Blogtexte2021_1_12

03.01.2022 Aufrufe

Die Angst vor dem Tod muss jeder erleben,keiner im Hospiz komme drum herum, ichhabe den klugen Sterbebegleiter danach gefragt.Meine Eltern beneideten ihren SegelfreundHannes. Er „habe es gut gemacht“, fandensie. Kann man das machen? Hannes war mitEhefrau nachts auf dem Nachhauseweg voneinem Opernbesuch am Kantstein direkt vordem eigenen Wohnhaus unvermittelt totzusammengebrochen. Auch Olaf, ein Freundvom Onkel meines langjährigen SegelfreundesBernd, stürzte, sagt man, (vor dem kleinenKino in Blankenese) im noch nicht so fortgeschrittenenAlter auf dem Gehweg – undüberlebte das nicht; wir waren aber überraschtund entsetzt. Der war gerade am Beginneiner möglichen Rente und hatte nochviel vor. Ebenso der im Ort bekannte Kassierereiner Bank in Wedel. Dieser Pechvogelsegelte am ersten Tag seiner Verrentungbei Freunden auf der Ostsee mit. In einerplötzlichen Bö vor Schleimünde kenterte derzum Segelboot ungenügend umkonstruierteKutter, und der Mann ertrank. Das warenBeispiele für einen gelungenen Tod, fandenmeine Eltern. Wie man das „mache“, haben sietatsächlich darüber nachgedacht? Sie hattenbeim Anwalt eine Verfügung formuliert, wassie im Falle eines unvermittelt nötigen Krankenhausaufenthaltohne Bewusstsein wolltenund was nicht.Das Hospiz liegt räumlich direkt angeschlossennah einem Hamburger Krankenhaus. Esist ein Zaun, der beide Anlagen trennt, undtypischerweise gelangt man von einer Nebenstraßezum Gebäude. Dabei gerät mangar nicht in den Betrieb der Klinik. Es ist einkleiner Parkplatz dort und eine Tür, an derman sich als Angehöriger legitimieren muss.Ich erinnere Sylvie. Sie war vorher im Kindergartenbeschäftigt gewesen. Die junge Frauhatte sich bewusst entschlossen, eine Zeitlang hier zu arbeiten. Eine Herausforderung,eine Pflicht für sie. Das war ihr bewusst geworden.Es tat Not, weil sie begreifen wollte.Ich denke noch oft daran, wie gut es getanhat, wenn sie mit ihren Putzkram in der Nähestill die nötige Arbeit machte. Ich habe ihreTelefonnummer auf einem Zettel. Ich solleanrufen, sie koche gern für Freunde und habedann original afrikanische Spezialitäten ausihrer Heimat bereit, die sie unmöglich alleallein essen könne. Das habe ich nie getan,mit dem Tod meiner Mutter war Schluss. Esging nicht, nur deswegen.Ich sehe die Zeit wie im Nebel,wenn ich daran denke:Die Leitung, Frau E., die ichüber eine Freundin in einerähnlichen Einrichtung alsAnsprechpartnerin empfohlenbekam. Sie machte esmöglich, dass meine Mutternoch am selben Tag das angemeldeteZimmer bekam,als ich anrief, beschrieb, wiesich die Lage zugespitzthabe.Das war unglaublich.Der direkt am Sterbendenverantwortlich begleitendeHerr B. sagte mir, jeder im Hospiz wäreirgendwann damit konfrontiert, den nahenTod als unausweichlich zu bemerken mit derentsprechenden Angst. Er erzählte von einemBewohner, der nach einigen Wochen wie erwartetstarb. Dieser Mann war ganz dünn undausgemergelt geradezu, unübersehbar vonseiner schweren Krankheit gezeichnet. Derscherzte aber nur und war immer auf eineaufgesetzte Art fröhlich, hatte Geschichtendrauf, als unterhalte er das Personal in einemHotel. Dem Herrn B. sagte er gelegentlich:„Man sagt ja, ich hätte diese schlimme Krankheit,aber Sie wissen doch, dass dasnicht wahr ist.“ Daraufhin probierteder Pfleger regelmäßig, behutsamdie Realität in das Empfinden seines„Gastes“ einzubauen: „Doch. Esstimmt. Sie sind todkrank und werdenin wenige Wochen oder sogarschon in einigen Tagen hier beiuns sterben. Das wissen Sie auch.“Der Mann bestritt es ein jedes Malund machte Scherze. „Darum sindSie hier. Weil Sie sterben“, meinteder professionelle Sterbebegleitertrotzdem, nicht um den Mann zu quälen. Dannkam, was kommen musste, erzählte B. mir, eswäre heftig und unausweichlich über denknochendünnen Todgeweihten gekommen.Jeden Tag habe er sich’s einreden können, erwäre zum Spaß an diesem Ort. Erfolgreichscheinbar, habe der Mann seine unübersehbareEndlichkeit im Spiegel und beim Blickauf seine Gliedmaßen verleugnet.Aber dann wäre es schließlich passiert. Dahätte sich der Sterbenskranke eines Nachtsfür viele Minuten, ja Stunden weinend anB. geklammert, gekrampft geradezu. Er griffzu, ein Kind, das um Hilfe ruft. Hatte rotzend,schluchzend und zuckend den Pfleger rundummit den Armen wie ein Krake unlösbareingefangen, bemüht mitgeschleppt auf diesemunvermeidlichen Weg, wenigstens solangees geht, noch Kraft in den abgemagertenÄrmchen ist, Eisenkrallen daraus zu machen.Es ist immer präsent. Ich erlebe es: Als wäreauch ich noch dabei gewesen, hätte den Sterbendenselbst gekannt.Der Pfleger erinnerte sich, erzählte. Die Flurehatten gebohnerte Fußböden, und hinterjeder Tür befand sich ein Sterbezimmer, undkeines der Betten dort ist leer geblieben.Mit jedem Gestorbenen bekam ein weitererMensch von einer Meldeliste die Gelegenheit,hier behütet zu sterben. Vor meinem innerenAuge lebt jetzt gleich alles auf, während ichdiese Zeilen in das Pad tippe: Die Kerze imErdgeschoss. Sie wird dort angezündet, wennein vertrauter Gast die letzte Reise antrittund das Haus verlässt. Als B. erzählte, glaubteich dabei zu sein. Ich sah den Mann scheinbar,während wir im schummrigen Flur leiseredeten und meine Mutter Greta oben im erstenStock schlief. Ihr blieb noch Zeit.Wie viel davon, und was dann?Der Pfleger, ich selbst und der Mann: Wirdrei schienen nun unentrinnbar unterwegs,magisch gefangen vom Tod selbst. So plastischbeschrieb B. mir, wie es war, mit in dasnicht länger auszublendende Schicksal desKranken gebunden zu sein. Umklammert. Derkonnte nicht mehr – und hatte die Angst zugelassen.Er war am Morgen anschließend der Nachtganz friedlich gestorben.:)Jul 17, 2021 - Wir sterben und wissen es 70 [Seite 69 bis 70 ]

Ich binnicht bescheuertJul 18, 2021Wir kannten nur Ampeln, keinen Kreisverkehr,die Dänen hatten das; wir nicht. Inzwischengibt es auch in Deutschland viele Kreisel.Man kann immer fahren, kaum, dass manstoppen muss. Schon bist du drin! Es nervt,an der Ampel zu stehen. An einigen „Lichtzeichenanlagen“ist zusätzlich noch ein Schildangebracht: Bitte bis an die Haltelinie fahren,Kontaktanlage. Das heißt wohl, halte ich zuweit ab vom Strich, kann ich warten, bis ichschwarz werde. Oder besser, es bleibt rot fürimmer. Man muss vorsichtig sein. Wer die falscheFarbe im Munde führt, gilt den anderenals Rassist.Heutzutage möchten wir alles korrekt haben.Laschet darf nicht lachen, wenn Steinmeierdie Opfer der Flutkatastrophe würdigt, bäh.Auch nicht hinten im Bild. Einer hat es gesehen.Dann wissen es alle. Werschreibt, bleibt. Wer filmt, derblimpt? Ein neues Wort wird benötigt,wenn die Plagiatsjäger aufder rechten Spur überholt werden,von denen, die Deepfakes„in echt“ können. Jeder pupst mal.Politik, Kunst, alles Öffentliche istmassentauglich, die Themen entsprechendem Konsens. Wer dasnicht begreift, bleibt allein. Dasist auch gut so. Ich möchte nichtgestört werden durch Hassmails.# Gendersternchen* nachträglichAuch: Wir würdigen Frauen! Gesternkam eine Astro-Doku. Die Mädels spielenneuerdings eine Rolle in der Geschichte,die es möglich macht, alles noch einmal neuzu erzählen. Das Fernrohr, das Galileo nahm,wurde ihm von seiner Cousine geschenkt. DieGalaxien, die Hubble entdeckte, konnte er nursehen, weil seine Geliebte ihm … usw. – baldwird es eine neue Vergangenheit geben.Es ist vorgekommen, ich erinnere mich aneine Meldung vor längerer Zeit, da musstedie Polizei einen Autofahrer stoppen undbehutsam aus dem Kreisverkehr lotsen. EineÜberwachungskamera oder zufällige Beobachterhatten bemerkt, dass ein Fahrzeugim Kreisel verbleibend kreiste, immer wiederund unzählige Male. Von zweihundert Ringen,die derjenige bereits gedreht haben soll,bis die Beamten einschritten, ist die Rede gewesen.Der moderne Satellit der Landstraßein seiner Umlaufbahn hält die Stellung. Ichhabe das nicht so genau in Erinnerung. Wahrscheinlichhat man den Fahrer psychiatrischuntersucht. Es kann eigentlich nicht verbotensein, sollte man meinen, zumindest ein paarMal rundherum zu fahren?Wenn im Verkehrsfunk von Stausdie Rede ist, sagen die Moderatorendieser Sendung gern, wie viel Zeitdie Verkehrsteilnehmer extra benötigen.Dann heißt es gelegentlich:Zeitverlust hier eine Dreiviertelstunde.Ich merke immer auf: Wasist Zeitverlust? (Der Planet hält an).Dann kommt mir der Beknackte inden Sinn, der, warum auch immer,nicht aufhörte, in einem Kreisel zukreisen. Ich muss an unsere Küchenuhrdenken. Die ist so in der Art einerBahnhofsuhr eine große, rundePlatte, schneeweiß mit einem Rand wie einePizza, und rundherum sind die Zahlen, ebenfast wie man das am Gleis kennt, so siehtsie aus. Ein kleiner, schwarzer Zeiger fürdie Stunden, ein langer zur Anzeige derMinuten. Er ist ebenfalls schwarz. Und,ganz wie bei der Bahn, hat unsere großeWanduhr in der Küche auch einendünnen, schnellen Sekundenzeiger inSignalrot.Diese vorangestellten Beschreibungenmünden in die Idee: Zeit wird sichtbar inder Bewegung. In einem Weltall sausend,dürfte es schwierig werden, sie zu bemerken.Insofern ist Zeit relativ, auch fürjeden Normalen, nicht nur den schlauenAlbert Einstein. Es kommt schon sehrdarauf an, wer, und wo wir sind, geradetun. Reißt mir andauernd der Geduldsfaden,während andere locker traben? Wasbin ich auf der Weltuhr: ein Sekunden-,Minuten- oder Stundenanzeiger? DasselbeTempo für alle aufdem Planeten, Zeit,mit der wir um dieSonne sausen undmein eigenes Bootim blauen Meer.# SegelnIch weiß noch gut,wie es „nach Bermuda“war. FünfTage über See,und dann tauchtedie Insel an derKimm auf. Natürlichhaben wiruns an Bord bewegt. Und ja, auch der Windtraf unsere Wangen, wir spürten die Zeit.Es wurde abends dunkel. Und die See rolltean. Mittags knallte die Sonne, nachts wares kühl, und die fliegenden Fische krachtengegen die Kajütaufaubauten und klatschtenohnmächtig an Deck. Wir hatten zu tun mitden Segeln, gingen zum Essen in die Kajüteund spuckten anfangs, weil wir zunächstnoch seekrank waren. Dann wurde es besser,und auch das bedeutete, dass sich etwas geänderthatte. Gestern übel, heute besser; dasist Zeit. Aber das Wetter blieb scheinbargleich. Der Himmel war immer blau. JederTag war warm und ähnelte dem vorangegangenen.Und nur in der Karte konntenwir anhand der ermittelten Position begreifen,dass wir Virgin Gorda und zuletztAnegada hinter uns gelassen hatten, dasZiel, Bermuda näher kam. Ohne die Kartewäre es nicht nachprüfbar gewesen. Dasrauschende Kielwasser, die besonders unterDeck im Vorschiff (wo ich meine Kojehatte) knallende Bugwelle, machte einemklar, wir drängten nordwärts.# Dasselbe Bild wie zeitlos gleich an jedemTagDie Segel standen in derselben Position fest.Ich meine, es war raumschots. Unter Vollzeugwaren unsere weißen Schwingen jedenfallsgleichbleibend und immer gutgefüllt von einemkonstanten Wind gerundet. Man spürte:„Capella“ ist unterwegs. Fünf Mal tagaus, tageinrollte die See aus derselben Richtung heran.Gleiche Windstärke, gleiche Wellenhöhekamen die Buckel dichter, sie hoben uns an,unterliefen die Yacht und wir ritten unspektakulärdarüber hinweg. Rundherum gleich wardas Meer, der täglich identische, blaue Kreisbis zum Horizont. Es änderte sich scheinbargar nichts.Und dann tauchtedas Land auf, morgens,noch vor demFrühstück!Bermuda, Hamilton.Die Einfahrt später:Wie im nordischenSchärengarten lagen,beschaulichverteilt, einige Inselbrockenseitlichdes gewundenenFahrwassers. Inzwischentuckerte derMotor, die Segel warennach Tagen zumersten Mal wiederhübsch aufgetucht. Wir waren einigermaßenunsicher, wo wir die Yacht jetzt festmachensollten. Hans-Jürgen, unser Kapitän, studiertedie Karte. Lars und ich probierten Landmarkenauszumachen, den passenden Liegeplatzzu finden. Dann ließen wir uns von Ansässigenhelfen und fanden einen feinen, kleinenHafen, der privat zu einem Hotel gehörte,steuerbords des Wasserweges zwischen denUfern. Eigentlich war nach der anderen Seitehin eine Marina zu erwarten, und auch ein riesiger,blauer Kreuzfahrer mit dickem Schornsteinhatte dort mächtig aufragend seinenLiegeplatz gefunden. Unserem Kapitän passteaber einiges nicht, oder dem Hafenmeistergefiel es nicht, die Yacht dort hinzuweisen.Das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere einigeTage im Hotel; und dort war dieser perfektgekleidete Manager des Restaurants(mit blauem Sakko und rotem Schlips), deruns servierte, wenn wir an Land gegessenhaben. Wer die Sahne zunächst in die Tassenahm, dann den Kaffee von ihm eingeschenktmochte, dem sagte er: „You don’t need to stirit up.“ Der trug kurze Hosen und Kniestrümpfeund war dabei eine Respektsperson. DieAufmerksamkeit selbst. Das sah nicht einmallustig aus, so selbstbewusst war dieser Mannmit der typischen Klamottenkombi dort. Jetztwar Zeit wieder wie immer.Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 71 [Seite 71 bis 74 ]

Ich bin

nicht bescheuert

Jul 18, 2021

Wir kannten nur Ampeln, keinen Kreisverkehr,

die Dänen hatten das; wir nicht. Inzwischen

gibt es auch in Deutschland viele Kreisel.

Man kann immer fahren, kaum, dass man

stoppen muss. Schon bist du drin! Es nervt,

an der Ampel zu stehen. An einigen „Lichtzeichenanlagen“

ist zusätzlich noch ein Schild

angebracht: Bitte bis an die Haltelinie fahren,

Kontaktanlage. Das heißt wohl, halte ich zu

weit ab vom Strich, kann ich warten, bis ich

schwarz werde. Oder besser, es bleibt rot für

immer. Man muss vorsichtig sein. Wer die falsche

Farbe im Munde führt, gilt den anderen

als Rassist.

Heutzutage möchten wir alles korrekt haben.

Laschet darf nicht lachen, wenn Steinmeier

die Opfer der Flutkatastrophe würdigt, bäh.

Auch nicht hinten im Bild. Einer hat es gesehen.

Dann wissen es alle. Wer

schreibt, bleibt. Wer filmt, der

blimpt? Ein neues Wort wird benötigt,

wenn die Plagiatsjäger auf

der rechten Spur überholt werden,

von denen, die Deepfakes

„in echt“ können. Jeder pupst mal.

Politik, Kunst, alles Öffentliche ist

massentauglich, die Themen entsprechen

dem Konsens. Wer das

nicht begreift, bleibt allein. Das

ist auch gut so. Ich möchte nicht

gestört werden durch Hassmails.

# Gendersternchen* nachträglich

Auch: Wir würdigen Frauen! Gestern

kam eine Astro-Doku. Die Mädels spielen

neuerdings eine Rolle in der Geschichte,

die es möglich macht, alles noch einmal neu

zu erzählen. Das Fernrohr, das Galileo nahm,

wurde ihm von seiner Cousine geschenkt. Die

Galaxien, die Hubble entdeckte, konnte er nur

sehen, weil seine Geliebte ihm … usw. – bald

wird es eine neue Vergangenheit geben.

Es ist vorgekommen, ich erinnere mich an

eine Meldung vor längerer Zeit, da musste

die Polizei einen Autofahrer stoppen und

behutsam aus dem Kreisverkehr lotsen. Eine

Überwachungskamera oder zufällige Beobachter

hatten bemerkt, dass ein Fahrzeug

im Kreisel verbleibend kreiste, immer wieder

und unzählige Male. Von zweihundert Ringen,

die derjenige bereits gedreht haben soll,

bis die Beamten einschritten, ist die Rede gewesen.

Der moderne Satellit der Landstraße

in seiner Umlaufbahn hält die Stellung. Ich

habe das nicht so genau in Erinnerung. Wahrscheinlich

hat man den Fahrer psychiatrisch

untersucht. Es kann eigentlich nicht verboten

sein, sollte man meinen, zumindest ein paar

Mal rundherum zu fahren?

Wenn im Verkehrsfunk von Staus

die Rede ist, sagen die Moderatoren

dieser Sendung gern, wie viel Zeit

die Verkehrsteilnehmer extra benötigen.

Dann heißt es gelegentlich:

Zeitverlust hier eine Dreiviertelstunde.

Ich merke immer auf: Was

ist Zeitverlust? (Der Planet hält an).

Dann kommt mir der Beknackte in

den Sinn, der, warum auch immer,

nicht aufhörte, in einem Kreisel zu

kreisen. Ich muss an unsere Küchenuhr

denken. Die ist so in der Art einer

Bahnhofsuhr eine große, runde

Platte, schneeweiß mit einem Rand wie eine

Pizza, und rundherum sind die Zahlen, eben

fast wie man das am Gleis kennt, so sieht

sie aus. Ein kleiner, schwarzer Zeiger für

die Stunden, ein langer zur Anzeige der

Minuten. Er ist ebenfalls schwarz. Und,

ganz wie bei der Bahn, hat unsere große

Wanduhr in der Küche auch einen

dünnen, schnellen Sekundenzeiger in

Signalrot.

Diese vorangestellten Beschreibungen

münden in die Idee: Zeit wird sichtbar in

der Bewegung. In einem Weltall sausend,

dürfte es schwierig werden, sie zu bemerken.

Insofern ist Zeit relativ, auch für

jeden Normalen, nicht nur den schlauen

Albert Einstein. Es kommt schon sehr

darauf an, wer, und wo wir sind, gerade

tun. Reißt mir andauernd der Geduldsfaden,

während andere locker traben? Was

bin ich auf der Weltuhr: ein Sekunden-,

Minuten- oder Stundenanzeiger? Dasselbe

Tempo für alle auf

dem Planeten, Zeit,

mit der wir um die

Sonne sausen und

mein eigenes Boot

im blauen Meer.

# Segeln

Ich weiß noch gut,

wie es „nach Bermuda“

war. Fünf

Tage über See,

und dann tauchte

die Insel an der

Kimm auf. Natürlich

haben wir

uns an Bord bewegt. Und ja, auch der Wind

traf unsere Wangen, wir spürten die Zeit.

Es wurde abends dunkel. Und die See rollte

an. Mittags knallte die Sonne, nachts war

es kühl, und die fliegenden Fische krachten

gegen die Kajütaufaubauten und klatschten

ohnmächtig an Deck. Wir hatten zu tun mit

den Segeln, gingen zum Essen in die Kajüte

und spuckten anfangs, weil wir zunächst

noch seekrank waren. Dann wurde es besser,

und auch das bedeutete, dass sich etwas geändert

hatte. Gestern übel, heute besser; das

ist Zeit. Aber das Wetter blieb scheinbar

gleich. Der Himmel war immer blau. Jeder

Tag war warm und ähnelte dem vorangegangenen.

Und nur in der Karte konnten

wir anhand der ermittelten Position begreifen,

dass wir Virgin Gorda und zuletzt

Anegada hinter uns gelassen hatten, das

Ziel, Bermuda näher kam. Ohne die Karte

wäre es nicht nachprüfbar gewesen. Das

rauschende Kielwasser, die besonders unter

Deck im Vorschiff (wo ich meine Koje

hatte) knallende Bugwelle, machte einem

klar, wir drängten nordwärts.

# Dasselbe Bild wie zeitlos gleich an jedem

Tag

Die Segel standen in derselben Position fest.

Ich meine, es war raumschots. Unter Vollzeug

waren unsere weißen Schwingen jedenfalls

gleichbleibend und immer gutgefüllt von einem

konstanten Wind gerundet. Man spürte:

„Capella“ ist unterwegs. Fünf Mal tagaus, tagein

rollte die See aus derselben Richtung heran.

Gleiche Windstärke, gleiche Wellenhöhe

kamen die Buckel dichter, sie hoben uns an,

unterliefen die Yacht und wir ritten unspektakulär

darüber hinweg. Rundherum gleich war

das Meer, der täglich identische, blaue Kreis

bis zum Horizont. Es änderte sich scheinbar

gar nichts.

Und dann tauchte

das Land auf, morgens,

noch vor dem

Frühstück!

Bermuda, Hamilton.

Die Einfahrt später:

Wie im nordischen

Schärengarten lagen,

beschaulich

verteilt, einige Inselbrocken

seitlich

des gewundenen

Fahrwassers. Inzwischen

tuckerte der

Motor, die Segel waren

nach Tagen zum

ersten Mal wieder

hübsch aufgetucht. Wir waren einigermaßen

unsicher, wo wir die Yacht jetzt festmachen

sollten. Hans-Jürgen, unser Kapitän, studierte

die Karte. Lars und ich probierten Landmarken

auszumachen, den passenden Liegeplatz

zu finden. Dann ließen wir uns von Ansässigen

helfen und fanden einen feinen, kleinen

Hafen, der privat zu einem Hotel gehörte,

steuerbords des Wasserweges zwischen den

Ufern. Eigentlich war nach der anderen Seite

hin eine Marina zu erwarten, und auch ein riesiger,

blauer Kreuzfahrer mit dickem Schornstein

hatte dort mächtig aufragend seinen

Liegeplatz gefunden. Unserem Kapitän passte

aber einiges nicht, oder dem Hafenmeister

gefiel es nicht, die Yacht dort hinzuweisen.

Das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere einige

Tage im Hotel; und dort war dieser perfekt

gekleidete Manager des Restaurants

(mit blauem Sakko und rotem Schlips), der

uns servierte, wenn wir an Land gegessen

haben. Wer die Sahne zunächst in die Tasse

nahm, dann den Kaffee von ihm eingeschenkt

mochte, dem sagte er: „You don’t need to stir

it up.“ Der trug kurze Hosen und Kniestrümpfe

und war dabei eine Respektsperson. Die

Aufmerksamkeit selbst. Das sah nicht einmal

lustig aus, so selbstbewusst war dieser Mann

mit der typischen Klamottenkombi dort. Jetzt

war Zeit wieder wie immer.

Jul 18, 2021 - Ich bin nicht bescheuert 71 [Seite 71 bis 74 ]

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