Blogtexte2021_1_12

03.01.2022 Aufrufe

langjähriger Erfahrung der Menschheit, diesich erinnern kann, zu begreifen. Corona istein kollektives Problem, aber nur ein überschaubaresRisiko für den Einzelnen. DiePandemie bedroht die Systeme insgesamtin einem nie gekannten Ausmaß. Aber deneinzelnen Menschen nur dann, wenn erdavon direkt betroffen ist und sich ansteckt.Bei derzeit achttausend Neuinfektionen ineinem Land mit achtzig Millionen, hieße das,einer von zehntausend wird mir gefährlichpro Tag. Dazu kommt die Unwahrscheinlichkeit,sich direkt in dessen Aerosole hineinzubegeben.Und dann kann es noch einenmilden Verlauf bedeuten, symtomfrei sogar,wenn man diese Krankheit wie nebenbeibekommt. Da kann kein Drosten eine sichereVorhersage machen. „Wer sich nicht impfenlässt, wird sichinfizieren“, sagtdieser Virologe.Bei einer Impfquotevon gut derHälfte der Bevölkerungdauert esein ganzes Jahr, bisjeder verbleibendeDussel Coronagehabt hat, wenn sich (…) pro Tag infizieren.Ich habe mich das gefragt, denn der Chefmahnerspricht vom heißen Herbst, den wirbekämen. Ich mag falsch liegen. Zu rechnenist nicht meine Stärke. Ich denke für uns so:Etwa zweiunddreißig Millionen Deutsche,die Ungeimpften, müssten sich mit circaeinhunderttausend Infizierten an der Zahl(täglich) anstecken, um nach knapp einemJahr deutschlandweit damit durch zu sein.Als Vergleich mag die Not im Iran, einemLand, der Zahl nach in vergleichbarer Größedienen. Eine Meldung der Tagesschau vomAnfang des Monats macht deutlich, dassbereits bei knapp der Hälfte täglicher Infektionendavon, der Staat und seine Einwohneran ihre Belastungsgrenze kommen.# Fast 40.000 Neuinfektionen im Iran. Nochnie seit Beginn der Pandemie war die Zahlder Neuinfektionen und der Corona-Totenim Iran so hoch. Die Delta-Variante bringtKrankenhäuser an Kapazitätsgrenzen. DieImpfkampagne kommt nur schleppendvoran. (Tagesschau, 08.08.2021).Über zwei Millionen Verkehrsunfälle nimmtdie Polizei pro Jahr in Deutschland auf. Indiesem Winter werden wir zwei Jahre mitder Pandemie gelebt haben. Dann sindetwa vier Millionen von uns damit alsinfiziert in der Statistik geführt. Eine guteVergleichszahl, um für sich selbst das Risikoeinzuschätzen. Mankann sich fragen,wann der letzteUnfall mit einemFahrzeug irgendwomit den eigenenAugen beobachtetwurde, ob manselbst daran beteiligtwar und wieviele Personen imBekanntenkreis mitCovid infiziert sindund wie schwer?Die breite Bevölkerungsmehrheitin Deutschland ist durchCorona nicht in Angst und Schrecken zuversetzen, wohl aber dadurch, dass ihnen sozialeNachteile entstehen. Sie möchten dasgewohnte Lebenführen, deswegengibt es die Bereitschaft,dem Staat zufolgen, der das Impfenanmahnt. DielebensbedrohlichenUmstände auf denIntensivstationenbeherrschen nunkein Medienportalmehr.Ärzte werden noch immer gezeigt, und eswird weiter gewarnt. Patienten und Angehörigeklagen aber nicht mehr, wie anfangs inder Pandemie. Weder aus Indien oder sonstwo im Ausland, noch bei uns. Betroffenetauchen selbst in den Nachrichten gar nichtauf. Eine Drohkullisse der Fachleute steht,denn der Herbst stünde vor der Tür: „DieMenschen im Krankenhaus und auf denIntensivstationen würden jünger und seienungeimpft“, mahnt ein Arzt. Aber ein jungerPatient oder Angehörige, Freunde, die unsglaubwürdig versichern könnten, wie furchtbardieser Schock für ihre Familie wäre,erscheinen gerade nicht vor der Kamera.Klammer auf: (Das Tal der Aussätzigen.„Ben Hur“, daran denke ich oder „dieSchwulenseuche“, eine nicht mehr erlaubteBezeichnung für die HIV-Erkrankung aus denAchtzigern. Schon immer fürchteten sichMenschen vor dem qualvollen Tod, und nichtweniger davor, mit der Schuld bezichtigt zuwerden, andere mit der Übertragung ihrerKrankheitserreger zu gefährden.Covid?Natürlich haben sich die Bewohner derAltenheime gern durchgeimpft. Die Alten zuHause haben sich geradezu überschlagen,schimpften ganzseitig in der Bild, auf dieUnfähigen, die alles verkehrt organisierthätten, die nicht funktionierende Hotline.Opa und Oma regten sich über diejenigenauf, die ihnen mittels digitaler Windhundsoftwarezuvorgekommen waren, wollten alserste einen Termin im Impfzentrum bekommen.Inzwischen sind in unserem Land dieallermeisten Senioren vollständig geimpft.Das hat die Lage merklich entspannt.Die Senioren werden aber weiter sterben,wenn nicht an dem neuartigen Virus, danneben an anderem. Und die Gesellschaft hatdamit ein Problem, dass überhaupt Altein nie dagewesener Zahl versorgt werden– müssen. Es kommt ab meinem Alter, ichnähere mich bereits der Sechzig an, dasBewusstsein auf, selbst von der „Krankheit“zu altern bedroht zu sein. Ich sehe mitSchrecken die vielen „Betroffenen“, die miteinem Rollator unterwegs sind. Nicht wenigekenne ich, die noch vor einigen Jahren agilherumspazierten und ihr Rentnerlebengenossen haben. Ich war in den letzten Jahrenoft im Altersheim, im Hospiz, als meineEltern erkrankten, gepflegt werden musstenund schließlich starben. Das kam nicht inder Tagesschau. Obwohl ich nicht mehr vorOrt bin und einen Bogen um diese Einrichtungenmache wie früher, als ich jung war,wird dort weiter gelitten. Ich weiß das underinnere mich jeden Tag mit ganz eigenenBildern daran.Das Sterben der durchdas Rauchen am Lungenkrebserkrankten Menschenwird nicht gefilmt.Die letzten Tage einesAidskranken zeigen dieNachrichten nicht. Nichtwenige beschuldigenHomosexuelle bis heutedafür, welche zu sein,weil sie sich selbst vorgleichgeschlechtlichemSex ekeln würden, und weil es ihnen gefällt,sich über andere zu erheben. Raucher werden,besonders wenn sie an Krebs erkranken,angefeindet. Menschen, die aufgrund vonFettleibigkeit oder übermäßigem Alkoholgenusskrank werden, schließlich auf einerIntensivstation sterben, sehen wir kaumeinmal in einem Bericht.) Klammer zu.Leicht finden sich dagegen authentischeFlutopfer.Die reden erschüttert über ihr Unglück, undmüssen nicht herbeigeredet werden. Wirsehen im Fernsehen die Not von Menschen,die bei der Flutkatastrophe im Ahrtal allesverloren haben. Da wird ein Zahnarzt inseinerzerstörtenPraxisgezeigt.Der BehandlungsstuhlundsämtlichesInventarerinnerngeradenoch anmedizinisches Gerät, während die Helferinund der alte Doktor resigniert aufräumen,so weit das geht. Alles ist mit braunemSchlamm überzogen. Er hätte vorgehabt,sagt der Geschockte, die Rente noch zuverschieben und einige Jahre Arbeit als dervertraute Arzt seiner Patienten zu leisten,daraus würde nun nichts.Eine Frau steht auf einer wie gepflügt wirkendenFreifläche. Hier habe bis vor ein paarTagen ihre Bäckerei gestanden. Das wäreeines der Häuser gewesen, die komplettabgerissen werden mussten, berichtet diefrustrierte Chefin einiger Mitarbeiter. Siezeigt uns ein Foto und hofft mit finanziellenHilfen auf den Neubeginn.Die Flut kam so plötzlich! Alles verloren:Ein Mann klopft Dachbalken vom erstenStock weg, soweit das aus dem Erdgeschossseiner ehemaligen Werkshalle eines kleinenHandwerksbetriebes Sinn macht. Es gehtdarum, herauszufinden, ob dieses Hausbleiben kann. Unten erkennt man die eingeschlammtenKonturen zerstörter Maschinen.Menschen entsorgen ehemals wichtigesArbeitsgerät in einen Container. ZerstörteExistenzen ganz normaler Zeitgenossen wiedu und ich.Auch die abgedeckten Häuser von Großheide,ein umgestürztes Fahrzeug und eineTrümmerlandschaft wohin das Auge blickt,nach dem Tornado vor wenigen Tagen,machen deutlich, dass es ganz normaleMenschen in furchtbarer Not gibt. Nicht zureden von den dramatischen Bildern undden Berichten von jungen Frauen, Familien,Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 86 [Seite 84 bis 94 ]

die es gerade noch zum Flughafen in Kabulgeschafft haben. Das ist echtes Weh, wenneine Betroffene von ihren Todesängstenspricht. Und unser armseliger Außenministerstammelt rum im feinsten Zwirn.Drei Beschreibungen von Angst machender,aktueller Not einfacher Mitmenschen. Diegezeigten Afghanen sprechen deutsch wiewir.Wo sind Bilder von aufgebrachten Nachbarn,Familienangehörigen oder Freunden, denenNahestehende fehlen, weil sie gerade anCovid gestorben sind oder schwerkrank aufeiner Intensivstation liegen? Zu diesemThema hören wir Politiker, Virologen undÄrzte, aber es gibt keine Schilderungenpersönlich Betroffener, wie wir das schonhatten. Solange die echte Not für Leib undLeben derart ist, wie etwa ein Bericht hierund da von einer schweren Karambolage aufder Autobahn, ein beklagenswerter Todesfallauf der Baustelle – ein Arbeiter geriet untereine umfallende Betonplatte – steht dieArgumentation im Vordergrund, Schüler zuimpfen und ob das Druck ausübe. Man fragt,was Luftfilter in der Klasse nützen könntenund mehr dieser Art.Das mag deutlich machen, wie sehr wir einsystemisches Problem ausleben. Wir sindnicht krank und flächendeckend in Gefahr,infiziert dahinzusiechen. Wir haben einProblem, uns so zu organisieren, dass wir alsStaat und Gesellschaft insgesamt funktionieren.Natürlich sind vier Millionen Betroffenemit einer bislang nicht bekanntenErkrankung furchtbar viele einzelne Schicksale.Deswegen kann man aber durchausrealisieren, dass ohnehin Menschen sterbenoder mit etwas Schlimmen krank sind. Dasbemerken wir solange nicht, bis diese imBegriff „Corona“ vereint genannt werden.Gemessen an der Gesamtzahl der Einwohnerunseres Landes, reicht es nicht aus, alle inPanik zu versetzen, weil die persönlichenBerührungspunkte mit diesen Covid-Schicksalenkaum anders sind, als würden wir inder Zeitung von einem schlimmen Geschehensonst wo lesen. „Drei Menschen starben“,steht in irgendeinem Zusammenhang ineiner Nachricht.# Und wir lesen darüber hinwegDie vier Millionen, die bereits in Deutschlanderkrankten, fallen in dieser primitivgerundeten Statistik nicht auf. Das ist dieZahl Einwohner, um die ich unser Landauf achtzig Millionen verkleinerte. Sichersind so viele Kranke bemitleidenswerteSchicksale. Menschen sterben, und das istschlimm. Schlimmer wäre, niemand würdesterben. Wie voll wäre Planet A dann? GretaThunberg hätte vielfache Not der SorteUmweltprobleme, die sie nicht müde wird,uns zu erklären. Natürlich wird man sich mitdem Gedanken beschäftigen müssen, derjeweils Betroffene zu sein. Das muss jederselbst für sich entscheiden, das Haus nochzu verlassen, weil ja vielfach Gefahr drohtvon irgendeiner Bedrohung und derjenigewelcher zu sein, diese abzubekommen. Damitdieser Herbst die angedrohte Not einerfurchtbaren Infektionszeit bekäme, in dersich sämtlich die nicht Geimpften infizierten,müssten die täglichen Neuinfektionen einVielfaches der oben genannten Zahl voneinhunderttausend am Tag erreichen. Daswird nicht passieren.Es kann nur bedeuten, dass Corona nochjahrelang bleiben wird, möglicherweise fürimmer. Eine kalte Ewigkeit lang. Ein heißerHerbst wird es in jedem Fall im Krankenhaus.Gefahr besteht sehr wohl. Es drohtein Lockdown, weil die Intensivstationenkollabieren, Ärger für die Verantwortlichen.Den schwarzen Peter wird man derRegierung zuschieben, die Politiker hättennicht dazugelernt. Die Virologen sind feinraus, wenn sie jetzt bereits mahnen, dass wiruns impfen lassen müssten. Und schließlichwird, mehr noch als neuerdings, der Zornüber Menschen wie mich hereinbrechen, die(verstockte) Impfverweigerer sind. Deswegenist der Versuch, die Pflicht zur Impfungpolitisch zu erzwingen nachvollziehbar. Dasist aber solange äußerst problematisch, wiedie reale Gefahr für den Einzelnen unscharfbleibt. Der Marktplatz in Burg auf Fehmarnsieht aus, wie immer, wenn wir hier Urlaubgewesen sind. Das ist ein friedliches Treibenbunter Massen.Wir haben Pflegenotstand,und das nichterst, seitdem wir in derPandemie leben. Niemalskann es gelingen, dasseine ganze Nationgeschlossen solidarischan einem Strang ziehenwird. Ein nicht unerheblicherTeil bockt. Ich selbstblockiere gern, aus Wutüber diese Frau in dersozialen Partei, die michverarschte. Kein rationalüberzeugender Grund, natürlich, und auchkein guter. Ich setze mich dem persönlichenRisiko aus, aber mit mir werden gut zwanzigProzent der Bevölkerung (wir Idioten) stumpfdagegen halten, wenn der Staat mahnt.Wenn mich, weil es der blöde Zufall will, einfremdes Auto abrammt, kann ich sterben.Wenn ich der eine bin, der sich (von denZehntausend, denen ich kaum am Tag begegne)heute auf Fehmarn infiziert, kann ichsterben. Wenn ich von einem Alien entführtwerde, weiß ich nicht, was das bedeutet. Dassind so Wahrscheinlichkeiten.Fehmarn ist wahrscheinlich so normal wiealles andere auch. Das gefährliche Lebenkann hier ganz real nachempfunden werden.Die Aliens sind selten, aber es kracht schonmal. Ich habe so Unwahrscheinliches nichtauf der Insel erlebt. In Burg auf Fehmarnist es reizvoll für mich, in der Hauptstraßezu hocken und etwa das Rathaus zuzeichnen. Nicht isoliert, was auch schönwäre, weil es hübsch dasteht und architektonischinteressant ist. Ich möchte dasTreiben der Touristen vor den Geschäftenund die geparkten Fahrzeuge mit in meinerSkizze haben. In der Nähe von Edeka,Café Junge und dem griechischen Restauranthocke ich auf einer kleinen Treppe,die mit drei Stufen den Eingang zu einemprivaten Haus darstellt. Ein Zierbaum mitüberschaubarer Krone von nur knapp dreiMetern Höhe und schmalen Stamm stehtzu meinen Füßen. Er gibt ein wenig Schutz,falls der leichte Niesel wieder einsetzt.Das ist nur eines der Probleme, wenn mandraußen skizziert.Zweimal, während ich zeichne, kommtdie Post. Einmal ist es ein Paketbote. Erklingelt, niemand öffnet, und vermutlichhat er irgendwo eine Benachrichtigunghinterlassen. Der normale Postbote kommteinige Zeit später. Er stellt einfach zuund wir reden nicht. Ich zeichne, und derjunge Mann nimmt mich kaum wahr. SeineProfessionalität gleicht dem Kollegen vonHermes oder was es vorhin war. Ich habenicht darauf geachtet. Ich konzentriere michauf die Autos, Menschen und das Rathaus,ob ich abbrechen muss wegen Feuchtigkeit.Für einige Minuten pausiere ich tatsächlichzu zeichnen, weil ich nicht möchte, dassdas Buch mit den Skizzen (von jetzt dreiJahren auf Fehmarn im Sommer) durchfeuchtet.Dann mache ich weiter, und nacheiniger Zeit, so etwa einer knappen Stundeherumhocken, bin ich fertig. Während dieserEpisoe in meinem Leben, sind massenhaftMenschen vorbei gegangen. Wenig davonhabe ich in die kleine Skizze mit hineingenommen.Es kam tatsächlich zu einem Verkehrsunfall.Das habe ich nicht richtig sehen können,aber hören. Es war aus meiner Perspektivelinks von mir, vonFahrzeugen verdeckt,zu einemleichten Crashbeim Parken aufder steilen Schrägegekommen.„Oh Gott!“ oderdergleichen hatteeine Frau gerufen,als ein Geräuschzu hören war, dasan das Zerknüllenvon Pappkartonserinnerte, nur etwas kraftvoller, lauter. Ichbeobachtete einen VW-Transporter, derschon älterer Bauart, mich an das Fischautoerinnerte, wie meine Eltern es für ihr Geschäftnutzten. Von meiner Position aus warnur der obere Teil des Fahrzeugs erkennbar.Ich sah eine kastenförmige Plane hintenund den Teil vorn, wo man sitzt und lenkt.Das ragte über die Buckel davor geparkterPkw. Ich glaube, es war ein roter Transporter.Dieser Bulli sackte nun, nach dem Blechschaden,einige Zentimeter rückwärts denHang runter, um dann unvermittelt erneutvorzuhupfen! Da krachte es wieder, als dasDing sich an der selben Stelle in einenanderen verbissen hatte. „Oh Gott. Nochmal!“, rief die Passantin. Die Leute standeninzwischen in einer kleinen Gruppe undgestikulierten. Es war aber außerhalb derAug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 87 [Seite 84 bis 94 ]

die es gerade noch zum Flughafen in Kabul

geschafft haben. Das ist echtes Weh, wenn

eine Betroffene von ihren Todesängsten

spricht. Und unser armseliger Außenminister

stammelt rum im feinsten Zwirn.

Drei Beschreibungen von Angst machender,

aktueller Not einfacher Mitmenschen. Die

gezeigten Afghanen sprechen deutsch wie

wir.

Wo sind Bilder von aufgebrachten Nachbarn,

Familienangehörigen oder Freunden, denen

Nahestehende fehlen, weil sie gerade an

Covid gestorben sind oder schwerkrank auf

einer Intensivstation liegen? Zu diesem

Thema hören wir Politiker, Virologen und

Ärzte, aber es gibt keine Schilderungen

persönlich Betroffener, wie wir das schon

hatten. Solange die echte Not für Leib und

Leben derart ist, wie etwa ein Bericht hier

und da von einer schweren Karambolage auf

der Autobahn, ein beklagenswerter Todesfall

auf der Baustelle – ein Arbeiter geriet unter

eine umfallende Betonplatte – steht die

Argumentation im Vordergrund, Schüler zu

impfen und ob das Druck ausübe. Man fragt,

was Luftfilter in der Klasse nützen könnten

und mehr dieser Art.

Das mag deutlich machen, wie sehr wir ein

systemisches Problem ausleben. Wir sind

nicht krank und flächendeckend in Gefahr,

infiziert dahinzusiechen. Wir haben ein

Problem, uns so zu organisieren, dass wir als

Staat und Gesellschaft insgesamt funktionieren.

Natürlich sind vier Millionen Betroffene

mit einer bislang nicht bekannten

Erkrankung furchtbar viele einzelne Schicksale.

Deswegen kann man aber durchaus

realisieren, dass ohnehin Menschen sterben

oder mit etwas Schlimmen krank sind. Das

bemerken wir solange nicht, bis diese im

Begriff „Corona“ vereint genannt werden.

Gemessen an der Gesamtzahl der Einwohner

unseres Landes, reicht es nicht aus, alle in

Panik zu versetzen, weil die persönlichen

Berührungspunkte mit diesen Covid-Schicksalen

kaum anders sind, als würden wir in

der Zeitung von einem schlimmen Geschehen

sonst wo lesen. „Drei Menschen starben“,

steht in irgendeinem Zusammenhang in

einer Nachricht.

# Und wir lesen darüber hinweg

Die vier Millionen, die bereits in Deutschland

erkrankten, fallen in dieser primitiv

gerundeten Statistik nicht auf. Das ist die

Zahl Einwohner, um die ich unser Land

auf achtzig Millionen verkleinerte. Sicher

sind so viele Kranke bemitleidenswerte

Schicksale. Menschen sterben, und das ist

schlimm. Schlimmer wäre, niemand würde

sterben. Wie voll wäre Planet A dann? Greta

Thunberg hätte vielfache Not der Sorte

Umweltprobleme, die sie nicht müde wird,

uns zu erklären. Natürlich wird man sich mit

dem Gedanken beschäftigen müssen, der

jeweils Betroffene zu sein. Das muss jeder

selbst für sich entscheiden, das Haus noch

zu verlassen, weil ja vielfach Gefahr droht

von irgendeiner Bedrohung und derjenige

welcher zu sein, diese abzubekommen. Damit

dieser Herbst die angedrohte Not einer

furchtbaren Infektionszeit bekäme, in der

sich sämtlich die nicht Geimpften infizierten,

müssten die täglichen Neuinfektionen ein

Vielfaches der oben genannten Zahl von

einhunderttausend am Tag erreichen. Das

wird nicht passieren.

Es kann nur bedeuten, dass Corona noch

jahrelang bleiben wird, möglicherweise für

immer. Eine kalte Ewigkeit lang. Ein heißer

Herbst wird es in jedem Fall im Krankenhaus.

Gefahr besteht sehr wohl. Es droht

ein Lockdown, weil die Intensivstationen

kollabieren, Ärger für die Verantwortlichen.

Den schwarzen Peter wird man der

Regierung zuschieben, die Politiker hätten

nicht dazugelernt. Die Virologen sind fein

raus, wenn sie jetzt bereits mahnen, dass wir

uns impfen lassen müssten. Und schließlich

wird, mehr noch als neuerdings, der Zorn

über Menschen wie mich hereinbrechen, die

(verstockte) Impfverweigerer sind. Deswegen

ist der Versuch, die Pflicht zur Impfung

politisch zu erzwingen nachvollziehbar. Das

ist aber solange äußerst problematisch, wie

die reale Gefahr für den Einzelnen unscharf

bleibt. Der Marktplatz in Burg auf Fehmarn

sieht aus, wie immer, wenn wir hier Urlaub

gewesen sind. Das ist ein friedliches Treiben

bunter Massen.

Wir haben Pflegenotstand,

und das nicht

erst, seitdem wir in der

Pandemie leben. Niemals

kann es gelingen, dass

eine ganze Nation

geschlossen solidarisch

an einem Strang ziehen

wird. Ein nicht unerheblicher

Teil bockt. Ich selbst

blockiere gern, aus Wut

über diese Frau in der

sozialen Partei, die mich

verarschte. Kein rational

überzeugender Grund, natürlich, und auch

kein guter. Ich setze mich dem persönlichen

Risiko aus, aber mit mir werden gut zwanzig

Prozent der Bevölkerung (wir Idioten) stumpf

dagegen halten, wenn der Staat mahnt.

Wenn mich, weil es der blöde Zufall will, ein

fremdes Auto abrammt, kann ich sterben.

Wenn ich der eine bin, der sich (von den

Zehntausend, denen ich kaum am Tag begegne)

heute auf Fehmarn infiziert, kann ich

sterben. Wenn ich von einem Alien entführt

werde, weiß ich nicht, was das bedeutet. Das

sind so Wahrscheinlichkeiten.

Fehmarn ist wahrscheinlich so normal wie

alles andere auch. Das gefährliche Leben

kann hier ganz real nachempfunden werden.

Die Aliens sind selten, aber es kracht schon

mal. Ich habe so Unwahrscheinliches nicht

auf der Insel erlebt. In Burg auf Fehmarn

ist es reizvoll für mich, in der Hauptstraße

zu hocken und etwa das Rathaus zu

zeichnen. Nicht isoliert, was auch schön

wäre, weil es hübsch dasteht und architektonisch

interessant ist. Ich möchte das

Treiben der Touristen vor den Geschäften

und die geparkten Fahrzeuge mit in meiner

Skizze haben. In der Nähe von Edeka,

Café Junge und dem griechischen Restaurant

hocke ich auf einer kleinen Treppe,

die mit drei Stufen den Eingang zu einem

privaten Haus darstellt. Ein Zierbaum mit

überschaubarer Krone von nur knapp drei

Metern Höhe und schmalen Stamm steht

zu meinen Füßen. Er gibt ein wenig Schutz,

falls der leichte Niesel wieder einsetzt.

Das ist nur eines der Probleme, wenn man

draußen skizziert.

Zweimal, während ich zeichne, kommt

die Post. Einmal ist es ein Paketbote. Er

klingelt, niemand öffnet, und vermutlich

hat er irgendwo eine Benachrichtigung

hinterlassen. Der normale Postbote kommt

einige Zeit später. Er stellt einfach zu

und wir reden nicht. Ich zeichne, und der

junge Mann nimmt mich kaum wahr. Seine

Professionalität gleicht dem Kollegen von

Hermes oder was es vorhin war. Ich habe

nicht darauf geachtet. Ich konzentriere mich

auf die Autos, Menschen und das Rathaus,

ob ich abbrechen muss wegen Feuchtigkeit.

Für einige Minuten pausiere ich tatsächlich

zu zeichnen, weil ich nicht möchte, dass

das Buch mit den Skizzen (von jetzt drei

Jahren auf Fehmarn im Sommer) durchfeuchtet.

Dann mache ich weiter, und nach

einiger Zeit, so etwa einer knappen Stunde

herumhocken, bin ich fertig. Während dieser

Episoe in meinem Leben, sind massenhaft

Menschen vorbei gegangen. Wenig davon

habe ich in die kleine Skizze mit hineingenommen.

Es kam tatsächlich zu einem Verkehrsunfall.

Das habe ich nicht richtig sehen können,

aber hören. Es war aus meiner Perspektive

links von mir, von

Fahrzeugen verdeckt,

zu einem

leichten Crash

beim Parken auf

der steilen Schräge

gekommen.

„Oh Gott!“ oder

dergleichen hatte

eine Frau gerufen,

als ein Geräusch

zu hören war, das

an das Zerknüllen

von Pappkartons

erinnerte, nur etwas kraftvoller, lauter. Ich

beobachtete einen VW-Transporter, der

schon älterer Bauart, mich an das Fischauto

erinnerte, wie meine Eltern es für ihr Geschäft

nutzten. Von meiner Position aus war

nur der obere Teil des Fahrzeugs erkennbar.

Ich sah eine kastenförmige Plane hinten

und den Teil vorn, wo man sitzt und lenkt.

Das ragte über die Buckel davor geparkter

Pkw. Ich glaube, es war ein roter Transporter.

Dieser Bulli sackte nun, nach dem Blechschaden,

einige Zentimeter rückwärts den

Hang runter, um dann unvermittelt erneut

vorzuhupfen! Da krachte es wieder, als das

Ding sich an der selben Stelle in einen

anderen verbissen hatte. „Oh Gott. Noch

mal!“, rief die Passantin. Die Leute standen

inzwischen in einer kleinen Gruppe und

gestikulierten. Es war aber außerhalb der

Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 87 [Seite 84 bis 94 ]

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