Blogtexte2021_1_12
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Wenn wir nicht mit diesen lustigen Gasteltern
zusammen waren (das Essen wurde
tatsächlich erst auf dem Teller gewürzt, und
am Bus standen alle brav in einer Schlange
an), unternahmen wir in Gruppen einiges mit
Kröger und Frau S. Die Englischlehrerin der
Parallelklasse „d“ war natürlich mitgefahren.
Vor allem eine Sache, die ich damals nur am
Rande registrierte, kommt mir heute wieder
in den Sinn. Nicht nur die englische Lebensweise
in der Gastfamilie war ganz anders als
zu Hause. Es gab auch etliche Ausflüge, etwa
nach London. Dort machten wir an verschiedenen
Stationen Halt und lernten die Briten
und ihre Besonderheiten kennen.
Ich kann mich an einen kurzen Aufenthalt
am Speakers’ Corner erinnern. Was damals
daran faszinierte, kann von jungen Menschen
heute nicht ansatzweise nachempfunden
werden. Es gab kein Internet, nur so viel
zur Erklärung.
# (…). Von diesem Glanz sei heute nur noch
wenig übrig. Zwar trete
hin und wieder mal ein
Mitglied der Sozialisten
auf, so Lewis. Die
großen Parteien und
Politiker jedoch scheuen
Speakers’ Corner seit
Jahren. „Die Ecke hat
nicht mehr die Relevanz
wie früher. Seitdem die
Religiösen das Zepter
in die Hand genommen
haben, ist sie zu einem
Ort für Fanatiker und
krude Verschwörungstheorien
geworden“, so
Lewis. (Welt – „Genau
genommen ist das
ein absoluter Freak-
Zirkus“, Veröffentlicht
am 22.07.2015, Florian
Schmidt, London).
Als Kreativer habe ich mit den Jahren lernen
müssen, dass Grafik zu schaffen, Bilder zu
malen oder Illustrationen anzufertigen
Kommunikation bedeutet. In gewisser Weise
ist mein Lebensweg durch ein früh zutage
getretenes Talent vorgezeichnet gewesen.
Meine individuelle Sprache, das eigene Bild?
Schon als ganz kleines Kind fiel ich auf,
anders zu sein: Begabt. Ich bin in der Folge
gar nicht umhin gekommen, Entscheidungen
zu treffen, wie ich diese Fähigkeit in meine
Existenz integrieren kann. Meine Auffassung
auf welche Art und Weise ich damit umgehen
möchte, kreativ zu produzieren, hat sich
insgesamt gewandelt.
Nach den Anfängen, aus dem Talent mithilfe
fundierter Ausbildung einen Beruf zu
machen, musste es weitergehen. Es zeigte
sich bald, dass die Frage: „Wem nutzt es?“
zu stellen ist. Schon in der weiterführenden
Schule am Steinhauerdamm in Hamburg, die
uns mit einem Fachabitur die beschränkte
Hochschulreife ermöglichen sollte, lehrte
uns meine liebe Klassenlehrerin Angelika
das theoretische Grundmodell. (Die könnte
ich, glaube ich, noch wo mit dem normalen
Apparat anrufen, und deswegen fehlt sie ein
wenig weniger).
Kommunikation bedeutet, jemand sendet,
andere nehmen Inhalte auf, und dann
kommen noch weitere Parameter dazu. Die
psychologisch relevanten Bausteine können
je nach Sektor der tatsächlichen Anwendung
dargestellt werden. Der Werbung, beim
wissenschaftlichen Vortrag, Radiosendung
oder Theatervorstellung, dem Konzert mit
Publikum und bei vielem mehr gereicht
das bekannte Modell seine Struktur.
Diskussionen auf der Arbeit und Themen
in der Familie werden so wissenschaftlich
beleuchtet, mit der vielseitigen Infografik
erklärt. Die ästhetisch motivierte Botschaft
einer Abbildung beinhaltet darüber hinaus
den Eigenwert künstlerischer Ausgestaltung
eines Themas. Die ungewöhnliche Sprache
des Gestalters: mehr als tausend Worte und
dergleichen.
# Zwitschern
Was heißt das, kommunizieren? Moshe
Feldenkrais, der oben skizzierte Lehrer eines
speziellen Bewegungstrainings, geht an
einer Stelle im Buch „The Potent Self“ davon
aus, dass die Kontrolle des Menschen, der
beginnt laut mit sich selbst zu reden, ungenügend
ist und hier möglicherweise
eine krankhafte
Änderung im Selbst ihren
Anfang nimmt. Wehret den
Anfängen! Kommunikation,
die erkennbar nicht bei einem
Rezipienten ankommt,
sei krank, nimmt der
bekannte Verhaltenstrainer
an. Stimmt das?
Der Drang zur Kunst.
Feldenkrais publizierte
seit den vierziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts.
Zu der Zeit, und als
ich jung gewesen bin, in
den Achtzigern, wäre uns
eine entgegenkommende,
mit sich selbst redende
Person auf dem Gehweg
unterwegs, unstrittig als krank erschienen.
Heute ist das ganz normal, nur dass diese
Menschen per Headset oft kaum erkennbar
anderen wichtige Nachrichten senden: „Bin
jetzt am Bus und gleich bei dir.“ Das ist nicht
krank, das ist nun nur normal. Es muss immer
irgendwo ein zuhörendes
Gegenüber sein,
dann ist zu reden legal.
Glaube dran, dass das,
was du zu sagen hast,
irgendwo ankommt:
Bete deine Gebete, iss
rote Bete und pflanze
Blumenbeete.
Inzwischen ist es leicht,
mithilfe eines aufgeschnappten
Namens
und Bildersuche im
Netz die unglaublichsten
Künstler kennenzulernen.
Da sind ganz
bestimmt einigermaßen
unbekannte Könner unterwegs. Sie werden
nie Millionen am Markt machen. Auch nicht,
wenn sie einmal gestorben sind. (Wenn ich
tot bin, wirft meine Familie alles weg. Davon
bin ich überzeugt).
Das bringt mich gelegentlich dazu, die
Frage nach dem Wert eines Bildes anders
zu stellen. In meinem Wohnzimmer hängt
kein Druck, sondern die jeweiligen neueren,
von meiner Frau akzeptierten Bilder, die ich
gemalt habe. Die anderen sind im Dachgeschoss,
das meine liebe Gattin vermeidet,
allzuoft aufzusuchen. Die selbstgestellte
Frage muss sein, inwieweit ein Bild gerade
mir, dem Schaffenden nützt? Das sei auch
anderen geraten, die staunen, wie viel ein
echter „Picasso“ oder „Van Gogh“ einbringt
– wem denn? Es mutet mir, dem quasi Kollegen,
seltsam an, den zu bedauern, der es
in seinem doofen Unglück richtig fand, sich
das Ohr abzusäbeln. Vielleicht war das nötig
für ihn, wie sich welche heute ritzen? Etwas
merken: Er lebte ungewöhnlich.
Noch heute bewundern manche den Trompeter
Chet Baker, der nicht wenigen Zeitgenossen
als verschmutzter Junkie galt (der
auch Musik machte). Das starke Motiv, ein
Leben lang zu malen oder der Trompete intelligente
Töne
zu entlocken an
sich, bleibt ein
Geheimnis, das
der Konsument
mit Geld nicht
kaufen kann. Wie
will ein solcher
wissen, wer hier
der Unglückliche
sei?
# Gewöhnlich
doof
Nun gibt es
Menschen, die
ein Tagebuch
führen, das sie nur selbst gelegentlich lesen.
Dies mag dem Modell einseitiger Kommunikation
ohne schnelle Rückkopplung die
gesunde Variante bieten, den Weg (und das
Verständnis, wie Kunst zu begreifen ist)
weisen. Das könnte den leicht zu begreifenden
Eingang in das Selbst zeigen, erklären,
wie wir eigentlich schaffen. Einfach gegen
die Wand zu reden oder im Club Leute zu
bequatschen, die nicht wirklich zuhören und
auf einer Straße ins Nirgendwo unterwegs,
im Wahn zu rezitieren, mag krank sein.
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 93 [Seite 84 bis 94 ]