her, da1l, die zugrunde gelegte Wissenschaft<br />

nicht dem gemeinsamen Interesse verpflichtet sein konnte, sie selbst also<br />

in ihren Pramissen wr Disposition stehen miiEte.<br />

Die Unterstiitzung durch den ADGB basierte u. a. auf einer differenzierteren<br />

lohntheoretischen Begrtindung, nach def sogar nUI durch den Druck def haheren<br />

Lahne Rationalisierung und Produktivitatserhahung w erreichen seien, da bei niedrigerem<br />

Lohnanteil am Kostpreis die Untemehmer keiI1en Vorteil von dem Zwang<br />

zur Einftihrung arbeitssparender Kapitalanlagen hatten und menschliche Arbeitskraft<br />

nicht durch kostspielige Maschinen zu ersetzen brauchten. Sogenannte "spekulative<br />

Lohnerhahungen" mtiBten Rationalisierungen initiieren, die wiederum erwiinschte<br />

Produktivitatssteigerungen nach sich zagen. DeI dazu zunachst kiinstlich<br />

machtpolitisch angehobene Lohn wtirde sich dann wieder der durchschnittlichen<br />

Produktivitat def Arbeit annahern, bzw. zur stark angestiegenen Produktion in beiden<br />

Abteilungen die notwendige Reallohnbasis als Kaufkraft zm Warenrealisation<br />

bilden.<br />

Auf diese Weise war die Orientierung def lohnpolitischen Gewerkschaftsma1l,nahmen<br />

auf Produktivitatssteigerung festgelegt. Eine Kritik an den vieWiltigen arbeitsorganisatorischen<br />

Entwicklungen auf Basis des Taylorismus wurde weitgehend<br />

ausgeschlossen; d. h. innerhalb def zusammenhangenden wichtigsten BestimmungsgraBen<br />

und EinfluBfaktorenftir die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsorganisation:<br />

Die Fertigungsstruktur des,Betriebes, das Arbeitskrafteangebot und die Lohnstrukzielte<br />

der ADGB nur aUf den Faktor Lohn abo<br />

Der lohntheoretisch zugrunde liegende Gedankengang def Zeit dazu war etwa<br />

wie folgt: Die Steigerung der Produktivitat der Arbeit setzt den Wert def Lebensmittel<br />

herab, da sie in ktirzerer Zeit hergestellt werden konnen. Gleichzeitig steigt dadurch<br />

der gleichbleibende N ominailohn als Reallohn, weil er sich in mehr Lebensmittel<br />

urnsetzen laBt, d.h. es sinkt zwar der Wert der Arbeitskraft bei Erhohung def<br />

ArbeitsprodukHvitat, aber der Reallohn steigt, und es wird nicht einmal def Mehr-<br />

154


wert angetastet. Von der Seite des Lohns aus gesehen sei eine Produktivitatsorientierung<br />

in der gewerkschaftlichen Politik daher anzustreben und findet seine absolute<br />

Grenze nur in der Produktivitat der Arbeit.<br />

So ist es nicht verwunderlich, wenn ADGB und AfA-Bund nach der Stabilisierungskrise<br />

in der Denkschrift yom Februar 1926 offen forrnulieren, daB sie " ... die<br />

Rationalisierung ... fur eine der wichtigsten V oraussetzungen der Wohlstandssteigerung"<br />

halten, die allerdings sinnvoll durchzuftihren sei: ,,Die gegenwartig oft getibte<br />

Methode, die Rationalisierung ohne gleichzeitige Preisverbilligung und LohnerhOhungen<br />

durchzuftihren, mu8 die Krise der Dberproduktion erzeugen." (37) Die V erfasser<br />

der Denkschrift sprechen mit dem letzten Satz zwar das spezielle Motiv kapitalistischer<br />

Produktionslogik - die Mehrwertproduktion - an, aber in einem politisch<br />

verktirzten Zusammenhang, wie es die hilflosen Verbotsdrohungen tiber staatliche<br />

Eingriffe zeigen. Die Tendenz, die ZUI Produktion einer Ware notigen Zeit<br />

(ihren Wert) beispielsweise unter den jeweiligen gesellschaftlichen Durchschnitt<br />

drticken zu wollen, ist ihnen zwar immer wieder begegnet als Reduktion des Lohnanteils<br />

im Kostpreis auf ein Minimum, aber ihnen erscheint dieser Hebel zur Steigerung<br />

der Produktivkraft der Arbeit eher als Produktivkraftsteigerung des Kapitals, die lediglich<br />

wegen schadlicher Auswirkungen auf den Menschen kontrolliert werden<br />

mtisse. Die so verstandene Steigerung der Produktivkraft nun quasi gesetzlich mit<br />

Preisverbilligung und Lohnerhohung zu koppeln, wie es die Denkschrift vorsieht,<br />

hieBe die Grundlage der Mehrwertproduktion verbieten zu wollen; das wiederum<br />

widersprache der produktionsorientierten Politik der Gewerkschaften, die die Zuwachse<br />

gerade steigern, aber gtinstiger umverteilen will. Demgemii8 heillt es 1926,<br />

wie auch schon 1918/19:<br />

"Jeder Rationalisierungsschritt ist eine Strecke auf dem Wege der Rtickkehr zm Konsumwirtschaft,<br />

allerdings in groBkapitalistischen Organisationsformen, doch ohne groBkapitalistischen<br />

Geist und ist folglich ein grof3es StUck Sozialisierung. Ein jahrtausendealter Traum der Arbeiterklasse<br />

wird somit in Erftillung gehen." (38)<br />

An dieser "Sozialismusvorstellung" wird fatal deutlich, daE, gleiche Betriebs-/ ArbeitsverhaItnisse<br />

und -inhalte, die kapitalistisch forrnbestimmt sind, in eine sozialistische<br />

Gesellschaft projiziert werden, die sich nur noch durch einen hoheren Grad an gesellschaftliche'r<br />

Organisation und Verfligung auszuzeichnen scheint; eine flir den Produktionsarbeiter<br />

kaum tiberzeugende nichtkapitalistische Perspektive seiner Lebensform,<br />

denn eine sozialistische Gesellschaft mu£ auf einer insgesamt veranderten Produzententa<br />

tigkeit aufbauen als diejenige, wie sie der Produzent unter der Privilegierung<br />

des Kapitals auszuliben gezwungen ist (39).<br />

An die negativen Arbeitserfahrungen kntipfte der Nationalsozialismus ideologisch<br />

geschickt an. Er gab das Versprechen ab, in einer neu bestimmten volkischen<br />

Arbeitswertlehre Arbeit zu entmaterialisieren, ohne es freilich einl6sen zu wollen<br />

und zu konnen auf der unverandert kapitalistischen Grundlage.<br />

Die Abstraktion von den Charakteristika der kapitalistischen Produktionsweise<br />

- der Mehrwertproduktion, dem Doppelcharakter der Arbeit, der Warenproduktin<br />

als ihr bestimmendes Moment - fiihrte, wie deutlich wurde, zur vereinseitigten<br />

Bestimmung des Produktionszwecks: der Bedarfsdeckung, und zu einer tiber Erfah-<br />

155


ungen verdichteten Lohntheorie, die ihren Kaufkraftkern ebenso gesamtwirtschaftlich<br />

wie nicht interessenspezifisch orientiert war;d. h. indem sie an der Verteilungssphare<br />

der Zuwachse ansetzte, muBte sie umfassend dazu fiilirende Prozesse<br />

innerhalb der kapitalistisehen Produktionsweise "blind" untersfutzen. Die Gewerksehaftmuillte,<br />

wie es auch zeitgenossisch bezeichnet wurde, Produktionspolitik betreiben<br />

und forderte sie aueh so, wie Paul Kampffmeyer es 1925 besehreibt; ,,Heute<br />

weitet sich entsehieden der Kreis der Gewerkschaftspolitiker, denen die uberragende<br />

Bedeutung der Produktionspolitik fUr die gesamte Lage der arbeitenden Klasse<br />

Deutsehlands aufgegangen ist '" Al1e ... Methoden zur Steigerung der Produktion<br />

sind eingehend und sachlieh auf einem Gewerksehaftskongreill zu diskutieren .. , Es<br />

ist hohe Zeit, daB die Gewerksehaften die bewuBten Forderer und energisehen Mehrer<br />

der Wirtschaft werden." (40) Eine Interessenidentitat bestand nafurlich nicht,<br />

wie es die gescheiterten Verhandlungen uber MaBnahmen zur Wiederankurbelung<br />

der Wirtschaft zwischen Gewerkschafts- und Arbeitgeberspitze 1930 deutlich zeigte<br />

(41).<br />

2.2.3. F ehlende gewerkschaftliche EigenaktivWitundSymptomorientierungder Plane<br />

Die Forderungen der Gewerkschaften in der Krise wie auch die Plane zm Arbeitsbeschaffung<br />

zeichnen sich, wie an den wichtigsten Merkmalen gezeigt, vomehmlich<br />

dadurch aus, daB sie von den Erscheinungen der Krise (42) ausgehen, diese als Symptomatik<br />

innerhalb gesetzma6iger kapitalistiseher Produktionsweise und damit als<br />

Erscheinungsform der Produktionsverhhltnisse verstehen und die Symptome nicht<br />

mehr auf der Grundlage einer ausgearbeiteten Methode der Gesellschaftsanalyse bearbeiten.<br />

Verstarkt wird diese "Symptomorientierung" noch dadurch, daB die Gewerkschaften<br />

als proletarische Stiitzpunkte gerade in der Krise auf ihre Schutzfunk­<br />

Hon der Interessen deT organisierten Lohnabhangigen unmittelbarer verwiesen werden,<br />

als es z. B. bei einer politisch benachbarten Partei wie der SPD der Fall ist.<br />

Gleichzeitig mussen sie dabei aber lire relative Schwache erfahren. Die objektiv geschwachte<br />

Position gegeniiber dem Kapital, z. B. durch eine hohe Arbeitslosigkeit,<br />

der damit verscharft einsetzenden Konkurrenz der Arbeiter untereinander und die<br />

leichtere Senkung des Reproduktionsniveaus etc. sowie die tiberwalzung der Krisenlasten<br />

insgesamt auf die Lohnabhangigen wird aber noeh in unserem Falle bei den<br />

Gewerkschaften erheblich verstarkt durch den tradierten Reformismus in der deutschen<br />

sozialdemokratischen Arbeiterbewegung; er erschwerte auch eine relative Distanz<br />

zu Teilen der SPD politisch/ideologisch. Dieser Reformismus hat sich ohne<br />

eine politisch durchsetzungsfahige Gegnerschaft bis 1918 besonders in den Prosperitatsphasen<br />

der okonomischen Entwicklung herausbilden k6nnen und systematische<br />

Unterstutzung in den theoretisch und praktisch maBgebenden Gruppen der<br />

Freien Gewerkschaften und der SPD gefunden. Die von uns bisher herausgearbeitete<br />

Tendenz der Abkehr von urspriinglichen gewerkschaftlichen Prinzipien findet ihre<br />

F ortsetzung in der Burgfriedenspolitik, der Arbeitsgemeinschaftspolitik im ersten<br />

Weltkrieg, der Rationalisierungspolitik und den gewerkschaftspolitischen Merkma-<br />

156


"entschiedenen Nein" beantworten kann, weil er davon ausgeht, der Krisenherd in<br />

kapitalistischer Produktion und Verteilungsei tiber monetare staatliche Konjunktursteuerung<br />

derart eindammb ar, dat1 ,,Annut kein okonomisches MuB ist" und als<br />

"soziale Krankheit ... im Rahmen kapitalistischer Wirtschaft ohne Zweifel geheilt<br />

werden kann" (47).<br />

Wenn wir hier unsere bisherige Analyse der "arbeitsorientierten Wirtschaftspolitik"<br />

(48) der Freien Gewerkschaften in der Krise zur Beantwortung der eingangs<br />

gestellten Frage heranziehen, ob die Gewerkschaften auf die Krise reagierten und in<br />

ihr agiert haben mit einer veranderten aktiven Wirtschafts- und Sozialpolitik, oder<br />

ob sie, in ihrer reformistischen Tradition befangen, diese lediglich auf die besondere<br />

Situation auf den ,,Arbeitsmarkt" hin konkretisierten, so legt es }lnser Material nahe<br />

zu sagen, dat1 selbst nach dem offensichtlichen Scheitern der flir"die Strategielegung<br />

grundlegenden Theorie des "Organisierten Kapitalismus" und der "Wirtschaftsdemokratie"<br />

in der okonomischen Krise sowohl die sehr spat ausgearbeiteten Krisenplane<br />

der Freien Gewerkschaften zur akuten Bekiimpfung sozialpolitischer Folgen<br />

der Depression als auch das auflangerfristige Wirkung angelegte Programm des "Urnbaus<br />

der Wirtschaft" bestimmt waren von den Kernelementen oben genannter Theorieblocke<br />

und allerhochstens. eine Konkretisierung - wie in der an tizyklischen Konjunkturpolitik<br />

- erfuhren. Der Reformismus als Politik der deutschen Arbeiterbewegung<br />

in der Krise zeichnete sich damit sowohl praktisch in dem Fehlen gewerkschaftspolitischer<br />

Eigenaktivitaten wie theoretisch durch die Unfahigkeit aus, eine<br />

auf die Realbewegung bezogene und mit transforma torischen Elementen verkntipfte<br />

illusionsfreie Politik zu entWerfen und urnzusetzen. Die von den Freien Gewerkschaften<br />

im Krisenverlauf zunehmend an den Staat adressierten bekannten wirtschaftspolitischen<br />

Gegenwartsforderungen sind in keinem entscheidenden Gedanken-<br />

und Begrtindungszusammenhang auf die Krisenzusammenhange hin neu bezogen<br />

worden. Eine notwendige Entwicklung der Betriebsstrategie und der Arbeitsorganisation<br />

konkret lebendiger Arbeit, die die "Produzentenrolle" als soziales Konstitutionselement<br />

politischer Erfahrungen als Ausgangspunkt nimmt, wurde damit<br />

endgilltig abgedrangt (49). Sie orientierten sich an den Symptomen, ohne tiberhaupt<br />

Erfolgskriterien flir die MaBnahmen angeben zu konnen. Sie reichten daher nicht<br />

einmal hin, die politisch, okonomisch und sozial zerstorerischen Krisenauswirkungen<br />

zu mildern bzw. die Krisendauer apzuktilZen. Insofern konnen die Arbeitsbeschaffungsprogramme<br />

der Gewerkschaften auch nicht die Intention realisieren, tiber<br />

eine staatliche Wirtschaftspolitik die Politik an die Bewegungen der Okonomie wieder<br />

anzupassen. Nichtsdestoweniger wurden sie alle, einschlieBlich der Arbeitsbeschaffungsprogramme<br />

und der Geldschopfung, besonders aber die "Umbauforderungen",<br />

von den FreienGewerkschaften immer noch aus ihren sOt:ia1istischen Theorien<br />

heraus in den illusionaren Zusammenhang einer nahenden sozialistischen Wirtschaftsordnung<br />

gestellt und propagiert.<br />

Sogar die Krise erfuhr 1932 noch eine entsprechende Interpretation: ,,Die<br />

okonomische Entwicklung hilft uns dabei zweifellos (gemeint sind die Einheit und<br />

Geschlossenheit der sozialistischen Bewegung herzustellen und die Grundlagen des<br />

demokratisch-parlamentarischen Systems zu erhalten, Th. H.), sie ftihrt zwangslau-<br />

158


ja das Mittel der Korrektur, und es muB erst durchgebissen werden," (53) Woytinsky<br />

trifft den dabei politisch zwieschHichtigen Punkt der SPD dann auch genau, wenn er<br />

ihr im Januar 1932 vorwirft, "daB sie auf den kapitalistischen Automatismus ihre<br />

Hoffnungen gesetzt und daher zur Bejahung der Preissenkung als eines natUrlichen<br />

Prozesses der Anpassung der Preise an die Wirtschaftsbedingungen der Krisenzeit<br />

neigen mui?lte." (54) Auch sein Hinweis, man mlisse auch deswegen intervenieren,<br />

well "der kapitalistische Krisenautomatismus", auf den die SPD setzt, offensichtlich<br />

versage, verfing nicht bei den sozialdemokratischen FOOrungsgru ppen, deren reformistische<br />

Evolutionserwartung einer besseren Zukunft sich unerschtiHerlich auf den<br />

1924 von Hilferding dargelegten und immer wiederholten Entwicklungsgang des Organisierten<br />

Kapitalismus verlieB, dessen innere Mechanismen und Regeln zu respektieren<br />

seien, wenn man von seinem Wachstum profitieren wolle. Auch bei tiber 6<br />

Mio. Arbeitslosen mahnte Hilferding den ADGB noch 1931 eindringlich, nicht in<br />

den ReinigungsprozeB der Krise z. B. tiber monetare MaBnahmen einzugreifen; zusammen<br />

mit Naphtali und P. Hertz ziililte er zu den wichtigsten Gegnem des WTS­<br />

Plans und verhinderte dessen ungebrochene Dbemahme in die SPD.Reichstagsfraktion.<br />

Die voneinander abweichenden Krisenstrategien von Gewerkschaften und Partei<br />

wurden irn Verlauf def Wirtschaftskrise an verschiedenen Punkten der ,,sofortprogramme"<br />

der Gewerkschaften immer wieder diskutiert, ohne daB die Sozialdemokratie<br />

in der Krise eine theoretische Verbindung hatte herstellen konnen zwischen<br />

ihrer zwar reformistischen, aber nichtsdestoweniger auf grundlegende Gesellschaftsveranderung<br />

abzielenden Programma tik und einem praktischen sozialen Reformismus,<br />

die frUhzeitig genug eine direkte Untersttitzung der ArbeitsbeschaffungsmaBnahmen<br />

der Gewerkschaft ermog!icht hatte.<br />

Unseres Erachtens hatte erst durch eine derartige Aktionseinheit die geringe<br />

und sich ausschliefllich auf F orderungen an den Staat beschrankende Strategie der<br />

Arbeitsbeschaffung des ADGB das werden konnen, was sie propagandistisch zu sein<br />

behauptete: eine massenhaft getragene offensive KampfmaBnahme mit dem Einsatz<br />

aller gewerkschaftlichen Machtmittel. Nur so hatten sie als Aktionseinheit mit der<br />

SPD auch auf die politischen F olgen dieser Krise verweisen und den Kampf gegen<br />

die Krisenlasten als Kampf gegen die sich abzeichnende faschistische deutsche Krisenlosung<br />

fOOren konnen.<br />

Das miihsame Ringen um eine KompromiMormel zwischen Partei und Gewerkschaften<br />

zur angemessenen Krisenstrategie angesichts des wachsenden sozialen<br />

Elends und des steigenden faschistischen Terrors vollzog sich dann auf gemeinsamer<br />

reformistischer Gr'.lndhlge zwischen den Polen der Tolerierungspolitik der Brlining·<br />

Regierung und dem antizyklischen Konjunkturprogramm zur Arbeitsbeschaffung.<br />

Ubereinstimmungen ergaben sich meistel1s in der allgemeinen Bestirnmung der<br />

Krisenursachen im Kapitalismus. Auch in der prinzipiellen Moglichkeit, soziale F 01gen.<br />

einer Krise abzuschwachen bzw. den Aufschwung direkt einzuleiten und den<br />

Abschwung zu mildern mit staatlichen Programmen, war man sich einig, nicht aber<br />

in def Frage der direkten Intervention in den Krisenverlauf. Die gerade in diesem<br />

Punkt hinhaltende Politik der SPD schlagt sich wahrend der Zeit der Bruning-Regie-<br />

161


untersfutzen ge1te, so wie sie im unmittelbaren Teil des Programms vorliege (59).<br />

Mit dieser "Wunschvorstellung", wie sie auch Grundlage des Umbauprogramms gewesen<br />

ist, hat sich der reformistische Tell der deutschen Arbeiterbewegung noch<br />

einmal kurz vor seiner gewaltsamen Zerstbrung durch die faschistische Diktatur (60)<br />

einen Bezugsrahmen fiiI Strategie und Taktik ersteilt, der sich weder hinreichend an<br />

den politischen Erscheinungen noch an einer Analyse def Bewegung der Reproduktion<br />

des Gesamtkapitals odentierte.<br />

Er baute stattdessen auf kurzschliissigen Pramissen auf und ruhte ideologisch<br />

in sich selbst. Die Berechtigung zum Aufschub des unmittelbaren Kampfes auf den<br />

Zeitpunkt des selbst erst erfolgreich einzuleitenden bkonomischen Aufschwungs,<br />

wo dann auch giinstigere politische und instrumentelle Bedingungen vorzufinden<br />

seien, konnte und wurde in diesem dualistischer des<br />

Umbauprogramms und hatte damit auch Anteil an der objektiven<br />

tulationsbewegung der organisierten reformistischen Arbeiterbewegung.<br />

Von einer alternativen wirtscha!tspolitischen Konzeption unter Verweis auf<br />

den zu reden (und zu agitieren), ware unseres Erachtens nur dann be·<br />

rechtigt gewesen, wenn gleichzeitig die Bedingungen machtpolitischer Durchsetzung<br />

in den Plan gleichwertig zu den 6konomischen "Spekulationen" aufgenommen WOfden<br />

waren; gerade das war nicht der Fall und machte den Plan zur (blutigen) Makulatur<br />

mit fatalen ideologischen Hoffnungen (61). Die weit verbreitete Wir,kung dieser<br />

Ideologie beruht allerdings grundlegend, ebenso wie ihre Entstehung, auf den<br />

Mystifikationen, die das Kapitalverhaltnis in seinen Bewegungsformen als politische<br />

Okonomie wieder produziert als notwendige Tauschung des Menschen und<br />

verfestigt. Damit ist aber nicht def Erkenntnischarakter dieses notwendig falschen<br />

Bewu£tseins bestritten, der sich in dem transzendentalen Schein der kapitalistischen<br />

Vergesellschaftung herausbildet; so gesehen ist das notwendig falsche Bewu£tsein<br />

konstitutives Bewu£tsein. DeI in diesem Zusammenhang oft parteipolitisch verwendete<br />

disziplinierende Begriff der "Uberwindung" im Sinne von Ersetzen durch "richties<br />

Bewu£tsein" steht quer zu einer sozialrevolutionaren Bewegung, die sich def<br />

Veranderung der Wirklichkeit verpflichtet hat. Uber den komplizierten sozialpsychologischen<br />

Wirkungsmechanismus ist allerdings damit noch nichts hinreichend gesagt;<br />

"falsches BewuBtsein" ersch6pft sich eben nicht mit dem Mystifikationsverweis<br />

.oder dem auf biographische, kulturelle "Brechungen" (62). Tatsachliche subjektive<br />

Kapitulationsneigungen und Unterwerfungsgesten reformistischer Gewerkdie<br />

aus Opportunitatsgriinden die Organisation auch glaubten retten zu<br />

miissen urn Preis def Suspendierung gewerkschaftlicher Prinzipiei(, sind daher<br />

auch vergleichsweise irrelevant gegeniiber dem BewuEtsein reformistisch orientierter<br />

Arbeitermassen in den Gewerkschaften, die den Aufschub des Kampfes gegen die<br />

nationalsozialistische Bewegung offensichtlich eingehaltenhaben. Bine relative Anfalligkeit<br />

der Arbeiter und Angestelltenbewegung fUr die Sinnstiftung und das Gluckversprechen<br />

der nationalsozialistischen Arbeitsideologie, dem Versprechen, die AIbeit<br />

zu entmaterialisieren und in einem neuen Arbeitsethos darf urn<br />

der autklarenden Verarbeitung willen mit zeitgenbssischem Bezug nicht geleugnet<br />

werden. Nicht nur die akute Krise 32/33 verstarkte die A ttraktivitat der nationalso-<br />

164


schaft anhand der Vorstellung, dutch verstarkte staatliche Eingriffe in die Privatwirtschaft<br />

sukzessive eine sozialistische Wirtschaftsordnung herzustellen; Arbeitsbeschaffung bedeutet<br />

daher auch eingestandenermal1en mehr als ein N otprogramm, wie es Tarnow aih Kongre13schlui),<br />

1932, Protokoll S. 87, auch ausdriickte. Zur ,,Achse" vgl. Stephan 1978 und<br />

Brauckmiiller/Hartmann 1978, S. 354 f.<br />

35 Zitat aus Metall-Arbeiter-Zeitung (MAZ), 38. Jg. 1930, Nr. 10 v. S. 3.1930 aus dem AItikel<br />

von F(ritz) K(ummer), "Das revolutionare Automobil", zitiert nach Stephan 1978,<br />

S. 284. Hier tritt grundlegend die Produktionsform als Natur und die rechtliche Formbestimmung<br />

als Geschichte auseinander; die kapitalistische Formbestimmtheit der technischen<br />

Entwicklung, de! Rationalisierung und der Arbeitsveranderungen im Produktionsprozef><br />

selbst werden nicht gesehen, sondern dem Kapital empfohlen, statt de! absoluten<br />

die relative Mehrwertproduktion breiter dUIchzufuhren. Vgl. Neusiif> 1978, S. 96, 100.<br />

35a Vgl. Hoff1978;Fassler 1979 zum Fordismus; SchOck 1977 passim<br />

36 So Tarnow iiber die "Grundidee" des Sozialismus in seinem Vortrag auf dem SPD-Parteitag<br />

Leipzig 1931; vgl. den A bdruck in: Brauckmiiller/Hartmann 1978, S. 393 ff., "Kapita1istische<br />

Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse".<br />

36a Einfluf>lose Ausnahmen publizierte der Verein fUr Sozialpolitik mit seinen lndustrie- und<br />

Betriebsstudien.<br />

37 Berlin 1926, S. 30 f.; dabei soIl ein Kartellaufsichtsamt nach ihren VorschHigen die Preispolitik<br />

im Interesse der Gesamtwirtschaft kontrollieren und bei Verst6f>en die Kartelle<br />

auch aufiosen konnen; es ist zu vermuten, dal1 die Kartellbildung als "besondere neue<br />

beherrschende Regulatoren 6konomischer Macht" eine Uberschatzung von seiten de! Gewerkschaften<br />

gewesen ist, v. a. wenn man ihre schwindende Effektivitat bis zum lautlosen<br />

Knall in den 30er Jahren betrachtet; dlese Vermutung ist m. W. in de. Forschung<br />

noch nicht bearbeitet worden. Vgl. dazuJiirgens, Ulrich 1978 undFassler 1979,S. 212 ff.<br />

38 Aus DA Nr. 4,1926; hier zitiert nach Linde 1932, S. 41<br />

39 Auch gerade unter diesem Aspekt sind die Analysen als zu ,grobschlachtig' zu kritisieren,<br />

die heu te wieder produktive von unproduktiver Arbeit mit dem (politischen) Ziel un terscheiden,<br />

den produktiven Arbeiter (Gesamtarbeiter) als Kernbereich/Trager der proletarischen<br />

Revolution bestimmen zu konnen; dieses dogmatische MarxveIstandnis deckt<br />

sich weitgehend mit der o. g. parteiorthodoxen revisionistischen Form/lnhaltstrennung<br />

pervertiert entleerter S ozialismusvorstellungen.<br />

40 Kampffmeyer: "DeI Produktionsgedailke in den Gewerkschaften", in: "Sozialistische<br />

Monatshefte", August 1925, S. 451, hier zitiert nach K6nig 1964, S. 146; vgl. auch auf<br />

gleicher Grundlage formulierte Gedanken ZUI "Wirtschaftsdemokratie" bei Naphtali et<br />

ai., passim, und bei Tarnow 1928, passim; weiterhin Huffschmid 1979, passim<br />

41 Siehe hierzu Kadritzke, N., 1974, S. 76<br />

42 Vgl. zur historischen Krisendiskussion Goldberg, 1. 1979, S. 158, Anm. 2; weiterhin:<br />

Deutschmann 1974, passim; Krise und Kapitalismus bei Marx, 1975, S. 459 ff.; Kratke,<br />

M., 1977, S. 477 ff.; Berger, J., 1979, S. 120 ff.<br />

43 bis 46 entfallen<br />

47 Tarnow 1928, S. 43 ff.<br />

48 So die unzutreffende, aberzeitgenossische Bezeichnung<br />

49 Abgedrangt bis zm gewaltsamen Auflosung der Gewerkschaften nach 1933, bis zm Militarisierung<br />

der Produktion und der Heroisierung der "Gestalt des Arbeiters" (vgl. :fiinger<br />

1932 und Speers Asthetisierung des nationalsozialistischen Un terwerfungsrituals) mit Unsterblichkeitsmythos<br />

im permanenten Opfergestus, wie ihn die Zyklopenbilderentwtirfe<br />

entlang der geplanten Autobali.nen bis zum Ural vorsahen; auch an diesem Anfangserfolg<br />

der nationalsozialistischen Sinnstiftungsideologie ist die organisierte Arbeiterbewegung<br />

nich t vollig un beteiligt gewesen.<br />

50 So Tarnow 1932 auf dem Gewerkschaftskongrel1 der Sattler, hier zitiert nach Heer 1971,<br />

5.128<br />

51 Woytinsky, 6/1931, S. 414; hier zitiert nach Schneider 1975, S. 136; ders. 1978, S. 220<br />

ff. und Dokumente, S. 256 ff.<br />

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1978, S. 259 ff., Dok. 280 ff., Bd. 2<br />

dies., Antifaschismus und Arbeiterbewegung; in: IWK 4/78, S. 480 ff.<br />

Hack, Lothar, Subjektivitiit im Alltagsleben. Zur Konstitution sozialer Relevanzstrukturen; Ffm,<br />

New York 1977<br />

Hahn, Thomas, Arbeiterbewegung und Gewerkschaften: eine Untersuchung-der Strategiebildung<br />

der ,Freien Gewerkschaften' auf dem Arbeitsmarkt am Beispiel des Kampfes gegen<br />

die Arbeitslosigkeit mit Arbeitsnachweisen und Arbeitslosenunterstiitzung bis zum Arbeitsbeschaffungsprogramm<br />

in der Wirtschaftskrise Deutschlands 1928 - 33; Diss. FU<br />

Berlin, 24. Juli 1977<br />

Hartwich, HR., Arbeitsmarkt, Verbande, Staat 1918 - 1933; Berlin 1967<br />

Heer, Hannes, Burgfriede oder Klassenkampf; zur Politik der sozialdemokratischen Gewerkschaften<br />

1930 - 33;Neuwied 1971 .<br />

Henkel, Martin/Taubert, Rolf, Maschinenstiirmer. Ein Kapitel aus der Sozialgeschichte des technischen<br />

F ortschritts. Frankfurt a. M. 1979<br />

Gewerkschaften und Rationalisierung; in: ,Meruwert', Nr. 15/16; Berlin<br />

J., oder politischer Krisenyzklus?; Ms FU Berlin, 8. 6.<br />

Hiillbusch, U., Die deutschen Gewerkschaften in in: Conze et al.<br />

Die S taats- und Wirtschaftskrise des deutschen Reiches 1929 - 33; Stuttgart 1968, S.<br />

- 154<br />

JUrgens, Ullrich, Selbsregulierung des Kapitals; Diss J;U, .Ms Berlin 977<br />

171


3. Gewerkschaften mtissen den sozialen Wandel erkennen und in ihrer Programma<br />

tik ,,sich nicht auf Punkte beschranken, die im engeren Sinne arbeitsrechtlicher<br />

N atur sind".<br />

Dartiberhinaus unterstrich Klaus von Beyme in der Diskussion noch einmal<br />

seine Warnung aus dem Referat VOT einer zu gro£en Orientierung der Gewerkschaften<br />

an der Sozialdemokratie. Gerade die auf europaischer Ebene gewtinschte Integration<br />

erfordere - wie die Problematik der Zusammenarbeit mit der franzosischen<br />

CGT zeige - eine Anerkennung des politischen Pluralismus.<br />

Zu Beginn der Podiumsdiskussion loste der Beitrag von Oskar Negt eine Kontroverse<br />

aus, die die gesamte Diskussion des letzten Tages bestimmen sollte. Negt<br />

meinte, daB trotz offenbarer Stabilitat der Bundesrepublik viele Indizien auf eine<br />

beginnende Gesellschaftskrise hinwiesen. Besonders von den Jugendlichen werde<br />

der "Sinn der Arbeit" infragegestellt. Die Gesellschaftskrise erfasse alle Lebenszusammenhange.<br />

Als ,,Menschenrechts- und Btirgerrechtspartei" seien die Gewerkschaften<br />

verpflichtet, auch auf diese Herausforderungen Antworten zu geben. In<br />

einem spateren Beitrag erinnerte Negt daran, daB auch in der Vergangenheit die Gewerkschaften<br />

nie blo£e Tarifpolitik betrieben hatten. Die Gewerkschaften haben<br />

sich sehr aktiv an dem Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und gegen die Notstandsgesetze<br />

beteiligt und so ein "Stuck zivilen Ungehorsams in der Gesellschaft<br />

zur Anerkennung gebracht." Auch in diesem Zusammenhang warnte Negt die Gewerkschaften<br />

davOT, den heutigen gesellschaftlichen Protest, wie er sich z. B. in der<br />

Antikernkraftbewegung auBere, nicht positiv aufzugreifen und zu integrieren.<br />

Die vor allem von Johannes GroB formulierte Gegenposition, der die Gewerkschaften<br />

VOT den "inkompetenten In tellektuellen" glaubte in Schutz nehmen zu<br />

mussen und die "gesamte Sinndiskussion" ein "Luxusproblem von Intellektuellen"<br />

nannte, stie£ allerdings auf die Kritik der meisten Diskussionsteilnehmer. Bei der<br />

Aufzahlung von Erfolgen der Gewerkschaften nach 1945 wurde zwar von fast allen<br />

Rednern das Lob der Einheitsgewerkschaft gesungen, zugleich aber auch, z. B. von<br />

Bernt Engelmann, auf die Gefahr der "gesellschaftspolitischen Neutralitat" hingewiesen:<br />

Die unterschiedlichen politischen Positionen mti£ten sich artikulieren durfen,<br />

ein ,,N eo-McC arthyismus", wie er beim VerOffentlichungsverbot der Antikriegsbroschtire<br />

der DGB-Jugend zum Ausdruck gekommen sei, sei auf langere Sicht das<br />

Ende der Einheitsgewerkschaft.<br />

In der Plenumsdiskussion am letzten Tag griff Hans Mommsen diese Kritik<br />

noch einmal auf Er wies auf die stetig wachsende "demokratiefeindliche Btirokratieverfassung"<br />

hin, die neben dem und der Sozialverfassung als ,,3.<br />

schleichende Verfassung" die gesellschaftliche Situation in der Bundesrepublik<br />

ge. Der DGB passe sich dieser Tendenz an und verstarke sie sogar. Auch im DGB sei<br />

die innerverbandliche Demokratie durch btirokratische Stabe gefiihrdet. Es mtisse eine<br />

Lehre aus der Geschichte sein, gegen den starken Trend zur btirokratischen Verden<br />

Aktionsraum fur Minderheiten im DGB zu urn zu<br />

bleiben.<br />

Neben diesen kurz skizzierten Kritikpunkten es nafurlich noch<br />

vor aHem kritische Empfehlungen an die die hier nicht alle aufge-<br />

178


ziihlt werden kbnnen. (Ein ausfiihrlicher Bericht tiber die Konferenz ist erschienen<br />

in: IWK Heft 4 (Dezemb er 1979), S. 614 - 626).<br />

Vetter versprach in seinem Schlu£wort, a1le Anregungen ernst zu nehmen und<br />

mit in die Diskussion urn das Grundsatzprogramrn einzubezieherr.<br />

Man wird seherr.<br />

Die Referate von H. H. Hartwich und K. v. Beyme sind in leicht veranderter bzw. gekiirzter<br />

Fassung abgedruckt in: Gewerkschaftliche Monatshefte 3, 1980, S. 158 -170 undS.<br />

184 - 200. 1m selben Heft der "Gewerkschaftlichen Monatshefte" ist auch ein sehr arnegender<br />

Aufsatz von Helga Grebing unter dem Titel "Gewerkschaften in der Gesellschaft"<br />

abgedruckt, in dem Helga Grebing ahnlich wie mehrere Redner auf der DGB-Konferenz<br />

die Verpflichtung der Gewerkschaften betont, zur Veranderung der Gesellschaft beizutragen,<br />

begriindet aus einem "aus den klassischen Arbeiterbewegungstraditionen bezogenen<br />

Gegenen twurf fUr eine ,nachindustrielle', fast schon: ,nachindustriekapitalistische<br />

Gesellschaft'. " Au eh wenn Gre bing vor "u bertrie benen Anf orderungen oder Erwartungen"<br />

mit Recht warnt, besteht sie darauf, "gesellschaftsveranderndes Handeln (der Gewerkschaften!)<br />

als historisehe Moglichkeit und Alternative zu begreifen im Sinne von Rosa<br />

Luxemburgs ,Sozialismus oder Barbarei'," Vgl. ebenda S. 157<br />

179


Hanna Levy-Hass, Tagebuch<br />

aus dem KZ Bergen-Belsen<br />

1944-1945<br />

Rotbuch 19J<br />

112 Seiten . 7 Mark (Abo 6)<br />

»Doch fUr deutsche Leser ist<br />

die Lekttire sicher wichtig,<br />

insbesondere wo man von<br />

dort Liberall hOrt, daB das,<br />

was ich zum Beispiel erlebt<br />

habe, alles Phantasie sei, wo<br />

man aus der Vergangenheit<br />

eines Mythos macht und behauptet,<br />

die Verbrechen<br />

. seien nicht geschehen, das<br />

sei alles bloB eine pathologische<br />

Vorstellung von<br />

Kommunisten und luden.<br />

leh gJaube, da hat ein Buch,<br />

das die Wahrheit sagt, seinen<br />

Platz.«<br />

Zur Dialektik von Antisemitismus<br />

und Zionismus<br />

Rotbuch 159<br />

144 Seiten . 8 Mark (Abo 7)<br />

Uber die jtidische Frage<br />

konnte hierzulande nach<br />

dem Versuch ihrer morderischen<br />

»Endlosung« im<br />

deutschen Faschismus noch<br />

nicht unverzerrt diskutiert<br />

werden. Isaac Deutschers<br />

Essays sind flir uns eine<br />

unerliiBliche Nachhilfe:<br />

Grundlage und AusgangsfUr<br />

die Diskussion<br />

Zionismus<br />

und den Nahostkonflikt.<br />

Erkundungen ins Hinterland del' Revolution<br />

Rotbuch 193 . 176 Seiten . 12 Mark (Abo 11)<br />

Die Sprache del' VerrLicktheit ist nicht mehr und nicht<br />

weniger als die VelWirklichung der Sprache. Unsere<br />

Warter beginnen den anderen zu berLihren, und darin<br />

liegt die Gerahrlichkeit der Verriicktheit: wenn sie ihre<br />

Wahrheit ausspricht.<br />

?<br />

Rotbuch 190 . 64 Seiten . 6 Mark (Abo 5)<br />

Jeder Wahn ist eine politische Aussage. Jeder Verrtickte<br />

ist ein politischer Dissident. .. Wenn wir uns, spontan<br />

und autonom, auf den StraBen und Miirkten bewegen, beginnen<br />

wir bereits, dissident zu sein, und laufen Gefahr,<br />

invalidiert zu werden. Die autonomen Tiitigkeiten<br />

erscheinen dem Zwangssystem als die gerahrlichste<br />

Drohung.<br />

Rotbuch 176 . 96 Seiten . 8 Mark<br />

Ein toter Vater wiire vielleichtiEin besserer Vater gewesen.<br />

Am bestenllst ein totgeborener Vater.llmmer neu<br />

wachst Gras tiber die Grenze. IDas Gras muB ausgerissen<br />

werden/Wieder und wieder das Liber die Grenze wiichst.<br />

Von der Endlosung zu ihrer Alternative<br />

Pamphlete und Essays<br />

Rotbuch 244 . 144 Seiten . 9 Mark (Abo 8)<br />

Diesen Texten ist ein LnOMAJJM"JLUO'UW<br />

"""""mu,,, def seit nun zehn Jahren in Auflasung hp


Krise des<br />

Marxismus?<br />

Bernd Rabehl<br />

. Geschichte und Klassenkampf<br />

. ,'Rotbuch 100<br />

192 Seiten . DM 8 (Abo 7)<br />

Rabehl versucht, im Riickgang auf die authentische<br />

Marxsche Theorie, die Probleme der Klassenkampfe<br />

aufzubereiten, ohne die Leser zu indoktrinieren.<br />

D. Rjazanov<br />

Marx und Engels<br />

nicht nur fiir Anfanger<br />

Rotbuch 105<br />

192 Seiten . DM 7 (Abo 6)<br />

Der Band enthalt leicht verstandliche, und doch un­<br />

. orthodoxe Vortrage, die der Revolutionarund Marxismusforscher<br />

Rjazanov in den friihen 20er lahren fUr<br />

junge Arbeiter hielt.<br />

UlfWolter<br />

Grundlagen des Stalinismus<br />

Rbtbuch 137<br />

144 Seiten . DM 8 (Abo 7)<br />

Wolter erklart, welche materiellen Ursachen die Verflachung<br />

des Marxismus hatte, welche soziale Funktion<br />

Ideologien erftillen und warum Elitetheorien in<br />

.det revolutionaren Bewegung ihren Platz linden<br />

kennen.<br />

Die Linke im Rechtsstaat II<br />

Bedingungen und Perspektiven<br />

sozialistischer Politik von 1965 bis heute<br />

Rotbuch 175 . DM 12 (Abo 11)<br />

Die BRD als Modell einer nachliberalen Gesellschaft /<br />

Ende des Wirtschaftswunders / Die Linken im Betrieb<br />

/ Krise des Linksradikalismus / Eurokommunismus<br />

und DKP / Krise des Marxismus - Krise der<br />

Linken u. a. Beitrage.<br />

Giuseppe Fiori<br />

Das Leben des Antonio Gramsci<br />

Biographie<br />

aus der Reihe<br />

272 Seiten . DM 25<br />

Gramsci formu.1.ierte in den 20er und 30er lahren weitsichtige<br />

neue Uberlegungen zu Fragen der Proletarischen<br />

Demokratie, zum Verhiiltnis von Faschismus.<br />

und Arbeiterbewegung und zur Moglichkeit einer<br />

sozialistischen Revolution gegen den entwickelten<br />

biirgerlichen Staat.<br />

M. A. Macciocchi<br />

Der franzosische Maulwurf<br />

Eine politische Reise<br />

aus der Reihe<br />

360 Seiten . DM 29<br />

"Wo ist Frankreich seit 68 stehengeblieben? Wohin<br />

geht es? Eingetaucht in die franzosische Realitat, habe<br />

ich meine Augen fUr ein ganz anderes Frankreicll<br />

geoff net, ein Frankreich voller Randzonen und Randgruppen."<br />

Otto Ullrich<br />

Weltniveau<br />

In der Sackgasse des Industriesystems<br />

Rotbuch207<br />

160 Seiten' DM 9 (Abo 8)<br />

Marxist Ullrich wirft dem Marxismus das VersaumniS<br />

vor, iiber die Kritik der ProduktionsverhaJtnisse keine<br />

Kritik an den kapitalistisch entwickelten Produktivkraften<br />

formuliert zu haben.<br />

T. NairnlE. HobsbawmlR. Debray 1M. Liiwy<br />

Nationalismus und Marxismus<br />

Ansto6 zu einer notwendigen Debatte<br />

Rotbuch 199<br />

128 Seiten . DM 8 (Abo 7)<br />

Die Beitrage behandeln das Doppelgesicht desNationalismus<br />

das in der marxistischen Diskussion noch<br />

langst nicht entschliisselt worden ist.<br />

Fernando Claudin<br />

Zukunft des Eurokommunismus<br />

Rotbuch 183<br />

160 Seiten . DM 9 (Abo 8)<br />

Claudins Verhaltnis zu den Eurokommunisten ist<br />

durch kritische Solidaritat gekennzeichnet, die auf<br />

eine strategische Einheit der europaischen Sozialistel1<br />

und Kommunisten zielt.<br />

jRotbuch Verlag<br />

1 .


von<br />

lIII"nH,pv Hausarbeit als theoretische einesEmanin:<br />

PROKLA Nr. 33, S. 89 ff.<br />

Die Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Lage der Hausfrauen 13£t die Bewegung<br />

,,Lohn fUr Hausarbeit" einen Vergleich mit der Sphare der bezahlten Berufstatigkeit<br />

anstellen, dem sie entnimmt, daE, die von den Frauen im Rahmen der burgerlichen<br />

Familie fiir die Reproduktion von Mann und Kindem verrichteten Tatigkeiten<br />

nicht entlohnt werden (1). Folgerichtig widmet man sich in diesen Kreisen der<br />

Aufgabe, (unter Berufung auf Marx) das erstrebte Gegenteil zu begriinden.<br />

Die Gemeinsamkeit alier theoretischen Anstrengungen, aus politokonomischen<br />

Kategorien die F orderung nach Zahlung von Hausarbeitslohn abzuleiten, besteht<br />

in der interessierten Dbertragung der in der Welt der bezahlten Berufstatigkeit<br />

herrschenden Bestimmungen auf den Bereich der familialen Arbeit. Bei einer de fartigen<br />

Betrachtungsweise wird jedoch davon abgesehen, daE, die Leistungen der Frauen<br />

fur die individuelle Reproduktion der Mitglieder der biirgerlichen Gesellschaft in<br />

der Privatsphare, im Rahmen der sozialen Beziehungen der biirgerlichen Familie erbracht<br />

werden, innerhalb defer die Gesetze von Markt, (Mehr-)Wert und Lohn gerade<br />

keine Geltung besitzen. Weder ist die Ehefrau Produzentin der Ware Arbeitskraft<br />

- sie tragt lediglich zm Produktion und Reproduktion des Arbeitsvermogens bei,<br />

ohne daE, ihre Tiitigkeit in dessen Wert einginge -, was man nicht zuletzt daraus ersehen<br />

kann, daE, der Verkauf dieser Ware durch ihren Eigentiimer seIber erfolgt.<br />

N och handelt es sich bei der arbeitsteiligen Verpflichtung der Ehepartner auf den<br />

Zweck der Familie urn den Verkauf von Giitern oder Dienstleistungen der Frau an<br />

den Mann urn den Preis der Partizipation an dessen Lohn. Vielmehr ist die Ehe ein<br />

auf der Gefuhlsbindung beruhendes, freiwillig eingegangenes okonomisches Abhangigkeitsverhaltnis<br />

auf Dauer, gestiftet und garantiert vom Staat, der anknlipfend an<br />

die Liebe zwischen Mann und Frau diese Beziehung in eine von wechselseitigen<br />

Unterhaltsverpflichtungen verwandelt und auf diese Weise fiir die Reproduktion der<br />

(lohnabhangigen) Mitglieder der biirgerlichen Gesellschaft "sorgt".<br />

Fur Manthey stellt sich der Zusammenhang zwischen Liebe, Ehe und<br />

genau umgekehrt dar:<br />

"Die gesellschaftliche Verleugnung der Hausarbeit lost die hergestellten personlichen Beziehungen<br />

von ihrer materiellen Basis, der Arbeit. Die Beziehungen erscheinen so nicht mehr als Ausdruck<br />

von Arbeit, sondem bieten - so verselbstandigt - die der d.h.<br />

die Erklarung der Funktionen aus die sen Beziehungen selbst. aus<br />

Liebe'" (S. 105)<br />

183


zahlten Dienstboten oder von Lohnarbeitern ill Soide von Kapital oderStaat geleistet<br />

werden. Aus def F alsifizierung derartiger Erklarungen fUr die Nichtbezahlung<br />

def Hausarbeit Hil1t sich freilich weder ein Argument ftirderen Bezahlung gewinnen<br />

noch gar auf diesem Wege der wirkliche Grund fUr deren Nichtvergiitung aus def<br />

Welt raumen. Dieser Grund findet sich wie schon ausgeftihrt in def der<br />

vom Staat gesetzten Institution def Ehe mitsamt den ihre Eingehung fordernden<br />

und lire Aufrechterhaltung sichernden okonomischen und rechtlichen Zwangen,<br />

die damr sorgen, daB die Reproduktionsleistungen auch nach dem Wegfall def Liebe<br />

unentgeltlich erbracht werden.<br />

Der Tatbestand, daB eine gesellschaftlich aul1erordentlich ntitzliche Tiitigkeit<br />

wie die def Hausfrauen unbezahlt erfolgt, entspricht durchaus der Logik def Ver"<br />

hiiltnisse, tut es doch der Ntitzlichkeit dieser Arbeit keinen Abbruch, dail, sie n."VH.:u<br />

und Staat Dichts kostet. Uberraschenderweise gelangtManthey zum gleichen Ergebnis<br />

(S. 1 womi t sie freilich ihrer gesamten bisherigen Argumentation, aus eben<br />

derselben Logik btirgerlicher Verhiiltnisse das Gegenteil, namlich die Zahlung von<br />

. Lohn abztileiten, nachtraglich den Boden entzieht (4). Aus dieser logischen Sackgasse<br />

bot sich Manthey, urn trotzdem an der Forderung nachHausarbeitslohn festhalten<br />

zu konnen, der Fluchtweg an, die Bezahlung def Hausarbeit als Aufiosung<br />

des von ihr in Anlehnung an Ludmilla MillIer konstruierten kapital-immanenten Widerspruchs<br />

zwischen Niitzlichkeit und Unentgeltlichkeit (5) und damit (1) als antikapitalistische<br />

Perspektive zu deklarieren (S. 95). Wodurch sie sich freilich derNotc<br />

wendigkeit ausgesetzt sah, ausgerechnet in def Subsumtion eines Lebensbereiches<br />

unter die Lohnarbeit eine gegen das Kapitaiverhaltnis gerichtete Tendenz entdecken<br />

zu mussen:<br />

"Der antikapitalistische Charakter der strategischen Konsequenz wird nicht in einer Ablehnung,<br />

sondem im Gegenteil in einer Anerkennung der Hausarbeit durch die dieser Gesellschaft entspre,<br />

chenden Form, das Geld, gesehen. Geld als sichtbarer Ausdruck von Arbeit kann entsprechend<br />

de! Analyse nicht bedeuten, auch die Arbeit qualitativ zu akzeptieren, denn eine Distanzierung<br />

von der Arbeit setzt ja deren Wahmehmung als Arbeit iiberhaupt voraus; das Geld stellt gleichzeitig<br />

die materiellen Moglichkeiten, die Ablehnung de! Arbeit und mit ihr verbundene A bhangigkeitsverhiiltnisse<br />

auch praktizieren zu konnen". (S. 95)<br />

Mit anderen Worten: Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung muB erst materiell<br />

"aufgewertet" werden, damit die von ihr Betroffenen zu lirer Aufhebung schreiten<br />

kannen.<br />

Urn letzte noch verbleibende Zweifel am antikapitalistischen Charakter def<br />

Bewegung "Lohn fUr Hausarbeit" auszuraumen, stellt Manthey die Lohnforderung<br />

in den Zusammenhang einer tibergreifenden Emanzipationsperspektive, in der sich<br />

die Verlohnarbeiterung def Hausfrau als Erganzungssttick zur herkommlicherweise<br />

propagierten Emanzipationskonzeption der Einbeziehung der Frauen in die Berufstatigkeit<br />

anbietet (8. 115). Ihre 8kep.sis gegentiber den an die def Frauen<br />

in den geknupften Hoffnungen hindert sie def<br />

ebenfalls prinzipiell emanzipatOlische zuzuschreiben. Von dem "<br />

... v."' .... "V<br />

mentaren def weiblichen unterscheiden sich<br />

die lediglich dadurch, daB sie den Hausfrauen den Umweg .<br />

185

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