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Wir sterben und wissen

es

Jul 17, 2021

Als freier, künstlerischer

Maler kommt man nicht

umhin zu denken. Alle

denken, auch die, die

keine Künstler sind, tun

es. Manche bilden sich

was drauf ein; niemand

stellt es ihnen ab, wenn

Denken nervt, krank

macht oder lästig wird. Es geschieht uns.

Nicht alle denken darüber nach, wie sie es

tun und ob es anders geht. Alle Aktivitäten

werden von Gedanken begleitet. Manche reden

von Bauchentscheidungen, und das soll

wohl heißen, dass dabei gerade nicht gedacht

würde. Dann kommen Gefühle ins Spiel. Einige

sagen, Emotionen lösen Gedanken aus,

und andere finden die Gedanken ursächlich

für die Entwicklung einer Gefühlslage. Tatsächlich

gibt es die Möglichkeit, einen Kurs

zu besuchen oder Literatur zu konsumieren,

die einen befähigen soll, auf das eigene Denken

manipulativ einzuwirken. Dadurch würde

derjenige selbstbestimmter, und das hätte

sowohl Einfluss darauf, gesteckte Ziele zu

erreichen wie das Gemüt zu beruhigen. Die

Logik dahinter ist klar: Lasse ich mich von der

Umgebung steuern oder nehme das Ruder

selbst in die Hand?

Ich habe schon Segelanfänger in meinem

Boot an die Pinne gelassen. Es ist erstaunlich,

dass es ihnen, wenn sie besonders unbedarft

sind, nicht gelingt mit dem Boot eine zielgerichtete

Fahrt zu machen. Nichtsegler, die gar

nichts von der Bedienung einer Jolle wissen,

können nicht segeln. Das bedeutet, ihr Schiff

dreht Kreise, treibt irgendwie, die Segel flattern

oder stehen back. Die Unfähigen können

den Sinn vom aufgeholten oder tief herabgelassenen

Schwert nicht verstehen, die Platte

unter dem Boot, die sie Kiel nennen und die

eine planbare Fahrt erst möglich macht. Sie

wissen nicht, mit der Pinne umzugehen. Sie

drücken diese nach Lee von sich weg, wundern

sich erst, dass das Boot nun genau in

die andere Richzung segelt, als sie meinen,

und im nächsten Moment flattern die Segel

usw. – da sind wahrscheinlich wenige, die

dann schnell ganz von allein lernen. Mit einigen

helfenden Worten bessert sich die Lage

jedoch bald.

Angenommen, wir Menschen sind so ein Boot

selbst; das soll heißen, unser Körper wäre die

bedienbare Struktur, der Kopf mit dem Gehirn

und seinen Richtorganen der Kapitän. Das

habe ja nicht ich mir ausgedacht, als ein Bild,

und das kann man auch mit einem anderen

Fahrzeug darstellen. Eine Kutsche mit Fahrgästen,

und die sollen dann zu einer Einigung

kommen, dem Kutscher Anweisungen geben,

und der wiederum kennt sich mit den Pferden

aus, ist mit der Straße vertraut und kann

notfalls bremsen.

Normal Arbeitende

mutmaßen,

dass Künstler

nicht wissen,

was sie tun und

das Talent ihnen

hilft, Sachen zu

machen, für die

sie selbst zu hart

arbeiten müssten.

Viele glauben,

dem Künstler

falle alles zu.

Andere meinen,

Maler würden

erst nach dem

Tod berühmt und

seien deswegen

dumm, weil sie

am Hungertuch

nagten. Noch

wieder welche

verweisen auf

Van Gogh und

erkennen das Kranksein in der Kunst, bei Musikern

bemerken sie vordergründig nur das

ungezügelte Leben mit Alkohol und Drogen.

Verdient jemand außergewöhnlich, steht der

Neid im Raum; das ist ja auch beim Fußball

ein Thema. Keiner bewegt sich annähernd wie

ein Ronaldo, aber alle schauen begeistert zu,

und schon geht wieder die Debatte los über’s

Geld. Ich gehe dann aus dem Raum, und das

ist einer der Gründe, warum Kreativität einsam

macht. Ganz wenige nicht künstlerisch

schaffende Normale erkennen die Leistung

der Kreativen deutlich und reflektiert an. Das

sind die wenigen, die nicht neiden, spotten

oder plappern, was schon gesagt worden ist.

Wir kommen auf die Welt an einem Ort, den

wir dann zum Ausgangspunkt unseres Lebens

machen müssen (und diese Unfreiheit

am Beginn akzeptieren). Im günstigen Fall

werden Eltern, Großeltern und Geschwister

sowie bald auch Freunde den Rahmen so garnieren,

dass wir schnell lernen, uns zurechtzufinden.

Damit wächst der Anteil an

Eigenverantwortung, aber das Gefühl

und die Erfahrung, alles durch einfaches

Schreien erreichen zu können,

weil Mama dann kommt, genügt nicht

mehr. Wenn wir beim Boot als Sinnbild

weiterdenken, stellt sich die Frage,

welcher Typ der unsrige ist und in welchem

Revier wir starten? Wer sind wir,

was werden wir sein: Eine kleine Jolle,

die man sowohl dafür nutzen kann, am

Wochenende wie zum Camping eine

Tour zu segeln, bei der man in einem

nahen Hafen am Flusslauf übernachtet,

am Sonntag zurückkehrt und auch

mit Gleichgesinnten Regatten segelt –

oder ein auf der Werft im Bau befindliches

Containerschiff, das, wenn es fertig

ist, zu den größten der Welt zählen

wird und von dem andere erwarten,

dass es seinen Dienst wie geplant auf

den Ozeanen der Welt tut – das sind geerbte

Erwartungen unserer Umgebung und eventuell

genetische Anlagen dazu.

Niemand kommt umhin, bald über den Tod

nachzudenken, schon als kleines Kind. Kinder

fragen ständig. Es dauert nicht lange,

das Leben grundsätzlich zu beschreiben. Wir

werden geboren, wachsen einige Zeit lang

auf und lernen, erreichen unsere Körpergröße,

begreifen Geschlecht, Sexualität. Im

mittleren Teil des typischen Menschenleben

steht, so sollte es sein, eigenverantwortliches

Dasein, Existenzsicherung, individuelle

Entfaltung persönlicher Vorlieben, Sexualität

und Familie, bis dann Rente und Tod unausweichlich

näher kommen. Den Sinn von

Fehlern, Feindseligkeit und Krankheit lernen

wir kennen. Wir stellen die Befriedigung von

Trieben, intellektuelle oder anderweitige Vorlieben

den erstgenannten Schwierigkeiten

gegenüber, wenn wir verstehen lernen, dass

an einem selbst gesteckten Ziel anzukommen

befriedigt. Ob das bedeutet, aus einer

kleinen Segeljolle einen Großsegler oder

Öltanker machen zu müssen – sich zeigen

wird, dass derartige, grundsätzlich operative

Änderungen nicht gelingen können oder ob

wir das Revier wechseln müssen, uns letztlich

genügt, die Segel anzupassen, je nach Wind

und Wetter – das wird unser spezielles Leben

sein.

Irgendwann müssen wir beginnen, darüber

nachzudenken.

Erstaunlicherweise scheinen einige das

nicht nötig zu haben und andere mehr. Und

wieder welche müssten nachdenken, tun es

aber nicht. Ich habe mit Herrn B. gesprochen.

Dieser Mann betreut sterbende Menschen im

Hospiz. Meine Mutter ist in dieser Einrichtung

verstorben. Sie war exakt vier Wochen dort.

Meine Mutter hatte, schon im Bewusstsein

ihres Todes in den Tagen vor dem Umzug in

ihr Sterbezimmer, noch in der eigenen Wohnung

allein, den Verstand verloren. Sie wurde

möglicherweise aufgrund von Angst nicht

mehr wirklich klar, während wir ihr Sterben

begleiteten. Noch wenige Wochen vor dem

endgültigen Abschied in Wedel hatte sie

vehement postuliert: „Ich verlasse meine

Wohnung nicht mehr!“ Damit konterkarierte

sie den ursprünglichen Plan, den durch eine

Krebserkrankung unausweichlich vorhergesagten

Tod im Hospiz zu erleiden, wofür wir

Angehörigen mit ihr zusammen mehrere

Häuser kontaktiert hatten.

Jul 17, 2021 - Wir sterben und wissen es 69 [Seite 69 bis 70 ]

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