Blogtexte2021_1_12
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Dieser Chef vom Restaurant ist im mittleren
Alter gewesen und servierte am Abend auch
in der Hotelbar. Um nach Hamilton zu kommen,
nutzen wir ein Boot, glaube ich. Eines
Abends waren wir tatsächlich zusammen in
einer Diskothek tanzen. Der sportliche und
lebensgewandte Restaurant-Manager begleitete
Lars und mich. Er hatte seinen freien
Tag, zog scheinbar gern mit den Youngsters
aus Germany los, während unser alter Hans-
Jürgen auf seiner „Capella“ blieb. Mir wurde
schnell klar, dass ich mich in der Disco nicht
wohl fühlte, und ich nutzte die kleine Fähre,
den Abend vorzeitig zu beenden. Ich weiß
noch genau, wie ich damals, das ist nicht
lang nach meinem Studium gewesen, Anfang
der Neunziger, immer gekniffen habe, wenn
es nachts was zu unternehmen gab. Mein
Mitsegler und dieser Fremde hotteten die
ganze Nacht ab und machten später (als ich
längst auf der Yacht schlief) noch ein Mädchen
klar?
Party, was mit Leuten unternehmen? Ich
stand nur daneben, das war immer so. Dieser
Mâitre d’ Hotel zeichnete sich, wenn er
im Hoteldienst beschäftigt war, durch eine
exzellente Zuvorkommenheit aus. Saßen wir
mit Hans-Jürgen am Tisch, und in der Nähe
waren vielleicht einige weitere Gäste mit
dem Frühstück beschäftigt, stand der Ober
gern einige Meter entfernt. Gut möglich, er
räumte etwas im Betrieb auf. Der bermudabritisch
korrekt gekleidete Head-Waiter sprach
mit einem Gast, richtete Geschirr auf einem
Tisch an? Dann genügte eine unter Umständen
nur zufällige Bewegung mit dem Gesicht
in seine Richtung, dass er seine Tätigkeit aber
auch sofort unterbrach. Er schaute dich im
selben Moment an; man konnte ihn nicht beobachten,
ohne dass er blitzschnell reagierte,
eventuell fragte, ob man etwas wünschte.
Dabei war dieser Profi nicht unnötigerweise
überaufmerksam. Er checkte nur ab: Muss ich
zum Gast? Es ist das einzige Mal in meinem
Leben gewesen, dass ich jemanden wüsste,
der das beruflich auf diese extreme Weise so
exakt und kontrolliert hinbekam. Es gelang
ihm scheinbar ganz leicht. Sein einstudiertes
Training war in Fleisch und Blut übergegangen.
Der war sympathisch und immer bereit.
Es ist normalerweise ein Zeichen des unsicheren
Menschen, der sich auf neurotische
Weise beobachtet fühlt. Die schauen dich
ständig an, wenn du in ihre Richtung siehst.
Das war hier anders: Dieser Chef vom Dienst
war extrem souverän und selbstbewusst. Er
war beruflich dienend perfekt und nicht ansatzweise
unterwürfig, ganz im Gegenteil.
Was bedeutet es, wie fremdgesteuert auf das
Drumherum fixiert zu sein? Menschen achten
ständig auf mögliche Dislikes oder bleiben
in sich ruhend gelassen. Ein Problem unserer
Zeit, wo alles dargestellt wird, gepostet.
Das gab es damals noch nicht, wohl aber im
Alltag selbstbewusst auftretende Menschen,
und die unsicheren gab es auch schon immer.
Ich bin sehr unsicher gewesen, unreif
und habe es überspielt, nicht gewusst, dass
ich’s tat.
# Selfexecuties
Ich komme mit dem Bild voran. Ich habe es
nicht eilig. Ich übertrage nach
meiner Vorlage. Zunächst
zeichne ich das ab. Dann verfestige
ich diese Kontur mit
einem kleinen Pinsel und
dünner Farbe. Anschließend
beginne ich, grob zu malen,
schließlich werde ich genauer.
Ich habe einen Plan. Ich werde
die drei Mädchen relativ exakt, eine nach der
anderen, auf die Leinwand übertragen. Wenn
die Figuren isoliert stehen, verbinde ich die
Flächen im Hintergrund, male die Räder der
Wagen, Schienen und Details. Auf diese Weise
wird Chaos auf der Fläche vermieden. Es
ginge auch anders. Es ist meine Entscheidung
für genau dieses Bild, es so umzusetzen.
Viele Wege führen nach Rom heißt es,
und so ist auch ein Bild zu malen eine Reise.
Du kannst zu Fuß pilgern,
oder im Reisebus den touristischen
Konzepten einer
Gruppe folgen. Es gibt kleine,
entspannte Ausflüge und
haarsträubendes Survival,
Scheitern in der Kunst, beim
Versuch, eine Leinwand in
eine gelungene Darstellung
zu verwandeln. Mal
arbeite ich so, dann wieder
ein wenig anders. Es gibt
Gründe. Bei dem Bild mit
dem Floß musste ich es anders
machen, weil mir das
Wasser als Vorlage fehlte.
Ich hatte keine Lust gehabt
und auch keinen Sinn darin
gesehen, das Meer auf die
Welle genau schon vorher
am Computer zu entwerfen.
Bei diesem Bild arbeite ich
konkret, entsprechend der
digitalen Komposition. Ich
denke, die eigentlichen Absonderlichkeiten,
die es jedes
Mal gibt, wenn sich die
ursprüngliche Idee wandeln
muss, habe ich bereits in der
Skizze erlebt.
Ein Leben ohne Liebe, Romantik
und tiefe Gefühle,
das muss doch möglich sein! Es kann wohl
nicht sein, dass wir Tag für Tag einer Vision
nachjagen. Das Geschenk und dazu die passende,
stoische Einstellung, von einer tödlichen
Krankheit innerlich zerfressen zu werden,
nun gelassen abzuwarten, bis kein Arzt
der Welt einen noch therapieren kann, wird
den wenigsten zuteil. Die See soll uns aufnehmen,
das Hochhaus möge einen Sprung
ermöglichen und die Bahn tötet zuverlässig
mit tonnenschwerem Gerät und hochgespanntem
Strom, oder wir saufen. Auf Probe
leben, bis zu leben gelingt? Oder: Mutprobe
ohne Hose. Das geht mir durch den Kopf,
wenn ich dieses Motiv fassen will! Was hilft
es, zu lieben, wenn nur Gleichgültigkeit und
Verarsche unser Gegenüber ist auf diesem
Planeten? Da ist kein anderer Stern in Sicht,
nur Finsternis.
# Mutig in die Extreme
Ich probiere etwas Unmögliches, glaube ich.
Das Thema ist aus einer bildhaften Erinnerung
in Gang gekommen, die sich dann zu einer
Idee formte, schließlich konnte ich nicht
geradlinig zu Ende komponieren und habe
akzeptiert, was jetzt entstanden ist. Farben,
Formen und eine geradezu unmögliche Kombination
von Inhalten.
Mich beschäftigt, wo
Dinge sind, Bildelemente
sind Teil formaler
Richtungen für das
Auge; ich male kein
vorhandenes Foto ab,
das es gibt und muss
alles erfinden. Ich
male nach montierten Fotos in einem neuen
Zusammenhang. Es geht also, grob beschrieben,
um drei junge Frauen. Sie sind einigermaßen
nackt, und wir können annehmen, das
sie sich dabei fotografieren. Handys werden
später herumwirbeln, Schuhe. Die Szene ist
eine Art Bühne. Ich möchte einen künstlich
eingefrorenen Moment schaffen.
# Tödliches Blitzlicht
Der Raum und Boden der Darstellerinnen
in einem absurden Spiel
bildet sich aus den Plattformen am
Wagenende zweier Güterwagen. Im
Hintergrund ist dunstige Wiesenlandschaft
am Abend. Man sieht einen
Oberleitungsmast und ein zweites
Gleis. Links und rechts wird das Arrangement
durch die Stirnwände der
Container gerahmt. Ich möchte eine
Inszenierung, kein reales Unglück
abmalen, sondern ein künstliches
Konstrukt schaffen. Die Elemente
gestalten eine emotionale Bindung
aus Farbformen und Gegenständen,
können bestenfalls das Auge des
Betrachters fantasievoll führen. Eine
Achterbahn mit Horrorstationen, eine
Jahrmarktpsychose, die recht hübsch
gemalt sein soll, das schwebt mir
vor. Im Entwurf ist bereits ein Symbol
auf einer Seite des Güterwagens
integriert: „Lebensgefahr auf dem
Waggon durch Hochspannung“. Aus
kompositorischen Gründen lasse ich
den überspringenden Lichtbogen in
den vergleichsweise niedrigeren Teil
knallen, wo sich die Frauen befinden.
Ich möchte diese fiktive Bühne
haben. Das ginge nicht, würden sie
oben auf den Güterwagen klettern,
wo es ja tatsächlich vorkommt, das
Jugendliche getötet oder schwerstverbrannt
vom überspringenden Strom erwischt werden.
Ich habe mir gesagt, das feuchte Wetter
macht eventuell möglich, glaubhaft werden
zu lassen, was ich zeigen möchte. Obwohl sie
Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 72 [Seite 71 bis 74 ]