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Dieser Chef vom Restaurant ist im mittleren

Alter gewesen und servierte am Abend auch

in der Hotelbar. Um nach Hamilton zu kommen,

nutzen wir ein Boot, glaube ich. Eines

Abends waren wir tatsächlich zusammen in

einer Diskothek tanzen. Der sportliche und

lebensgewandte Restaurant-Manager begleitete

Lars und mich. Er hatte seinen freien

Tag, zog scheinbar gern mit den Youngsters

aus Germany los, während unser alter Hans-

Jürgen auf seiner „Capella“ blieb. Mir wurde

schnell klar, dass ich mich in der Disco nicht

wohl fühlte, und ich nutzte die kleine Fähre,

den Abend vorzeitig zu beenden. Ich weiß

noch genau, wie ich damals, das ist nicht

lang nach meinem Studium gewesen, Anfang

der Neunziger, immer gekniffen habe, wenn

es nachts was zu unternehmen gab. Mein

Mitsegler und dieser Fremde hotteten die

ganze Nacht ab und machten später (als ich

längst auf der Yacht schlief) noch ein Mädchen

klar?

Party, was mit Leuten unternehmen? Ich

stand nur daneben, das war immer so. Dieser

Mâitre d’ Hotel zeichnete sich, wenn er

im Hoteldienst beschäftigt war, durch eine

exzellente Zuvorkommenheit aus. Saßen wir

mit Hans-Jürgen am Tisch, und in der Nähe

waren vielleicht einige weitere Gäste mit

dem Frühstück beschäftigt, stand der Ober

gern einige Meter entfernt. Gut möglich, er

räumte etwas im Betrieb auf. Der bermudabritisch

korrekt gekleidete Head-Waiter sprach

mit einem Gast, richtete Geschirr auf einem

Tisch an? Dann genügte eine unter Umständen

nur zufällige Bewegung mit dem Gesicht

in seine Richtung, dass er seine Tätigkeit aber

auch sofort unterbrach. Er schaute dich im

selben Moment an; man konnte ihn nicht beobachten,

ohne dass er blitzschnell reagierte,

eventuell fragte, ob man etwas wünschte.

Dabei war dieser Profi nicht unnötigerweise

überaufmerksam. Er checkte nur ab: Muss ich

zum Gast? Es ist das einzige Mal in meinem

Leben gewesen, dass ich jemanden wüsste,

der das beruflich auf diese extreme Weise so

exakt und kontrolliert hinbekam. Es gelang

ihm scheinbar ganz leicht. Sein einstudiertes

Training war in Fleisch und Blut übergegangen.

Der war sympathisch und immer bereit.

Es ist normalerweise ein Zeichen des unsicheren

Menschen, der sich auf neurotische

Weise beobachtet fühlt. Die schauen dich

ständig an, wenn du in ihre Richtung siehst.

Das war hier anders: Dieser Chef vom Dienst

war extrem souverän und selbstbewusst. Er

war beruflich dienend perfekt und nicht ansatzweise

unterwürfig, ganz im Gegenteil.

Was bedeutet es, wie fremdgesteuert auf das

Drumherum fixiert zu sein? Menschen achten

ständig auf mögliche Dislikes oder bleiben

in sich ruhend gelassen. Ein Problem unserer

Zeit, wo alles dargestellt wird, gepostet.

Das gab es damals noch nicht, wohl aber im

Alltag selbstbewusst auftretende Menschen,

und die unsicheren gab es auch schon immer.

Ich bin sehr unsicher gewesen, unreif

und habe es überspielt, nicht gewusst, dass

ich’s tat.

# Selfexecuties

Ich komme mit dem Bild voran. Ich habe es

nicht eilig. Ich übertrage nach

meiner Vorlage. Zunächst

zeichne ich das ab. Dann verfestige

ich diese Kontur mit

einem kleinen Pinsel und

dünner Farbe. Anschließend

beginne ich, grob zu malen,

schließlich werde ich genauer.

Ich habe einen Plan. Ich werde

die drei Mädchen relativ exakt, eine nach der

anderen, auf die Leinwand übertragen. Wenn

die Figuren isoliert stehen, verbinde ich die

Flächen im Hintergrund, male die Räder der

Wagen, Schienen und Details. Auf diese Weise

wird Chaos auf der Fläche vermieden. Es

ginge auch anders. Es ist meine Entscheidung

für genau dieses Bild, es so umzusetzen.

Viele Wege führen nach Rom heißt es,

und so ist auch ein Bild zu malen eine Reise.

Du kannst zu Fuß pilgern,

oder im Reisebus den touristischen

Konzepten einer

Gruppe folgen. Es gibt kleine,

entspannte Ausflüge und

haarsträubendes Survival,

Scheitern in der Kunst, beim

Versuch, eine Leinwand in

eine gelungene Darstellung

zu verwandeln. Mal

arbeite ich so, dann wieder

ein wenig anders. Es gibt

Gründe. Bei dem Bild mit

dem Floß musste ich es anders

machen, weil mir das

Wasser als Vorlage fehlte.

Ich hatte keine Lust gehabt

und auch keinen Sinn darin

gesehen, das Meer auf die

Welle genau schon vorher

am Computer zu entwerfen.

Bei diesem Bild arbeite ich

konkret, entsprechend der

digitalen Komposition. Ich

denke, die eigentlichen Absonderlichkeiten,

die es jedes

Mal gibt, wenn sich die

ursprüngliche Idee wandeln

muss, habe ich bereits in der

Skizze erlebt.

Ein Leben ohne Liebe, Romantik

und tiefe Gefühle,

das muss doch möglich sein! Es kann wohl

nicht sein, dass wir Tag für Tag einer Vision

nachjagen. Das Geschenk und dazu die passende,

stoische Einstellung, von einer tödlichen

Krankheit innerlich zerfressen zu werden,

nun gelassen abzuwarten, bis kein Arzt

der Welt einen noch therapieren kann, wird

den wenigsten zuteil. Die See soll uns aufnehmen,

das Hochhaus möge einen Sprung

ermöglichen und die Bahn tötet zuverlässig

mit tonnenschwerem Gerät und hochgespanntem

Strom, oder wir saufen. Auf Probe

leben, bis zu leben gelingt? Oder: Mutprobe

ohne Hose. Das geht mir durch den Kopf,

wenn ich dieses Motiv fassen will! Was hilft

es, zu lieben, wenn nur Gleichgültigkeit und

Verarsche unser Gegenüber ist auf diesem

Planeten? Da ist kein anderer Stern in Sicht,

nur Finsternis.

# Mutig in die Extreme

Ich probiere etwas Unmögliches, glaube ich.

Das Thema ist aus einer bildhaften Erinnerung

in Gang gekommen, die sich dann zu einer

Idee formte, schließlich konnte ich nicht

geradlinig zu Ende komponieren und habe

akzeptiert, was jetzt entstanden ist. Farben,

Formen und eine geradezu unmögliche Kombination

von Inhalten.

Mich beschäftigt, wo

Dinge sind, Bildelemente

sind Teil formaler

Richtungen für das

Auge; ich male kein

vorhandenes Foto ab,

das es gibt und muss

alles erfinden. Ich

male nach montierten Fotos in einem neuen

Zusammenhang. Es geht also, grob beschrieben,

um drei junge Frauen. Sie sind einigermaßen

nackt, und wir können annehmen, das

sie sich dabei fotografieren. Handys werden

später herumwirbeln, Schuhe. Die Szene ist

eine Art Bühne. Ich möchte einen künstlich

eingefrorenen Moment schaffen.

# Tödliches Blitzlicht

Der Raum und Boden der Darstellerinnen

in einem absurden Spiel

bildet sich aus den Plattformen am

Wagenende zweier Güterwagen. Im

Hintergrund ist dunstige Wiesenlandschaft

am Abend. Man sieht einen

Oberleitungsmast und ein zweites

Gleis. Links und rechts wird das Arrangement

durch die Stirnwände der

Container gerahmt. Ich möchte eine

Inszenierung, kein reales Unglück

abmalen, sondern ein künstliches

Konstrukt schaffen. Die Elemente

gestalten eine emotionale Bindung

aus Farbformen und Gegenständen,

können bestenfalls das Auge des

Betrachters fantasievoll führen. Eine

Achterbahn mit Horrorstationen, eine

Jahrmarktpsychose, die recht hübsch

gemalt sein soll, das schwebt mir

vor. Im Entwurf ist bereits ein Symbol

auf einer Seite des Güterwagens

integriert: „Lebensgefahr auf dem

Waggon durch Hochspannung“. Aus

kompositorischen Gründen lasse ich

den überspringenden Lichtbogen in

den vergleichsweise niedrigeren Teil

knallen, wo sich die Frauen befinden.

Ich möchte diese fiktive Bühne

haben. Das ginge nicht, würden sie

oben auf den Güterwagen klettern,

wo es ja tatsächlich vorkommt, das

Jugendliche getötet oder schwerstverbrannt

vom überspringenden Strom erwischt werden.

Ich habe mir gesagt, das feuchte Wetter

macht eventuell möglich, glaubhaft werden

zu lassen, was ich zeigen möchte. Obwohl sie

Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 72 [Seite 71 bis 74 ]

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