Blogtexte2021_1_12

03.01.2022 Aufrufe

Angst und Sexualität malen? Mein Thema,das ist Porno, und die Frauen sind unfreiwillig,aber absehbar tot, entstellt mindestens.Das Bild zeigt unabsichtlichen, gemeinschaftlichprovozierten Suizid. Der „tragischeUnfalltod“, das kann wohl nur sein, wenn einBahnarbeiter im Job vom Strom erwischtwird. Die scheinbar alles erklärende, verbalisierendeWelt macht es sich gern leicht. Washaben Jugendliche auf den Wagen verloren?Und die Flut von Nacktbildern heute verstörtÄltere. Das Schimpfen, Ermahnen und nachmehr Sicherheit rufen erklärt nicht die Motiveder untereinander Verstrickten im Netz.Ein gemaltes Bild kann, wie eine Sequenz imTraum, eine andere, umfassendere Sicht bieeinerPerson, dann die Linie der anderen Protagonisten.So geschieht es im Film, im Theaterstück,und so kann man auch zu einemeinzelnen Bild gelangen, mit verschiedenenEmotionen, deren Synthese ein absurdes,formal interessantes Farbgeflecht bildet. DieLogik, nach der wir die Fläche mit den Augenabtasten, folgt unserem Instinkt. ProvozierteBlickführung in der Kunst spielt mit typischenSehgewohnheiten und natürlichemVerhalten. Ob ein Betrachter auf Helldunkel,dynamische Richtungen und Farbgegensätze,Grenzen reagiert, wird zur Basis von Harmonieund Spannung. Das zweite Gleis unsererMotivation, warum wir Dinge anschauen, istunsere emotionale Bewertung, eben nichtnur der Farbstimmung; Themen und intellektuelleInhalte der abgebildeten Objektespielen eine Rolle, ob wir uns für etwas interessieren.In der Malerei haben wir nun dieMöglichkeit, realistische Abbildung auf eineabstrakte Weise im absurden Zusammenhangzu kombinieren und eine individuelle Realitätzu schaffen.# In diesem Jahr war ein Sophie-Scholl-Erinnerungsdatum…Die Widerstandskämpferin wäre jetzt einhundertJahre alt geworden? Gestern kam eineN3-Reportage, eine 101-jährige alte Damebadete an der Holzbrücke in der Förde beiKiel. Dabei hätte Sophie sein können, wennsie nicht unter dem Fallbeil der Nazis getötetworden wäre. Man konnte nicht daran vorbeilesen – in diesem Frühjahr. (Markus Södermachte einen Kniefall). Der Bruder Hans wur-de auch erwähnt, er starb zur selben Stunde.Und wie ich eben auf Wikipedia gelesenhabe, waren sie zu dritt, die für uns gestorbensind. Die weiße Rose.Warum habe ich auch in diesem Jahr keineNotiz vom Bruder Hans Scholl genommen?Und vom Christoph Probst hatte ich noch nieetwas gehört.# „Der Volksgerichtshof verurteilte am 22.Februar 1943 im Schwurgerichtssaal desJustizpalastes in München den 24 Jahre altenHans Scholl, die 21 Jahre alte Sophia Scholl,beide aus München, und den 23 Jahre altenChristoph Probst aus Aldrans bei Innsbruckwegen Vorbereitung zum Hochverrat undwegen Feindbegünstigung zum Tode. DasUrteil wurde am gleichen Tag vollzogen.“ (Wikipedia).Es sind die Bilder von der jungen Frau, dieniemand vergisst, und die bekannten, tapferenSätze. Das kann keiner aushalten, und dasmacht gerade sie zur Ikone.Es trifft ins Herz.Wie primitiv muss der Maler denken, das hierzu vermischen?Denkt, was ihr wollt: seid Follower, Mitläuferirgendwo.Einige Fotos von Sophie sind leicht abrufbar,und manches kam im Boulevard. Ich gebe eszu, ich lese die BILD am Sonntag. Ich besitzekeine nennenswerte Geschichtsliteratur. Ichmag das gar nicht schreiben: Ich habe dasGesicht ständig vor Augen, wie diese Studentinuns ansieht. Da ist einmal ein undramatischesGruppenbild, jeder kennt es. AmSchlimmsten berührt mich das vermutlicherkennungsdienstlich gemachte, dreifachePorträt, das man findet, wenn man googelt.Ich sehe, was der Gefangenen bevorsteht,wenn ich glaube zu sehen, was sie denkt. Jemandhat diese Kamera betätigt. Jemand hatdas Fallbeil niedersausen lassen. Könnte ichdas tun, wer wird Henker von Beruf?Und ich kenne diesen Blick, die Angst, sah esgenau so selbst schon bei einer lieben Freundin– in banaler Situation scheinbar. Das verstört,und das Begreifen kommt spät, zu spätum die Dramatik zu erkennen, einzugreifen.Wir denken: Nazis, das war früher? Geschichte,und heute sind wir klüger, meint man. Aberder Tod ist damals nicht gestorben. Und dieAngst auch nicht.# Ich habe jeden Boden des Anstandes verlassen?ten. Denkschubladen machen es einfach, abersie sind nur eine Erklärung der Realität, nichtdie Wahrheit an sich. Wie und warum ein absurdesBild seinen Sinn bekommt, kann einText nur bruchstückhaft wiedergeben. Sichnoch daran aufgeilen, wie krank ist das denn;wie ist es möglich, ein Bild zu kreieren, ausdiesem ekligen Konglomerat von Emotionen?Darum habe ich das begonnen. Weil ichsogar glaube, dass unsere Realität auf dieseWeise stimmt – und was allgemein gesagtwird, ist unehrlich. Üblich ist, unangenehmeGefühle und atypische Kombinationen, übergreifendeQuerverbindungen des Denkens zumaskieren. Bei Empfindungen, die niemandwahrhaben mag, fürchten wir, machte mansie öffentlich, von den anderen abgestraft zuwerden. Alle wollen nur positiv wirken.Und ich denke: des Kaisers neue Kleider, aua.Ich empfinde das normale Tagesgeschehenals verstörend. Gerade wird wieder eine uralteFrau vor Gericht gestellt in Itzehoe. Diehabe Akten im KZ sortiert oder so. Das leseich nicht mehr. Nach Jugendstrafrecht wirdihr Fall verhandelt. Sie sei, als die „Taten“begangen wurden, nicht volljährig gewesen.Man muss Jurist sein, so zu denken. Christusstürze vom Kreuz.# Ich morde auf der Leinwand aus Überzeugung,lebe im normalen IrrenhausIch habe noch dieses Lied im Ohr, der MajorTom im Weltall. Warum driftet seine Kapselweg? Es scheint, als löse sich der Astronautmutwillig ab. Er „zerstöre das Projekt“, wie esim Text heißt, und das Ende bleibt offen.„Mir wird kalt.“Was wäre, wenn ein Raumflieger vom Kursabkommt und nichts dafür kann? Er biegtab, wie die Voyager-Satelliten Schwung holtenam Jupiter. Ein Astronaut verlässt dasSonnensystem, weil’s ihm unausweichlichgeschieht. Verpatztes Billard. Eine spontaneBegegnung, das Schicksal selbst ist schuld.Die Leere ausserhalb der bekannten Bahnenwäre unfassbar. Nur zwischen Galaxien ist esnoch um ein Vielfaches einsamer? Die Zeitwürde vergehen, es käme dem Flieger endlosvor, nie mehr trifft er auf andere. Sein Bruchmit der Vergangenheit ist unumkehrbar. DerTod ist ewig. Der Horizont steht fest. Die Aussichtdarauf, später dem Mâitre d’ Hotel in Hamiltonoder anderswo zu begegnen, sich einZimmer im Paradies zu nehmen, geschweigedenn eine süße Alien irgendwo da draußenzu finden, gibt es nicht.Ich habe nachgedacht. Es kommt eine Zeit imLeben, da ist es zu spät für Liebe.Fernsehen, in die Ferne schauen, Zukunft –was ist das? Gestern die Alte, in der SeebadeanstaltHoltenau, wie sie ins Wasser klatscht,wo sie bereits als Kind gebadet hat. Als ich’ssah, wusste ich wieder genau, warum ich diesesbeknackte, absurde, kindisch blöde, verboteneBild malen will.Ich bin doch nicht bescheuert.:)Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 74 [Seite 71 bis 74 ]

Veränderung im VolksgemurmelJul 29, 2021Niemandem ist geholfen, eine überschäumendeGlosse mit wiederkehrenden Erzählfragmentenzu lesen, das weiß ich schon. Aberzu schreiben hilft dem, der es tut. Jedes Jahrwiederholen sich Wetterperioden, das ist auchneu und vertraut zugleich. Ein gefährlicherBeigeschmack hat sich in die Beobachtungder Extreme, unser Schietwetter eingeschlichen?Das Vertrauen ist erschüttert: Es gibtsie wirklich, die Klimakatastrophe. Da wechseltdie mediale Angst zwischen der Pandemieund der neuen Bedrohungslage am Himmelhin und her. Die moderne Sintflut wirdnicht vom queeren Regenbogen gestoppt.Das ist kein Thema für einen Schlagermove.Spaßgesellschaft war gestern, KanzlerkandidatLaschet hatte seinen Fettnapf. Niemandlacht ungestraft angesichts der Katastrophe.Es sei denn, unbemerkt vor dem Fernseher zuHause? Aber keiner pupt noch ungehört. Dassoziale Ohr wächst aus jeder Alex, die es hinausträgtzu besseren Menschen, die sich gerndaran weiden. Das kollektive Netz wird eng.Wir stricken uns eine Solidaritätsschlinge,hängen uns rein, machen den Sack zu.Harmlos waren die Klagen früher: „Wannwird’s mal wieder richtig Sommer“, fragteseinerzeit unverwechselbar der beliebte EntertainerRudi Carrell; und heute jammernmanche, wie lange es dauern mag, bis alleswieder so ist wie vor der Pandemie? Musikhilft immer. Jazz etwa, ist eine Inspiration,weil diese Musik sich mit jedem neuen Spielerfindet wie eine gute Kunst auf der Leinwand.„What’s New?“, ist ein Standard. Einerhetorische Frage! Neue Probleme und neueAntworten sind Alltag. „The New Standard“,heißt ein Album von Herbie Hancock. Undauch im schönen „There’ll Be Some ChangesMade“, weist ein alter Titel im Jazz von1921 (ein „Standard“) darauf hin, dass es gelegentlichÄnderungen gibt in der Musik, derKunst, im Einzelnen und in der Routine einerGesellschaft; nicht zuletzt in Beziehungenüberhaupt.Aktuell machen wir eine Phase des Umbruchsdurch. Klimadrama und Pandemie halten dieGesellschaft in Atem. Das ändert alles imGanzen und auch Einzelne finden neue Wegefür sich. Es gibt kein Zurück. Was es mit unsmacht, hängt ab von unserer persönlichenSituation. Menschen, diesich nicht gegen Corona impften,handelten unsolidarisch, meintman neuerdings. Vor kurzem gabes keine breite Mehrheit für dieseAnsicht. Das hat sich geändert.Etwa die Hälfte der Bevölkerungist geimpft. Diejenigen, die weiterbeschwören, es würde auch zukünftigkeine Verpflichtung dazu geben,wirken bereits bemüht. Wir sindzu einigem verpflichtet, besitzenbeispielsweise einen Ausweis undzahlen Steuern. Wir sind in Solidaritätverbunden, die Verkehrsregelneinzuhalten, und viele ignorierendas. Alle sind aufgefordert, den Müllkorrekt zu entsorgen, aber es liegt ständigAbfall auf den Wegen. Egomanisches und unsolidarischesVerhalten ist ganz normal. Wirbenötigten den Staat und die Polizei nicht,hielten sich alle an das, was richtig ist. Darüber,was das ist, kann zudem noch gestrittenwerden.# Das ist unsere moderne FreiheitSich eine Spritze geben zu lassen, mit etwas,dass man nicht möchte, ist einfach zu verhindern.Kein Arzt setzt das Ding mit Gewalt an,und der widerspenstige Bürger würde vonHelfern festgehalten, sie kommen mit derPolizei zu dir nach Hause? Nein, so ginge esnicht. Käme die Pflicht, sich impfen zu lassen,müssten neue Gesetze geformt werden. EinStreitthema! Aktuell wird gern von der Impfpflichtdurch die Hintertür gesprochen, wennes um mehr Freiheiten für Geimpfte geht, undgenauso würde die gesetzliche Impfung auchvorgehen, nur umgekehrt: Freiheitsentzugoder alternative Strafen drohten denen, diees nicht machten.Es müsste eine rechtliche Grundlage geschaffenwerden. Das bedeutet, was heute Unrechtist, muss zum Richtigen umerklärt werden.Dem dürften sich einige Juristen und Politikervehement entgegenstellen. Fände sichdie Mehrheit doch, hieße es, wir seien Rechtsstaatund die Chinesen beispielsweise nicht,weil bei uns demokratisch die Gesetze geändertworden wären. Eine Bewegung vom Volkausgehend? Dazu müsste eine Welle wechselnderStimmen, hin zur neuen Ansicht unddem deswegen geänderten Regierungswillenbeobachtet werden, die reflektiert zeigte,wir wollten es selbst so. Letztlich würdeder Beweis erbracht, dass Demokratie funktioniert.Um so eine neue, alternative Wahrheitzu schaffen, worin das Recht und damitdie richtige Weise sich zu verhalten besteht.Eine ausgehandelte Pflicht kommt zustande,indem die neue Ansicht durch überzeugteBürger in die Masse einsickert. Das hieße,wir würden sehen, dass die Bereitschaft gegeneine Impfpflicht zu demonstrieren, kleinerwürde, bis sie als Sand im Getriebe, derhinzunehmen ist, übergangen werden kann.Das müsste Grusel auslösen, bei denen, die esgewohnt sind, gegen Atomkraft zu demonstrierenoder Friedensmärsche planen. Vielehaben schon zurückstecken müssen.Frontal mit der Spritze in der Hand, kommtmir kein Arzt ins Haus. Erzwungene Herdenimmunitätmittels Impfung hieße, mangängelte die verstockten Böcke, schließlichselbst hinzugehen. Erst kostet der Test, dannverlierst du den Job. Steht das neue Rechtendlich, droht Ungeimpften die Geldstrafe,zum Schluss tatsächlich das Gefängnis. Werauf dem Weg dorthin noch weiter ausflippt,den steckt man in die Klappse. Und dortkommt der Knackidoktor tatsächlich mitseinen Schergen. Die Unfreiheit marschiertimmer erst durch die Hintertür. SchleichendeEinbrecher mutieren zu eloquenten Sozialarbeitern.Geschulte Berufsredner manipulierenaus dem guten Grund, nicht hinter diestramm gelenkten Demokratien der anderenzurückfallen zu dürfen, mit unserem zerstrittenenSystem. Der Altkanzler mahnt zu Recht,man dürfe nicht ständig die bösen Staatenbelehren: „Mit wem soll Deutschland dannnoch Handel treiben?“, fragt Gerd Schröder.Schimpfen und anprangern sei falsch, endloseDiskussionen stören die gesunde Funktioneiner Gesellschaft, meinen nicht wenige.Politikprofis müssen uns einnorden, damitDeutschland weiter funktioniert. Sie tretenim Fernsehen auf, kommen bald wie Drückeran deine Haustür. Auf „die Rente isch sicher“,folgt „Impfstoffe sind sicher“, bis das Viehin blökender Herde ausreichend willig zumSchlachter läuft. Hier und da noch knüppeln,ist die neue Partei oder Meinung etabliert,schlägt das Gewaltmonopol endlich frechvon vorne zu. Die hässliche Fratze Staat.Der Vorwurf, unsolidarisch zu sein, ist zunächstein verbaler Angriff. Das ist das Gegenteil vonMotivation, die auf eine positive Weise anderemitnimmt. Eine Drohkulisse unterstütztdie Mahner. Wir leben noch immer, wie schonzur Zeit der Nationalsozialisten oder als eineMeute forderte, Jesus zu kreuzigen, in einerGesellschaft der Mitläufer. Dieses Wort warverpönt, als ich jung war. Heute ist das englischeFollower etabliert. Justiz ist anstellevon Lynchjustiz getreten, und das Recht gewährtdem Angeklagten einiges. Strafen fallengeringer aus, als es der Mob verlangt. DerEinzelne ist aber nach wie vor aufgefordert,Jul 29, 2021 - Veränderung im Volksgemurmel 75 [Seite 75 bis 79 ]

Angst und Sexualität malen? Mein Thema,

das ist Porno, und die Frauen sind unfreiwillig,

aber absehbar tot, entstellt mindestens.

Das Bild zeigt unabsichtlichen, gemeinschaftlich

provozierten Suizid. Der „tragische

Unfalltod“, das kann wohl nur sein, wenn ein

Bahnarbeiter im Job vom Strom erwischt

wird. Die scheinbar alles erklärende, verbalisierende

Welt macht es sich gern leicht. Was

haben Jugendliche auf den Wagen verloren?

Und die Flut von Nacktbildern heute verstört

Ältere. Das Schimpfen, Ermahnen und nach

mehr Sicherheit rufen erklärt nicht die Motive

der untereinander Verstrickten im Netz.

Ein gemaltes Bild kann, wie eine Sequenz im

Traum, eine andere, umfassendere Sicht bieeiner

Person, dann die Linie der anderen Protagonisten.

So geschieht es im Film, im Theaterstück,

und so kann man auch zu einem

einzelnen Bild gelangen, mit verschiedenen

Emotionen, deren Synthese ein absurdes,

formal interessantes Farbgeflecht bildet. Die

Logik, nach der wir die Fläche mit den Augen

abtasten, folgt unserem Instinkt. Provozierte

Blickführung in der Kunst spielt mit typischen

Sehgewohnheiten und natürlichem

Verhalten. Ob ein Betrachter auf Helldunkel,

dynamische Richtungen und Farbgegensätze,

Grenzen reagiert, wird zur Basis von Harmonie

und Spannung. Das zweite Gleis unserer

Motivation, warum wir Dinge anschauen, ist

unsere emotionale Bewertung, eben nicht

nur der Farbstimmung; Themen und intellektuelle

Inhalte der abgebildeten Objekte

spielen eine Rolle, ob wir uns für etwas interessieren.

In der Malerei haben wir nun die

Möglichkeit, realistische Abbildung auf eine

abstrakte Weise im absurden Zusammenhang

zu kombinieren und eine individuelle Realität

zu schaffen.

# In diesem Jahr war ein Sophie-Scholl-Erinnerungsdatum

Die Widerstandskämpferin wäre jetzt einhundert

Jahre alt geworden? Gestern kam eine

N3-Reportage, eine 101-jährige alte Dame

badete an der Holzbrücke in der Förde bei

Kiel. Dabei hätte Sophie sein können, wenn

sie nicht unter dem Fallbeil der Nazis getötet

worden wäre. Man konnte nicht daran vorbei

lesen – in diesem Frühjahr. (Markus Söder

machte einen Kniefall). Der Bruder Hans wur-

de auch erwähnt, er starb zur selben Stunde.

Und wie ich eben auf Wikipedia gelesen

habe, waren sie zu dritt, die für uns gestorben

sind. Die weiße Rose.

Warum habe ich auch in diesem Jahr keine

Notiz vom Bruder Hans Scholl genommen?

Und vom Christoph Probst hatte ich noch nie

etwas gehört.

# „Der Volksgerichtshof verurteilte am 22.

Februar 1943 im Schwurgerichtssaal des

Justizpalastes in München den 24 Jahre alten

Hans Scholl, die 21 Jahre alte Sophia Scholl,

beide aus München, und den 23 Jahre alten

Christoph Probst aus Aldrans bei Innsbruck

wegen Vorbereitung zum Hochverrat und

wegen Feindbegünstigung zum Tode. Das

Urteil wurde am gleichen Tag vollzogen.“ (Wikipedia).

Es sind die Bilder von der jungen Frau, die

niemand vergisst, und die bekannten, tapferen

Sätze. Das kann keiner aushalten, und das

macht gerade sie zur Ikone.

Es trifft ins Herz.

Wie primitiv muss der Maler denken, das hier

zu vermischen?

Denkt, was ihr wollt: seid Follower, Mitläufer

irgendwo.

Einige Fotos von Sophie sind leicht abrufbar,

und manches kam im Boulevard. Ich gebe es

zu, ich lese die BILD am Sonntag. Ich besitze

keine nennenswerte Geschichtsliteratur. Ich

mag das gar nicht schreiben: Ich habe das

Gesicht ständig vor Augen, wie diese Studentin

uns ansieht. Da ist einmal ein undramatisches

Gruppenbild, jeder kennt es. Am

Schlimmsten berührt mich das vermutlich

erkennungsdienstlich gemachte, dreifache

Porträt, das man findet, wenn man googelt.

Ich sehe, was der Gefangenen bevorsteht,

wenn ich glaube zu sehen, was sie denkt. Jemand

hat diese Kamera betätigt. Jemand hat

das Fallbeil niedersausen lassen. Könnte ich

das tun, wer wird Henker von Beruf?

Und ich kenne diesen Blick, die Angst, sah es

genau so selbst schon bei einer lieben Freundin

– in banaler Situation scheinbar. Das verstört,

und das Begreifen kommt spät, zu spät

um die Dramatik zu erkennen, einzugreifen.

Wir denken: Nazis, das war früher? Geschichte,

und heute sind wir klüger, meint man. Aber

der Tod ist damals nicht gestorben. Und die

Angst auch nicht.

# Ich habe jeden Boden des Anstandes verlassen?

ten. Denkschubladen machen es einfach, aber

sie sind nur eine Erklärung der Realität, nicht

die Wahrheit an sich. Wie und warum ein absurdes

Bild seinen Sinn bekommt, kann ein

Text nur bruchstückhaft wiedergeben. Sich

noch daran aufgeilen, wie krank ist das denn;

wie ist es möglich, ein Bild zu kreieren, aus

diesem ekligen Konglomerat von Emotionen?

Darum habe ich das begonnen. Weil ich

sogar glaube, dass unsere Realität auf diese

Weise stimmt – und was allgemein gesagt

wird, ist unehrlich. Üblich ist, unangenehme

Gefühle und atypische Kombinationen, übergreifende

Querverbindungen des Denkens zu

maskieren. Bei Empfindungen, die niemand

wahrhaben mag, fürchten wir, machte man

sie öffentlich, von den anderen abgestraft zu

werden. Alle wollen nur positiv wirken.

Und ich denke: des Kaisers neue Kleider, aua.

Ich empfinde das normale Tagesgeschehen

als verstörend. Gerade wird wieder eine uralte

Frau vor Gericht gestellt in Itzehoe. Die

habe Akten im KZ sortiert oder so. Das lese

ich nicht mehr. Nach Jugendstrafrecht wird

ihr Fall verhandelt. Sie sei, als die „Taten“

begangen wurden, nicht volljährig gewesen.

Man muss Jurist sein, so zu denken. Christus

stürze vom Kreuz.

# Ich morde auf der Leinwand aus Überzeugung,

lebe im normalen Irrenhaus

Ich habe noch dieses Lied im Ohr, der Major

Tom im Weltall. Warum driftet seine Kapsel

weg? Es scheint, als löse sich der Astronaut

mutwillig ab. Er „zerstöre das Projekt“, wie es

im Text heißt, und das Ende bleibt offen.

„Mir wird kalt.“

Was wäre, wenn ein Raumflieger vom Kurs

abkommt und nichts dafür kann? Er biegt

ab, wie die Voyager-Satelliten Schwung holten

am Jupiter. Ein Astronaut verlässt das

Sonnensystem, weil’s ihm unausweichlich

geschieht. Verpatztes Billard. Eine spontane

Begegnung, das Schicksal selbst ist schuld.

Die Leere ausserhalb der bekannten Bahnen

wäre unfassbar. Nur zwischen Galaxien ist es

noch um ein Vielfaches einsamer? Die Zeit

würde vergehen, es käme dem Flieger endlos

vor, nie mehr trifft er auf andere. Sein Bruch

mit der Vergangenheit ist unumkehrbar. Der

Tod ist ewig. Der Horizont steht fest. Die Aussicht

darauf, später dem Mâitre d’ Hotel in Hamilton

oder anderswo zu begegnen, sich ein

Zimmer im Paradies zu nehmen, geschweige

denn eine süße Alien irgendwo da draußen

zu finden, gibt es nicht.

Ich habe nachgedacht. Es kommt eine Zeit im

Leben, da ist es zu spät für Liebe.

Fernsehen, in die Ferne schauen, Zukunft –

was ist das? Gestern die Alte, in der Seebadeanstalt

Holtenau, wie sie ins Wasser klatscht,

wo sie bereits als Kind gebadet hat. Als ich’s

sah, wusste ich wieder genau, warum ich dieses

beknackte, absurde, kindisch blöde, verbotene

Bild malen will.

Ich bin doch nicht bescheuert.

:)

Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 74 [Seite 71 bis 74 ]

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