Blogtexte2021_1_12
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Die Angst vor dem Tod muss jeder erleben,
keiner im Hospiz komme drum herum, ich
habe den klugen Sterbebegleiter danach gefragt.
Meine Eltern beneideten ihren Segelfreund
Hannes. Er „habe es gut gemacht“, fanden
sie. Kann man das machen? Hannes war mit
Ehefrau nachts auf dem Nachhauseweg von
einem Opernbesuch am Kantstein direkt vor
dem eigenen Wohnhaus unvermittelt tot
zusammengebrochen. Auch Olaf, ein Freund
vom Onkel meines langjährigen Segelfreundes
Bernd, stürzte, sagt man, (vor dem kleinen
Kino in Blankenese) im noch nicht so fortgeschrittenen
Alter auf dem Gehweg – und
überlebte das nicht; wir waren aber überrascht
und entsetzt. Der war gerade am Beginn
einer möglichen Rente und hatte noch
viel vor. Ebenso der im Ort bekannte Kassierer
einer Bank in Wedel. Dieser Pechvogel
segelte am ersten Tag seiner Verrentung
bei Freunden auf der Ostsee mit. In einer
plötzlichen Bö vor Schleimünde kenterte der
zum Segelboot ungenügend umkonstruierte
Kutter, und der Mann ertrank. Das waren
Beispiele für einen gelungenen Tod, fanden
meine Eltern. Wie man das „mache“, haben sie
tatsächlich darüber nachgedacht? Sie hatten
beim Anwalt eine Verfügung formuliert, was
sie im Falle eines unvermittelt nötigen Krankenhausaufenthalt
ohne Bewusstsein wollten
und was nicht.
Das Hospiz liegt räumlich direkt angeschlossen
nah einem Hamburger Krankenhaus. Es
ist ein Zaun, der beide Anlagen trennt, und
typischerweise gelangt man von einer Nebenstraße
zum Gebäude. Dabei gerät man
gar nicht in den Betrieb der Klinik. Es ist ein
kleiner Parkplatz dort und eine Tür, an der
man sich als Angehöriger legitimieren muss.
Ich erinnere Sylvie. Sie war vorher im Kindergarten
beschäftigt gewesen. Die junge Frau
hatte sich bewusst entschlossen, eine Zeit
lang hier zu arbeiten. Eine Herausforderung,
eine Pflicht für sie. Das war ihr bewusst geworden.
Es tat Not, weil sie begreifen wollte.
Ich denke noch oft daran, wie gut es getan
hat, wenn sie mit ihren Putzkram in der Nähe
still die nötige Arbeit machte. Ich habe ihre
Telefonnummer auf einem Zettel. Ich solle
anrufen, sie koche gern für Freunde und habe
dann original afrikanische Spezialitäten aus
ihrer Heimat bereit, die sie unmöglich alle
allein essen könne. Das habe ich nie getan,
mit dem Tod meiner Mutter war Schluss. Es
ging nicht, nur deswegen.
Ich sehe die Zeit wie im Nebel,
wenn ich daran denke:
Die Leitung, Frau E., die ich
über eine Freundin in einer
ähnlichen Einrichtung als
Ansprechpartnerin empfohlen
bekam. Sie machte es
möglich, dass meine Mutter
noch am selben Tag das angemeldete
Zimmer bekam,
als ich anrief, beschrieb, wie
sich die Lage zugespitzt
habe.
Das war unglaublich.
Der direkt am Sterbenden
verantwortlich begleitende
Herr B. sagte mir, jeder im Hospiz wäre
irgendwann damit konfrontiert, den nahen
Tod als unausweichlich zu bemerken mit der
entsprechenden Angst. Er erzählte von einem
Bewohner, der nach einigen Wochen wie erwartet
starb. Dieser Mann war ganz dünn und
ausgemergelt geradezu, unübersehbar von
seiner schweren Krankheit gezeichnet. Der
scherzte aber nur und war immer auf eine
aufgesetzte Art fröhlich, hatte Geschichten
drauf, als unterhalte er das Personal in einem
Hotel. Dem Herrn B. sagte er gelegentlich:
„Man sagt ja, ich hätte diese schlimme Krankheit,
aber Sie wissen doch, dass das
nicht wahr ist.“ Daraufhin probierte
der Pfleger regelmäßig, behutsam
die Realität in das Empfinden seines
„Gastes“ einzubauen: „Doch. Es
stimmt. Sie sind todkrank und werden
in wenige Wochen oder sogar
schon in einigen Tagen hier bei
uns sterben. Das wissen Sie auch.“
Der Mann bestritt es ein jedes Mal
und machte Scherze. „Darum sind
Sie hier. Weil Sie sterben“, meinte
der professionelle Sterbebegleiter
trotzdem, nicht um den Mann zu quälen. Dann
kam, was kommen musste, erzählte B. mir, es
wäre heftig und unausweichlich über den
knochendünnen Todgeweihten gekommen.
Jeden Tag habe er sich’s einreden können, er
wäre zum Spaß an diesem Ort. Erfolgreich
scheinbar, habe der Mann seine unübersehbare
Endlichkeit im Spiegel und beim Blick
auf seine Gliedmaßen verleugnet.
Aber dann wäre es schließlich passiert. Da
hätte sich der Sterbenskranke eines Nachts
für viele Minuten, ja Stunden weinend an
B. geklammert, gekrampft geradezu. Er griff
zu, ein Kind, das um Hilfe ruft. Hatte rotzend,
schluchzend und zuckend den Pfleger rundum
mit den Armen wie ein Krake unlösbar
eingefangen, bemüht mitgeschleppt auf diesem
unvermeidlichen Weg, wenigstens solange
es geht, noch Kraft in den abgemagerten
Ärmchen ist, Eisenkrallen daraus zu machen.
Es ist immer präsent. Ich erlebe es: Als wäre
auch ich noch dabei gewesen, hätte den Sterbenden
selbst gekannt.
Der Pfleger erinnerte sich, erzählte. Die Flure
hatten gebohnerte Fußböden, und hinter
jeder Tür befand sich ein Sterbezimmer, und
keines der Betten dort ist leer geblieben.
Mit jedem Gestorbenen bekam ein weiterer
Mensch von einer Meldeliste die Gelegenheit,
hier behütet zu sterben. Vor meinem inneren
Auge lebt jetzt gleich alles auf, während ich
diese Zeilen in das Pad tippe: Die Kerze im
Erdgeschoss. Sie wird dort angezündet, wenn
ein vertrauter Gast die letzte Reise antritt
und das Haus verlässt. Als B. erzählte, glaubte
ich dabei zu sein. Ich sah den Mann scheinbar,
während wir im schummrigen Flur leise
redeten und meine Mutter Greta oben im ersten
Stock schlief. Ihr blieb noch Zeit.
Wie viel davon, und was dann?
Der Pfleger, ich selbst und der Mann: Wir
drei schienen nun unentrinnbar unterwegs,
magisch gefangen vom Tod selbst. So plastisch
beschrieb B. mir, wie es war, mit in das
nicht länger auszublendende Schicksal des
Kranken gebunden zu sein. Umklammert. Der
konnte nicht mehr – und hatte die Angst zugelassen.
Er war am Morgen anschließend der Nacht
ganz friedlich gestorben.
:)
Jul 17, 2021 - Wir sterben und wissen es 70 [Seite 69 bis 70 ]