Blogtexte2021_1_12
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langjähriger Erfahrung der Menschheit, die
sich erinnern kann, zu begreifen. Corona ist
ein kollektives Problem, aber nur ein überschaubares
Risiko für den Einzelnen. Die
Pandemie bedroht die Systeme insgesamt
in einem nie gekannten Ausmaß. Aber den
einzelnen Menschen nur dann, wenn er
davon direkt betroffen ist und sich ansteckt.
Bei derzeit achttausend Neuinfektionen in
einem Land mit achtzig Millionen, hieße das,
einer von zehntausend wird mir gefährlich
pro Tag. Dazu kommt die Unwahrscheinlichkeit,
sich direkt in dessen Aerosole hineinzubegeben.
Und dann kann es noch einen
milden Verlauf bedeuten, symtomfrei sogar,
wenn man diese Krankheit wie nebenbei
bekommt. Da kann kein Drosten eine sichere
Vorhersage machen. „Wer sich nicht impfen
lässt, wird sich
infizieren“, sagt
dieser Virologe.
Bei einer Impfquote
von gut der
Hälfte der Bevölkerung
dauert es
ein ganzes Jahr, bis
jeder verbleibende
Dussel Corona
gehabt hat, wenn sich (…) pro Tag infizieren.
Ich habe mich das gefragt, denn der Chefmahner
spricht vom heißen Herbst, den wir
bekämen. Ich mag falsch liegen. Zu rechnen
ist nicht meine Stärke. Ich denke für uns so:
Etwa zweiunddreißig Millionen Deutsche,
die Ungeimpften, müssten sich mit circa
einhunderttausend Infizierten an der Zahl
(täglich) anstecken, um nach knapp einem
Jahr deutschlandweit damit durch zu sein.
Als Vergleich mag die Not im Iran, einem
Land, der Zahl nach in vergleichbarer Größe
dienen. Eine Meldung der Tagesschau vom
Anfang des Monats macht deutlich, dass
bereits bei knapp der Hälfte täglicher Infektionen
davon, der Staat und seine Einwohner
an ihre Belastungsgrenze kommen.
# Fast 40.000 Neuinfektionen im Iran. Noch
nie seit Beginn der Pandemie war die Zahl
der Neuinfektionen und der Corona-Toten
im Iran so hoch. Die Delta-Variante bringt
Krankenhäuser an Kapazitätsgrenzen. Die
Impfkampagne kommt nur schleppend
voran. (Tagesschau, 08.08.2021).
Über zwei Millionen Verkehrsunfälle nimmt
die Polizei pro Jahr in Deutschland auf. In
diesem Winter werden wir zwei Jahre mit
der Pandemie gelebt haben. Dann sind
etwa vier Millionen von uns damit als
infiziert in der Statistik geführt. Eine gute
Vergleichszahl, um für sich selbst das Risiko
einzuschätzen. Man
kann sich fragen,
wann der letzte
Unfall mit einem
Fahrzeug irgendwo
mit den eigenen
Augen beobachtet
wurde, ob man
selbst daran beteiligt
war und wie
viele Personen im
Bekanntenkreis mit
Covid infiziert sind
und wie schwer?
Die breite Bevölkerungsmehrheit
in Deutschland ist durch
Corona nicht in Angst und Schrecken zu
versetzen, wohl aber dadurch, dass ihnen soziale
Nachteile entstehen. Sie möchten das
gewohnte Leben
führen, deswegen
gibt es die Bereitschaft,
dem Staat zu
folgen, der das Impfen
anmahnt. Die
lebensbedrohlichen
Umstände auf den
Intensivstationen
beherrschen nun
kein Medienportal
mehr.
Ärzte werden noch immer gezeigt, und es
wird weiter gewarnt. Patienten und Angehörige
klagen aber nicht mehr, wie anfangs in
der Pandemie. Weder aus Indien oder sonst
wo im Ausland, noch bei uns. Betroffene
tauchen selbst in den Nachrichten gar nicht
auf. Eine Drohkullisse der Fachleute steht,
denn der Herbst stünde vor der Tür: „Die
Menschen im Krankenhaus und auf den
Intensivstationen würden jünger und seien
ungeimpft“, mahnt ein Arzt. Aber ein junger
Patient oder Angehörige, Freunde, die uns
glaubwürdig versichern könnten, wie furchtbar
dieser Schock für ihre Familie wäre,
erscheinen gerade nicht vor der Kamera.
Klammer auf: (Das Tal der Aussätzigen.
„Ben Hur“, daran denke ich oder „die
Schwulenseuche“, eine nicht mehr erlaubte
Bezeichnung für die HIV-Erkrankung aus den
Achtzigern. Schon immer fürchteten sich
Menschen vor dem qualvollen Tod, und nicht
weniger davor, mit der Schuld bezichtigt zu
werden, andere mit der Übertragung ihrer
Krankheitserreger zu gefährden.
Covid?
Natürlich haben sich die Bewohner der
Altenheime gern durchgeimpft. Die Alten zu
Hause haben sich geradezu überschlagen,
schimpften ganzseitig in der Bild, auf die
Unfähigen, die alles verkehrt organisiert
hätten, die nicht funktionierende Hotline.
Opa und Oma regten sich über diejenigen
auf, die ihnen mittels digitaler Windhundsoftware
zuvorgekommen waren, wollten als
erste einen Termin im Impfzentrum bekommen.
Inzwischen sind in unserem Land die
allermeisten Senioren vollständig geimpft.
Das hat die Lage merklich entspannt.
Die Senioren werden aber weiter sterben,
wenn nicht an dem neuartigen Virus, dann
eben an anderem. Und die Gesellschaft hat
damit ein Problem, dass überhaupt Alte
in nie dagewesener Zahl versorgt werden
– müssen. Es kommt ab meinem Alter, ich
nähere mich bereits der Sechzig an, das
Bewusstsein auf, selbst von der „Krankheit“
zu altern bedroht zu sein. Ich sehe mit
Schrecken die vielen „Betroffenen“, die mit
einem Rollator unterwegs sind. Nicht wenige
kenne ich, die noch vor einigen Jahren agil
herumspazierten und ihr Rentnerleben
genossen haben. Ich war in den letzten Jahren
oft im Altersheim, im Hospiz, als meine
Eltern erkrankten, gepflegt werden mussten
und schließlich starben. Das kam nicht in
der Tagesschau. Obwohl ich nicht mehr vor
Ort bin und einen Bogen um diese Einrichtungen
mache wie früher, als ich jung war,
wird dort weiter gelitten. Ich weiß das und
erinnere mich jeden Tag mit ganz eigenen
Bildern daran.
Das Sterben der durch
das Rauchen am Lungenkrebs
erkrankten Menschen
wird nicht gefilmt.
Die letzten Tage eines
Aidskranken zeigen die
Nachrichten nicht. Nicht
wenige beschuldigen
Homosexuelle bis heute
dafür, welche zu sein,
weil sie sich selbst vor
gleichgeschlechtlichem
Sex ekeln würden, und weil es ihnen gefällt,
sich über andere zu erheben. Raucher werden,
besonders wenn sie an Krebs erkranken,
angefeindet. Menschen, die aufgrund von
Fettleibigkeit oder übermäßigem Alkoholgenuss
krank werden, schließlich auf einer
Intensivstation sterben, sehen wir kaum
einmal in einem Bericht.) Klammer zu.
Leicht finden sich dagegen authentische
Flutopfer.
Die reden erschüttert über ihr Unglück, und
müssen nicht herbeigeredet werden. Wir
sehen im Fernsehen die Not von Menschen,
die bei der Flutkatastrophe im Ahrtal alles
verloren haben. Da wird ein Zahnarzt in
seiner
zerstörten
Praxis
gezeigt.
Der Behandlungsstuhl
und
sämtliches
Inventar
erinnern
gerade
noch an
medizinisches Gerät, während die Helferin
und der alte Doktor resigniert aufräumen,
so weit das geht. Alles ist mit braunem
Schlamm überzogen. Er hätte vorgehabt,
sagt der Geschockte, die Rente noch zu
verschieben und einige Jahre Arbeit als der
vertraute Arzt seiner Patienten zu leisten,
daraus würde nun nichts.
Eine Frau steht auf einer wie gepflügt wirkenden
Freifläche. Hier habe bis vor ein paar
Tagen ihre Bäckerei gestanden. Das wäre
eines der Häuser gewesen, die komplett
abgerissen werden mussten, berichtet die
frustrierte Chefin einiger Mitarbeiter. Sie
zeigt uns ein Foto und hofft mit finanziellen
Hilfen auf den Neubeginn.
Die Flut kam so plötzlich! Alles verloren:
Ein Mann klopft Dachbalken vom ersten
Stock weg, soweit das aus dem Erdgeschoss
seiner ehemaligen Werkshalle eines kleinen
Handwerksbetriebes Sinn macht. Es geht
darum, herauszufinden, ob dieses Haus
bleiben kann. Unten erkennt man die eingeschlammten
Konturen zerstörter Maschinen.
Menschen entsorgen ehemals wichtiges
Arbeitsgerät in einen Container. Zerstörte
Existenzen ganz normaler Zeitgenossen wie
du und ich.
Auch die abgedeckten Häuser von Großheide,
ein umgestürztes Fahrzeug und eine
Trümmerlandschaft wohin das Auge blickt,
nach dem Tornado vor wenigen Tagen,
machen deutlich, dass es ganz normale
Menschen in furchtbarer Not gibt. Nicht zu
reden von den dramatischen Bildern und
den Berichten von jungen Frauen, Familien,
Aug 17, 2021 - Wo ist Goethe jetzt? 86 [Seite 84 bis 94 ]