Blogtexte2021_1_12
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Die Vögel auf dem Markt und nicht in
England
Jan 8, 2021
Erdbeeren sind eigentlich Nüsse, wer hätte
das gedacht? Auch Pinguine wären tatsächlich
Vögel, könnten aber nicht fliegen. Das
erklärt der Wissenschaftler.
Wenn es einfach ist, können wir die Schrauben
von den Nägeln unterscheiden. Die
Wissenschaft muss darum kämpfen, exakte
Ergebnisse zu liefern, aber die Tiefe des Marianengrabens
ist bekannt. Der Mount Everest
ist offenbar noch ein wenig höher, als wir’s in
der Schule lernten? Spezialisten visierten
den Gipfel von den benachbarten Bergen
aus an, kontrollierten ihre Messungen exakt,
verglichen die Ergebnisse und korrigierten
die bekannten Fachbücher.
Wie tief schläft ein Mensch, und was ist
die Einheit mit der wir das messen? Wir
können einen Leistenbruch operieren, den
Darm in seiner ganzen Länge durchspiegeln,
aber nicht sagen, wie hoch der Pegel
beim Liebeskummer steigen kann. Die
höchste Flut tiefster Gefühle ist so unfassbar,
wie eine Ebbe der Empathie. Niemand
weiß, in wie viele Teile das Herz bricht,
wenn es passiert.
Hühner sind auch Vögel: „Der Hahn, der
Hahn und nicht die Henne“, sag das mal.
Genaues zuhören macht glücklich. Was für
ein Spaß für uns Kinder zu begreifen:
„Der Hahn, der Hahn.“
Schweigen.
„Du kennst das schon?“
Einmal war’s, da war die Welt noch jung!
„Herr Rossi sucht das Glück“, das lief, als Fernsehen
neu war. Ich habe es als Kind gesehen.
Zeichentrickfilme für Erwachsene, die auch
Kindern empfohlen sind; etwa ab den siebziger
Jahren wurde das Glück überall gesucht
und genauso oft nicht gefunden. Ratgeber,
ein neuer Literaturzweig füllte zunehmend
Regale im Buchladen. Geld mache nicht
glücklich, es macht glücklich, was denn nun?
# Geld kann gezählt werden
Etwas zu messen, das zunächst nur
ein Begriff ist und wofür es auch
keine Skala gibt, ist schwierig. Wir
akzeptieren, die Glücklichkeit nur
ungefähr zu kennen, das Nichtglück
„Schmerz“ wird schärfer abgebildet
und soll präzise vergleichbar sein,
warum? Mein Zahnarzt glaubt aus
Erfahrung (oder weil er es im Studium
gesagt bekam) Rothaarige
seien schmerzempfindlicher. Krankenschwestern
sehen das genauso.
Ein treffendes Bonmot in der allgemeinen
Medizin ist es allemal, und
stimmt das nun, oder ist es nur ein
Tipp, der von allen nachgeplappert
wird? In der Anästhesie lernen Menschen
einzuschätzen, wie hoch die
individuelle Dosis sein sollte, jemanden
erfolgreich wie gewünscht
zu sedieren. Hier muss das Maß in
Millilitern zum jeweiligen Patienten passen.
Wir müssen wissen, wie unglücklich jemand
ist, um angemessen helfen zu können. Der
Arzt fragt: „Auf einer Skala von eins bis zehn,
wie stark tut es Ihnen weh?“
Gefühle zu messen, ist nicht einfach. Wie
melancholisch muss einer sein, damit es als
ausgewachsene Depression anerkannt wird?
Wie verrückt musst du sein, um krank zu werden
oder wie ärgerlich wird ein Mensch (in
Zahlen dargestellt)? Ab wann bist du „Gefährder“,
verlierst Grundrechte, Kommissare und
Trittbrettfahrer*innen spionieren dir in der
Annahme nach, du wärest ja bescheuert genug
und merkst es deswegen nicht? Wer nun
nicht erst recht paranoid wird, kann Können:
Bumms, die Kunst! Leider daneben, mit einer
Kanone auf den Dorfspatz gefeuert und das
Rathaus demoliert? Womit hat derjenige, der
schießt, die Tiefe deines Hirns ausgelotet, die
Länge der Lunte berechnet? Der Zollstock,
das Unberechenbare einer Gefahr auszumessen,
wird nirgends angeboten.
# Unsere Zukunft ist gefährdet
Wir alle sind Gefährder. Grün ist Leben, steht
an der Baumschule. Ein alter Hut. Wir heben
unsere Erde aus den Angeln, verpesten die
Luft, zerstören die Lunge des Planeten. Wie
wird die Länge gemessen, die der Hebel haben
muss, um alles noch rechtzeitig zurechtzurücken?
Es wird gestritten bis zum letzten Tag.
Pompeji ist aktuell. Schon früh wurde gewarnt
„der Vulkan bräche aus“, habe ich in der
Schule gelernt. Aber die Menschen wollten
es nicht hören, mahnte die alte Grundschullehrerin.
Ein kleiner Weltuntergang wäre es
gewesen, und wir sollten daraus lernen, nie
einen großen voranzutreiben? Einen antiken
Imbiss haben sie dort gerade ausgegraben,
gut erhalten, wie grad gestern zurückgelassen
und vorgestern erbaut. Ein Gast bekritzelte
die hübsch gemalte Pizzawerbung
am Lokal von damals mit einem primitiven
Schmäh. Das Ganze ist zu unglaublich, um
wahr zu sein; und gibt’s schon wieder neue
Hitlertagebücher? Mir kommen Zweifel. Was
alles auftaucht: Kornkreise, Alien-Monolithen
in der Wüste? Ein „drive thru“ und „to go“ für
den Zenturio, dazu plastisch, farbig und wie
neuwertig mit Schüsseln im Tresen für die
Hähnchen „zum hier essen“ eingerichtet; das
ist doch nicht wahr!?
Habe ich gedacht.
# Und noch etwas erinnert an moderne Gaststätten:
Die Gäste verewigen sich in Graffiti.
Heute findet man von Kunden hinterlassene
derbe Sprüche zwar eher auf den Wänden und
Türen der Toiletten als auf dem Tresen. Und
von der Thematik passt das, was da vor 2000
Jahren jemand über einen gewissen Nicias
berichtet, auch besser in sanitäre Einrichtungen.
Aber davon abgesehen ist die Aussage,
die da jemand neben eines der Bilder am
Tresen geritzt hat, geradezu zeitlos: «Nicias
schamloser Scheisser», steht da in schönstem
Latein. Ob Nicias ein Bekannter des Kunden
war oder vielleicht der Ladenbesitzer – und
der Spruch die Rache für schlechtes
Essen oder zu hohe Preise? Wir
werden es nie erfahren. (Neue Züricher
Zeitung, 27.12.2020).
Dann kam die Lavawolke, und alle
waren tot.
Ein Graffito blieb: Es lebe die
Kunst!
Wir Menschen haben uns die Worte
zu eigen gemacht und das Leben
beschreibbar. Gleichwohl sind
damit neue Probleme entstanden.
So wie ein Mensch eine neue Sprache
erst lernen muss, sollten wir
lernen, unser Denken und Sprechen
daraufhin zu prüfen, was wir
meinen, wenn wir etwas sagen.
Wir können probieren, das Glück in
Geld oder Besitz zu messen. Je mehr davon,
desto glücklicher, aber es funktioniert offensichtlich
nicht. Nun gibt es eine überraschende
Studie, gemessen wird in Vögeln. Nicht „je
mehr du vögeln, desto glücklicher du sein“,
aber trotzdem logisch …
Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 7 [Seite 7 bis 9 ]