Blogtexte2021_1_12
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Zeitungen. Die wie
alltäglich gekauften
Brötchen haben wir
als Vesperpaket mit
zur Fahrt auf die
schöne Ostseeinsel
ins Auto genommen.
Das Sortiment der
vormals regionalen
Bäckerei ist neu, wurde nach dem Verkauf
der Geschäfte auf deutschlandweiten Industriestandard
umgestellt. Während Lunchpakete
vom „Mildenberger“ in Backnang, wo
wir auch hinreisen (das ist bei Stuttgart),
eine Bahnfahrt lang frisch bleiben, altbackene
Brötchen von „Börke“ auf Fehmarn prima
sind – hier breche ich ab.
Ganz gewöhnliche Brötchen möchte ich
essen.
Auf der Megaraststätte „Ostseeblick“, die gerade
vom Verkehrsminister Andreas Scheuer
als bester „Rastplatz der Zukunft“ eingeweiht
wurde, kamen wir nach kurzen
zwei Stunden an. Wir probierten die
mitgenommenen Baguette, Dreikornkrustis
und Dinkelknacker mit Käse
und Wurst belegt zu essen. Das waren
ungenießbare Schwämme. Wir haben
alles weggeworfen. Die hatten nicht
ansatzweise vertrauten Brötchengeschmack.
Die Dinger schmeckten nach
gar nichts. Zäh zu beißende Gummifasern
mit Käse. Ich begriff: Lebensmittelersatzprodukte
erzeugen warm
aus dem Ofen kommend den Eindruck
wohlduftender Brötchen. Ein „Dreikornkrusti“
kostet fünfundneunzig Cent!
Billie hat recht: Ich gehöre zu den
Idioten. Aber nicht wegen der Impfverweigerung.
Weil ich noch Morgen für Morgen
dieses Zeug fresse.
# Feldenkrais
Seit den Neunzigern
beschäftigt mich ein auf
den Körper und die Motive
unseres Verhalten bezogenes
Training, das ich aus
Büchern, in Gruppen- und
Einzelstunden entsprechender
Angebote kennengelernt
habe. Es ist sinnvoll,
diese intelligenten Ideen
publik zu machen, kreativ
weiterzudenken. Ich möchte
Gelerntes individuell
kommunizieren: Künstler,
anderweitig Aktive wie wir,
die auf eine mehrjährige
Ausbildung in der Methode,
sie qualifiziert zu lehren verzichtet haben,
interpretieren diese Erfahrungen aus ihrem
eigenen Blickwinkel. Geschult im Weitergeben
durch Berührung und mit gesprochenen
Anweisungen, sich koordiniert in entsprechenden
Lektionen zu bewegen, helfen weltweit
vernetzt Lehrer, die ungewöhnlichen
Anleitungen zu verstehen und einen eigenen
Weg zu gehen. Eine gute Sache.
„Lebe lieber ungewöhnlich“, heißt eine
bekannte Filmkomödie, die ich tatsächlich
nie gesehen habe. Die Story hat vermutlich
nichts mit dem hier zu tun, aber das ist dabei
herausgekommen; mein Leben ist nicht
gewöhnlich. Der Titel gefällt mir! Auf dem
Boden liegen und sich einfach bewegen,
hilft. Ein gewöhnliches Leben ist geschenkt.
Zu scheitern, ohne zu begreifen wieso,
wird zu einer lohnenden Aufgabe, wenn
Erkenntnisgewinn die Bedingungen
verbessert.
Krankheiten mögen unser Leben bestimmen;
bei mir und über mich herrschte
die Angst? Das wusste ich nicht. Eigentlich
ist das keine Krankheit. Erst der Arzt,
den die Überforderten hinzuziehen, verewigt
die Probleme und macht sie zu seiner
Berufung. Ein Patient ist kein selbstständiger
Mensch mehr. Und eine Diagnose ist
eine Schublade. Von Angst wird nicht gern
geredet, und ich habe gelernt, dass auch der
Fachmann die Dinge nicht versteht. Viele
Namen ein und derselben Sache machen
es nicht einfach. Medikamente möchten
die Qual vermeiden machen (und die böse
Schwester Aggression). Der Arzt fürchtet
die Angst des Patienten und der Arme wird
nun doppelt gebunden. Das hat man mit mir
gemacht.
Alptraum. Ein böser Geist ergriff von mir
Besitz. Die finsterste Macht verzauberte
mich auf die Abmessungen von Gulliver,
aber nicht in das Kapitel mit den Liliputanern.
Der Kleine sollte ich sein? Überriesen
hatten gegen die Liebe gewonnen. Eine Fata
Morgana der glücklichen Zukunft hatte sich
als solche entpuppt. Dem war nichts entgegenzuhalten:
Ich wurde in eine Kommode
gedrückt, hinterste Schublade unten. Mein
Leben schien zu Ende. Es wurde dunkel, als
der Mann mit dem weißen Kittel kam, und
die Lade mit mir darin zugeschoben wurde.
Dann knallte (frech) noch kurz ein Buch
hinein, und das war es. „Das starke Selbst“,
Moshe Feldenkrais.
Schwierig, im Dunkel einer Kiste zu lesen, in
der du gefangen bist. Das schwache Selbst:
Sich zu fürchten, ist gelegentlich normal.
Das war bei uns nicht gern gesehen. Tempo
und Fröhlichkeit mussten sein. Das „reiß
dich zusammen“ prägte die Zeit nach dem
Krieg, wo es aufwärts ging und alle sich zu
verkaufen lernten. Wir begriffen nicht wie
man es macht, nur was zu tun sei. Heute ist
es nicht besser. Zwischen modern geschiedenen
Eltern, Geschwistern und manchen
Matzen, ziehen wir fröhlich mutige Fratzen.
Autodidakten wissen oft nicht, „wie“ sie
etwas tun. Manche üben lange, bis sie bemerken,
sich nur zu wiederholen, ohne dass
eine Sache voran geht.
Das Training, das ich meine? Wir nennen die
Übungen lieber Lektionen, um zu betonen,
dass nicht die Geläufigkeit an sich das Ziel
ist, sondern die Erweiterung von eingeschlagenen
Wegen. Die Beobachtung „wie“ etwas
geht, möge wichtiger genommen werden, als
was es sei.
Das ist nicht Gymnastik à la Qi. Frauen
auf einer Lichtung im Wald! (Ein Mann ist
immer dabei). Sie schauen angestrengt auf
die (konzentrierte) Leiterin, während sie
mühsam ein Bein heben, lauschen krampfgewohnt,
alles ganz richtig wie gesagt zu
machen und möchten doch loslassen? Es
geht anders. Wir folgen keinesfalls dem
Tempo eines Chingdong nach dem Motto:
„Einatmen jetzt eins, zwei, u-und drei!“
Man benötigt den Guru nicht und keine
Räucherstäbchen, kann es zu Hause allein
auf dem Fußboden anwenden oder im Alltag
draußen unterwegs. Das soziale Miteinander
Gleichgesinnter ist dabei nicht vonnöten.
Mich würde es inzwischen auch definitiv
stören.
# Orthopäden kennen keinen Kopf
Mitbewerber zocken ab. Was braucht es das
Hirn, wenn der Körper zickt: „Mein Rückenbuch“,
Medizinprofessor Grönemeyer. Der
Rest vom Doktor tut ihm nicht weh, und
wenn es doch passiert, wir lassen morgens
den Arsch einfach im Bett! Sprüche wie:
„Ein starker Rücken kennt keine Schmerzen“
(Kieser Training) oder plakative Videos,
versehen mit einem roten Pfeil in Richtung
eines bestimmten Muskels der Protagonistin
in Sportkleidung: „Hier musst du dehnen!“
(Liebscher und Bracht), erscheinen billig,
wenn man gelernt hat Unterschiede wahrzunehmen.
Lieber drüber gähnen, als dehnen …
Der Initiator der nach ihm benannten Methode,
die ich erlernte, selbst anzuwenden,
Moshe Feldenkrais, vertrat die Auffassung,
Erziehung und Selbsterziehung wären der
Schlüssel dazu, wie sich ein Mensch entwickelt.
Das Verhalten als dynamische Spur
durch die Zeit zu betrachten, machte der
(eigentlich: Physiker) Trainer seiner Methode
zum Ansatz, Schüler und sich selbst Beweglichkeit
zu lehren. Körperliche Blockaden
aufzulösen, war ihm vor allem ein Mittel,
die Möglichkeit zu schaffen, beweglicher zu
denken.
Es geht
bei diesem
Training
nicht ums
Turnen
in einer
Gruppe,
dabei
verklärten
Ideen
anzuhängen
oder artistisches Ballett für jedermann
zu ermöglichen. Wir folgen nicht der Lehre,
richtig zu atmen. Wem es typisch ist, in den
Bauch zu atmen, kann begreifen, alternativ
den Brustkorb zu weiten, und die daran
gewöhnt sind, ihren Unterleib flach zu halten,
lernen Zwerchfellatmung. Die mit dem
geraden Rücken verstehen sich zu biegen,
andere, sich besser aufzurichten. Es geht uns
nicht darum, hübsch zu gehen. Wir glauben
daran, dass Flexibilität sich gut anfühlt. Die
Erfahrung, leichter voranzukommen und
durch Schmerzen geleitet, bald den Weg in
weniger davon zu gehen, überzeugt diejenigen,
die es gewohnt sind, sich anzustrengen,
weil es uns immer gesagt wird. Wir möchten
nicht andere Gedanken, streben besser an,
das Gehirn an sich umzuschreiben, wie etwa
die vom Schlag Getroffenen es müssen,
wenn sie wieder gehen lernen. Die Höchst-
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 91 [Seite 84 bis 94 ]