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Blogtexte2021_1_12

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# Tunnelblick ist die Regel

Statt beschwingt großzügig und mit Hoffnung

den Tag anzugehen: Konzentration

wird empfohlen, der Fehler wird isoliert. Ein

Mensch ist selbst ein Fehler, der nicht glücklich

tut? Wir dürfen nicht wüten

oder unsren Hass verbalisieren?

Fluchen ist fein. Ich „hasse“

gern, voller Glück darüber, dass

ich’s mir erlaube. In einem Büro

mit anderen? Da könnte ich

nicht arbeiten. In einer Partei?

Da könnte ich nicht dazugehören.

Mich kickten die Genossen

schneller raus als jeden Wendler

anderswo. Du bist schuld,

dass wir den Shitstorm kriegten?

Verpiss dich.

Das Ganze verliert derjenige, der gern beschuldigt,

leicht aus den Augen. Viele sind

sich sicher, dass Donald Trump schuld sei

am Chaos in den USA. Dabei zeigt der Präsident

nur die konzentrierte, hässliche Fratze

etwa der Hälfte einer Gesellschaft wie

eine Reflexion. Jetzt können sie es glücklich

rauslassen: „Der Präsident ist steinreich und

ein ungeliebter Prolet, er ist wie wir!“ Er ist

das Spiegelbild seiner Wähler.

Er spricht aus, was eine Hälfte

der Masse denkt und lebt

es vor. Es nützt kaum, ihn zu

beschuldigen. Das bedeutet

ganz viele zu ignorieren und

ist gefährlich kurzsichtig, zentrierte

Blindheit. Das korrekte

Deutschland, unsere alte SPD

will so gut steinmeiern: Es

ist typisch für die Reste einer

einstmals großen Volkspartei,

mit dem Finger auf den Schuldigen

zu zeigen.

Aber es ist gefährlich blind.

Isoliertes, zentriertes Denken kleiner Kerne

wird von der nach vorn trabenden Masse des

großen Ganzen überrannt. Jedem Dorf seine

eigene Verwaltung, Schwimmbad, Kino, Stadtwerke?

Die Entwicklung geht in eine andere

Richtung. Größere Strukturen sind nötig, um

weltweit im Konkurrenzkampf standzuhalten.

Wir sehen es am Tageblatt, das sich immer

mehr zur Nord-Gesamtzeitung hin verallgemeinert:

„Rohrbruch in der Hauptstraße“

wird unter Lokales

berichtet. Das war

einmal die Seite

„Schenefeld“ in der

Zeitung, die ihren

Titel „Schenefelder

Tageblatt“ noch trotzig

behalten hat, ein

Fake ist das. Das ist

nur noch das allgemeine

Blatt rundherum

um Pinneberg, Elmshorn und über

Wedel-Schulau bis hin nach Norderstedt, in

dem im großen und ganzen dasselbe berichtet

wird, und das ist doch schon dem Titel

nach eine „Lügenpresse“.

Drei Exemplare noch davon.

Sie liegen bei meinem Bäcker aus. Eines davon

kaufe ich an jedem Morgen. Ich muss

wirklich ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert

sein, dass ich das mache und noch

nicht begriffen habe was modern und richtig

ist. Wer wohl die anderen beiden Idioten sind,

die dieses Blatt (noch) lesen? Wenn die Medien

sich abschaffen und gleichermaßen darauf

pochen wie wichtig sie sind, muss es auch

Leser geben, die diese Informationen kaufen

möchten. Das scheint nicht der Fall zu sein.

Die Schuldfrage verläuft beim unbefriedigenden

Ergebnis im

Sande, dass es eine

beiderseitige Entwicklung

geistiger

Verarmung ist.

Nicht nur die Vogel-

und Tierarten

dünnen aus, unsere

Fähigkeit zu Empathie

und natürlich

motivierter Handlungsfähigkeit

sind

ernsthaft gefährdet,

jedenfalls was die breite, zivilisierte Masse

betrifft. Sie verliert ihre zivile, geschulte Qualität

zu leben und nähert sich dem Brei einer

Gesellschaft aus ständig kämpfenden Legionären

an, wie etwa der Islamische Staat das

Modell dafür hergibt. Es scheint, der christliche

Staat, in dem niemand noch in eine

Kirche geht, ist nicht besser. Wir sind die, die

um das goldene Kalb tanzen, während Moses

die Runen in den

Stein gräbt, die er

uns als Gottes Wort

glauben machen

möchte, wenn er vom

Berg zurück kommt.

Wir entlarven ihn so

schlau: „Das hast du

doch selbst geschrieben,

da ist kein Gott

auf dem Berg, Spinner!“

Und dann sitzen

wir alle ums Kalb

rum und jammern,

weil rundherum Wüste ist? Diese Vergangenheit

ist unsere Zukunft. In eine goldene Tasse

kann ich noch Wasser tun, wenn ich keinen

Palast habe, auf einem goldenen Kalb reitet

niemand in sein gelobtes Land.

# Der Rohrbruch war direkt vor unserer Haustür

Es stimmt wohl, wenn das Tageblatt schreibt:

„25 Minuten später war der Stördienst schon

vor Ort; Hamburg-Wasser (…).“ Es gab kein

Foto von unserer Straße hier im Dorf. Stattdessen

ein „Symbolbild: IMAGO“. Tageblatt-

Autorin Cindy Ahrens war jedenfalls nicht vor

Ort, um etwa mal ein Bild zu schießen. Die

mir aus Backnang vertrauten Straßen einer

Baden-Württemberg typischen Umgebung

illustrieren den Rohrbruch vor meiner Haustür?

Ich durfte sehen wie „irgendwo“ das Wasser

einen Kanaldeckel hob. Wieder gut informiert.

Sonst hätte ich mir das ja gar nicht

vorstellen können. Gut, dass ich nur wenige

Meter zu laufen hatte, um die Scheiße vor der

Tür „in echt“ zu erleben. Und aufs Klo für das

nötige Geschäft? Ging ich in die erwähnte

Bäckerei. Ich mag diese Leute, systemrelevant

sind sie. Fragen kostet

nix, und hundert Meter weiter

war das Rohr reibungslos abführfähig

bei voller Spülung. In der

Mühlenstraße stand alternativ der

Wasserwagen der Hamburger. Mit

einem Eimer ausgestattet, hätte

ich mir meine Spülung auch dort

abholen können. Die Hardware zuhause

war ja nicht betroffen.

Hamburg-Wasser schaffte es bis zum Mittag,

alles wieder in Ordnung zu bringen.

Danke dafür.

Ich bin Mathias Schmitz auf dem Wochenmarkt

begegnet: „Ich habe gegen deine

Stadtwerke gestimmt“, brüskierte ich ihn beherzt

mit einem Affront, während wir beim

Käse anstanden. Eine zunehmend lebhafte

Diskussion entspann sich. Er drehte auf: „Die

Wähler hätten die doppelte Verneinung nicht

begriffen, er sei das Opfer der Fragestellung

(oder wir zu dumm?) und alles würde

uns teuer zu stehen kommen.“ Schmitz wiederholte,

alle größeren Gemeinden hätten

Stadtwerke, warum wohl? Als er seinen Käse

bekam, musste ich wählen, diskutieren oder –

hinter mir warteten andere. Ich habe mich für

Gouda entschieden, mittelalt, eine gute Wahl.

Mein persischer Käsefreund und ich, wir können

noch lustig sein, albern. Nicht umhin kam

ich zu bemerken, wie unser Wortwechsel einige

in der Umgebung anregte, schmunzelnd

daran teilzunehmen, wie unser oberster, grünerster

Weltretter vom Dorf sich in Rage geredet

hat. Es sind eben nicht nur die Vögel,

die zwitschern, habe ich gedacht. Das ganze

Drumherum, wir nehmen es wahr, und es wird

unser Tun beeinflussen.

Meine Meinung, meine Wahl – oder ich enthalte

mich. Es lebe die Demokratie. Ein guter

Moment zu begreifen, wie das Glück in

erfolgreicher Abgrenzung vom Umfeld und

zielführender Auswahl möglicher Handlungen

besteht. Einer will es grün, der andere

schwarz, rot oder bürgernah eingefärbt.

Der Künstler malt.

Der Bäcker backt das Brot.

Der Käsemann verkauft den Käse.

Es ist beileibe nicht so, dass mein Wille

geschehe (oder seiner) und ich deswegen

glücklich bin, sondern dass ich den besten

Weg zwischen den ganzen Menschen (und

Vögeln und sonstigem Getier, Gesträuch und

Marktständen) finden kann im Moment. Oder

eben nicht. Bewusstheit ist allemal besser,

als ein starker Wille, mit dem man voll wie

gegen eine Mauer prallen kann.

Die Vögel zwitschern:

„Hast du’s (nicht) gesehen?“

:)

Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 9 [Seite 7 bis 9 ]

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