Blogtexte2021_1_12

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Der Text beginnt mit Beschreibungen des Outensund der Rolle von Randgruppen in einerGesellschaft. Was ist eine Gruppe? Sind Homosexuelleeine Gruppe? Sie werden dazu.Sie können sich solidarisieren, sozial zusammenfinden,denn zunächst sind es einzelnewie alle anderen auch. Die Normalität endet,wenn die anderen sich für normal erklärenund die Gesellschaft wie ein Block gegenEinzelne steht. Die Umgebung ist ein Feld, indem der Mensch sich den Weg sucht. Wo sichTüren öffnen, kann ich voran gehen und michentwickeln. Wenn ein „Ausländer“ um Einlassin die Gesellschaft der „Inländer“ bittet, verlangtman ihm ab, sich „deutsch“ zu verhalten,und so ist es auch mit anderem.Nun wird dem syrischen Flüchtling ein Kurszum Lernen des Deutschseins empfohlen,und er muss einen Test bestehen. Dem Homosexuellenwurde empfohlen, seine sexuelleAusrichtung zu ändern, und das hatnicht funktioniert. Dem psychisch Erkranktenverordnet der Arzt eine Medizin, sie soll ihmdie Gesellschaft in einem rosaroten Licht erscheinenlassen, damit „der Psycho“ nicht längervon den anderen gestört und an den Widersprüchenihrer Wahrheiten irre wird. Es istnicht einfach, normal zu sein, wenn es wehtutzu bemerken, wie abartig selbstverlogen einnicht kleiner Teil lebt.Ich habe mich solange intensiv für Politikinteressiert, bis ich meine Naivität begriffenhabe. Einen Vorgeschmack auf die Entzauberungder Demokratie, die meiner Bereitschaftdas System mitzutragen, grundsätzlich einenSchlusspunkt setzte, möchte ich erzählen.Das hier, erzähle ich nicht: Was ich erlebte, istohne Beispiel in der ganzen Zeit meines Lebensvorher. Es hat mich für immer verändert.Mein Frust, der dazu führte, dass ich heutzutagejede politische Wahl boykottiere wieder armseligste, tumbe Nichtwähler, der ausdumpfer Logik dem Staat trotzt. Ich benötigedafür keine gleichgesinnten Reichsbürgerund dergleichen verschworene Gesellschaft,keine sozialen Netzwerke oder Stammtisch.Ich habe als verbliebene Möglichkeit auszustellenund meine Meinung zu sagen dieseWebseite. Dies ist nicht China. Ich liebe dendeutschen Rechtsstaat, wirklich. Aber ichbaue ihn nicht mehr mit, ich bin der Anarchistim Atelier und wüte im stillen Kämmerlein.Das schaffte die (um bei den Galliern zu bleiben)Kleopatra im Turm. Eine eitle, verblicheneSchönheit auf dem Thronganz oben über den Verleihnixenund Nixalsverdrussen,wie sie überall vorkommen.Im wichtig aufragenden Hochhäuschen,dessen ebenfallsin die Jahre gekommene Architekturdaran erinnert, wieprovinziell es westlich vonLurup ist, wo einige hingestreuteHäusergruppen nichtaufgeben (noch) Widerstandzu leisten und nach einemStadtkern fragen. Das erübrigtsich mit dem baldigen totalenLeerstand des „Einkaufstempels“, wie dasTageblatt unser „Zentrum“ (noch) nennt. Unddie Tage des Tageblattes? Sie sind gezählt,glaube ich. Bald haben wir noch eine „Nord-Zeitung“, die erzählt dann unter „Vermischtes“was von Lübeck über Bergedorf bis Husumso los ist, und die sinnigen Döntjes des einenoder anderen Glossisten werden uns erheitern.Ist doch egal, wer regiert und was vorder Tür passiert. Wir haben ja das Internet,und da steht alles wichtige drin, von Q-Anon,und dass Bill Gates an allem Schuld sei, genügtdoch. Dann, wenn die Provinz den Resteigener Identität schluckt, in sich selbst hineinmampft,was sie längst ist, die Düpenaustadtzu „Ostpinneberg“ wurde – dann wird eskeinen Sockel für eigene Politikklüngel hiermehr geben.Und das ist auch gut so.Eigenes Schwimmbad, eigene Stadtwerkeund andere politisch hochtrabende Kerneeiner Stadt erübrigen sich, wenn wir zumVorort umdeklariert würden. Ich kann’s kaumerwarten! Politik, nie wieder.Erste Einblicke in die Struktur dynamischerBewegungen, andere zu mobben, bekam ichbereits vor einigen Jahren, ohne zu begreifen.Ein nebensächliches Erlebnis, das ich erstheute in mein inzwischen gewonnenes Verständnisvon Menschen in der Politik und derUnmöglichkeit, in diesem Umfeld Freundschaftenzu leben, einordnen kann. Das wareine Feier, mutmaßlich ein Geburtstag. Siefand bei einer an der Unterelbe bekanntenFamilie statt. Das ganze Haus erinnere ichmenschengefüllt mit Seglern aller Generationen,kann nicht mehr sagen, ob einer meinerFreunde gerade älter geworden war oder seineEltern eingeladen hatten.Ich habe die Geschichte vor einigen Jahrenam Ehemann einer angesehenen Frontfrauder entsprechenden Partei ausprobiert. Ichkenne wahnsinnig viele Leute und kommegern ins Gespräch. Meine Einschätzung, wiees bei den oberen Zehntausend einer politischenPartei zugeht, hat der liebe Mann vollund ganz bestätigt. Ich jedenfalls habe eineTräne verdrückt, anschließend – und michselbst wiedergefunden in einem Momentvollkommener Verlorenheit.Ich erinnere mich: Da war gerade die Regierunggebildet worden mit Angela Merkel alsKanzlerin und dem frischgebackenen AußenministerGuido Westerwelle. Ich hatte nochnicht mitbekommen, dass das nicht wenigezu massiver Kritik anregte. Ich erinnerte nochden Wahlabend. Nach Jahren der Dümpelei inder Nähe der Fünf-Prozent-Marke, hatte dieFDP es geschaft, erkennbar zu punkten undkonnte mit der CDU eine stabile Koalitionbilden. Das war ganz bestimmt das Verdienstdes neuen Außenministers, der unermüdlichmit dem „Guidomobil“ herumgefahren warin jedes Dorf und Städtchen, um für sich undseine Leute Werbung zu machen. Und so sehrhat er gestrahlt und sich wie ein kleiner Jungegefreut an diesem Abend, als die Stimmenausgezählt waren, dass ich sein fröhlichesLachen, die echte Freude in seinem Gesichtnie mehr vergessen werde. Ich habe das imFernsehen gesehen und gedacht, wie seltenes ist, dass jemand aus der Politik lachenkann, ohne wie ein Plakat zu erscheinen. DieMaske der Freundlichkeit, das ist es doch fürgewöhnlich.Dazu kam, dass ich ein Interview mit Westerwellesah, und das war im Kinderkanal. WirEltern kannten über das „Sandmännchen“ hinausalle Sendungen. Wurden groß mit MileyCyrus und Selena Gomez, als gehörten die zurFamilie. Die „Zauberer vom Waverly Place“oder „Wissen macht Ah!“ mit Shary und Ralphanzusehen, Standard. Guido Westerwelle wurdevon einer Schülerin gefragt, was er gerngewesen wäre, wenn es ihn nicht in die Politikgezogen hätte? „Ein Maler“, er wäre gernKünstler, meinte er zu meiner Überraschung.Er war mehr als sympathisch in dieser ungezwungenenUmgebung mit den beidenKindern, die ihm schwierige Fragen gestellthaben, und konnte authentisch antworten.Das Qualitätsmerkmal seines Politikerseinswar für mich also die menschliche Seite,Offenheit, Glaubwürdigkeit deswegen. Dazupasste, dass es bekannt wurde, er sei mit einemMann zusammen. Für mich ein Vorbild,nicht weil ich Männer liebe, sondern, weil erseine Angst vor den anderen in den Griff bekommenhatte. Ich bemerkte etwas, was ichgar nicht verstand, und wollte es in meinenLebensweg einbauen, davon lernen. Inzwischenwar er Außenminister, und in diesemAmt hat er eine unglückliche Figur gemacht.Sein schlechtes Englisch, zum Spott der Nationund zum Abschuss freigegeben, undschwul ist er auch noch. So muss es gewesensein, aber das hatte ich nicht mitbekommen.Für mich war das der nette Mann, der sich sofreuen konnte, weil er gewonnen hatte, wieein kleiner Junge in einem Wettbewerb.Der gern Maler wäre.Meine Naivität, nie hat mich jemand der altenElbsegler angefeindet, weil ich etwa inder Klappse gewesen wäre – aber von einemMoment zum anderen wurde ich selbst zu„Westerwelle und schwul“, als ich auf diesererwähnten Feier wie nebenbei etwas positivesüber den neuen Minister sagte.„Den. Den magst du!?“Etwa fünfzehn alte, verdiente, vornehmlichaus der Generation meiner Eltern anwesendeSegler-Recken, die große Schiffe besaßenund manche Langstrecke siegreich nachHause gebracht hatten, Pokale angehäuft,rund Seeland regattiert hatten, regelmäßigEdinburgh durch und über die kalte, stürmischeNordsee ertrotzt hatten – verstummtenschlagartig. Das Gebrabbel einer ganzen Feierkam für einen Moment zum Schweigen,unglaublich. Die Gesichter drehten sich allemir zu, und so leise war das, und wie die michangesehen haben.Das werde ich nie mehr vergessen.:(Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 6 [Seite 4 bis 6 ]

Die Vögel auf dem Markt und nicht inEnglandJan 8, 2021Erdbeeren sind eigentlich Nüsse, wer hättedas gedacht? Auch Pinguine wären tatsächlichVögel, könnten aber nicht fliegen. Daserklärt der Wissenschaftler.Wenn es einfach ist, können wir die Schraubenvon den Nägeln unterscheiden. DieWissenschaft muss darum kämpfen, exakteErgebnisse zu liefern, aber die Tiefe des Marianengrabensist bekannt. Der Mount Everestist offenbar noch ein wenig höher, als wir’s inder Schule lernten? Spezialisten visiertenden Gipfel von den benachbarten Bergenaus an, kontrollierten ihre Messungen exakt,verglichen die Ergebnisse und korrigiertendie bekannten Fachbücher.Wie tief schläft ein Mensch, und was istdie Einheit mit der wir das messen? Wirkönnen einen Leistenbruch operieren, denDarm in seiner ganzen Länge durchspiegeln,aber nicht sagen, wie hoch der Pegelbeim Liebeskummer steigen kann. Diehöchste Flut tiefster Gefühle ist so unfassbar,wie eine Ebbe der Empathie. Niemandweiß, in wie viele Teile das Herz bricht,wenn es passiert.Hühner sind auch Vögel: „Der Hahn, derHahn und nicht die Henne“, sag das mal.Genaues zuhören macht glücklich. Was fürein Spaß für uns Kinder zu begreifen:„Der Hahn, der Hahn.“Schweigen.„Du kennst das schon?“Einmal war’s, da war die Welt noch jung!„Herr Rossi sucht das Glück“, das lief, als Fernsehenneu war. Ich habe es als Kind gesehen.Zeichentrickfilme für Erwachsene, die auchKindern empfohlen sind; etwa ab den siebzigerJahren wurde das Glück überall gesuchtund genauso oft nicht gefunden. Ratgeber,ein neuer Literaturzweig füllte zunehmendRegale im Buchladen. Geld mache nichtglücklich, es macht glücklich, was denn nun?# Geld kann gezählt werdenEtwas zu messen, das zunächst nurein Begriff ist und wofür es auchkeine Skala gibt, ist schwierig. Wirakzeptieren, die Glücklichkeit nurungefähr zu kennen, das Nichtglück„Schmerz“ wird schärfer abgebildetund soll präzise vergleichbar sein,warum? Mein Zahnarzt glaubt ausErfahrung (oder weil er es im Studiumgesagt bekam) Rothaarigeseien schmerzempfindlicher. Krankenschwesternsehen das genauso.Ein treffendes Bonmot in der allgemeinenMedizin ist es allemal, undstimmt das nun, oder ist es nur einTipp, der von allen nachgeplappertwird? In der Anästhesie lernen Menscheneinzuschätzen, wie hoch dieindividuelle Dosis sein sollte, jemandenerfolgreich wie gewünschtzu sedieren. Hier muss das Maß inMillilitern zum jeweiligen Patienten passen.Wir müssen wissen, wie unglücklich jemandist, um angemessen helfen zu können. DerArzt fragt: „Auf einer Skala von eins bis zehn,wie stark tut es Ihnen weh?“Gefühle zu messen, ist nicht einfach. Wiemelancholisch muss einer sein, damit es alsausgewachsene Depression anerkannt wird?Wie verrückt musst du sein, um krank zu werdenoder wie ärgerlich wird ein Mensch (inZahlen dargestellt)? Ab wann bist du „Gefährder“,verlierst Grundrechte, Kommissare undTrittbrettfahrer*innen spionieren dir in derAnnahme nach, du wärest ja bescheuert genugund merkst es deswegen nicht? Wer nunnicht erst recht paranoid wird, kann Können:Bumms, die Kunst! Leider daneben, mit einerKanone auf den Dorfspatz gefeuert und dasRathaus demoliert? Womit hat derjenige, derschießt, die Tiefe deines Hirns ausgelotet, dieLänge der Lunte berechnet? Der Zollstock,das Unberechenbare einer Gefahr auszumessen,wird nirgends angeboten.# Unsere Zukunft ist gefährdetWir alle sind Gefährder. Grün ist Leben, stehtan der Baumschule. Ein alter Hut. Wir hebenunsere Erde aus den Angeln, verpesten dieLuft, zerstören die Lunge des Planeten. Wiewird die Länge gemessen, die der Hebel habenmuss, um alles noch rechtzeitig zurechtzurücken?Es wird gestritten bis zum letzten Tag.Pompeji ist aktuell. Schon früh wurde gewarnt„der Vulkan bräche aus“, habe ich in derSchule gelernt. Aber die Menschen wolltenes nicht hören, mahnte die alte Grundschullehrerin.Ein kleiner Weltuntergang wäre esgewesen, und wir sollten daraus lernen, nieeinen großen voranzutreiben? Einen antikenImbiss haben sie dort gerade ausgegraben,gut erhalten, wie grad gestern zurückgelassenund vorgestern erbaut. Ein Gast bekritzeltedie hübsch gemalte Pizzawerbungam Lokal von damals mit einem primitivenSchmäh. Das Ganze ist zu unglaublich, umwahr zu sein; und gibt’s schon wieder neueHitlertagebücher? Mir kommen Zweifel. Wasalles auftaucht: Kornkreise, Alien-Monolithenin der Wüste? Ein „drive thru“ und „to go“ fürden Zenturio, dazu plastisch, farbig und wieneuwertig mit Schüsseln im Tresen für dieHähnchen „zum hier essen“ eingerichtet; dasist doch nicht wahr!?Habe ich gedacht.# Und noch etwas erinnert an moderne Gaststätten:Die Gäste verewigen sich in Graffiti.Heute findet man von Kunden hinterlassenederbe Sprüche zwar eher auf den Wänden undTüren der Toiletten als auf dem Tresen. Undvon der Thematik passt das, was da vor 2000Jahren jemand über einen gewissen Niciasberichtet, auch besser in sanitäre Einrichtungen.Aber davon abgesehen ist die Aussage,die da jemand neben eines der Bilder amTresen geritzt hat, geradezu zeitlos: «Niciasschamloser Scheisser», steht da in schönstemLatein. Ob Nicias ein Bekannter des Kundenwar oder vielleicht der Ladenbesitzer – undder Spruch die Rache für schlechtesEssen oder zu hohe Preise? Wirwerden es nie erfahren. (Neue ZüricherZeitung, 27.12.2020).Dann kam die Lavawolke, und allewaren tot.Ein Graffito blieb: Es lebe dieKunst!Wir Menschen haben uns die Wortezu eigen gemacht und das Lebenbeschreibbar. Gleichwohl sinddamit neue Probleme entstanden.So wie ein Mensch eine neue Spracheerst lernen muss, sollten wirlernen, unser Denken und Sprechendaraufhin zu prüfen, was wirmeinen, wenn wir etwas sagen.Wir können probieren, das Glück inGeld oder Besitz zu messen. Je mehr davon,desto glücklicher, aber es funktioniert offensichtlichnicht. Nun gibt es eine überraschendeStudie, gemessen wird in Vögeln. Nicht „jemehr du vögeln, desto glücklicher du sein“,aber trotzdem logisch …Jan 8, 2021 - Die Vögel auf dem Markt und nicht in England 7 [Seite 7 bis 9 ]

Der Text beginnt mit Beschreibungen des Outens

und der Rolle von Randgruppen in einer

Gesellschaft. Was ist eine Gruppe? Sind Homosexuelle

eine Gruppe? Sie werden dazu.

Sie können sich solidarisieren, sozial zusammenfinden,

denn zunächst sind es einzelne

wie alle anderen auch. Die Normalität endet,

wenn die anderen sich für normal erklären

und die Gesellschaft wie ein Block gegen

Einzelne steht. Die Umgebung ist ein Feld, in

dem der Mensch sich den Weg sucht. Wo sich

Türen öffnen, kann ich voran gehen und mich

entwickeln. Wenn ein „Ausländer“ um Einlass

in die Gesellschaft der „Inländer“ bittet, verlangt

man ihm ab, sich „deutsch“ zu verhalten,

und so ist es auch mit anderem.

Nun wird dem syrischen Flüchtling ein Kurs

zum Lernen des Deutschseins empfohlen,

und er muss einen Test bestehen. Dem Homosexuellen

wurde empfohlen, seine sexuelle

Ausrichtung zu ändern, und das hat

nicht funktioniert. Dem psychisch Erkrankten

verordnet der Arzt eine Medizin, sie soll ihm

die Gesellschaft in einem rosaroten Licht erscheinen

lassen, damit „der Psycho“ nicht länger

von den anderen gestört und an den Widersprüchen

ihrer Wahrheiten irre wird. Es ist

nicht einfach, normal zu sein, wenn es wehtut

zu bemerken, wie abartig selbstverlogen ein

nicht kleiner Teil lebt.

Ich habe mich solange intensiv für Politik

interessiert, bis ich meine Naivität begriffen

habe. Einen Vorgeschmack auf die Entzauberung

der Demokratie, die meiner Bereitschaft

das System mitzutragen, grundsätzlich einen

Schlusspunkt setzte, möchte ich erzählen.

Das hier, erzähle ich nicht: Was ich erlebte, ist

ohne Beispiel in der ganzen Zeit meines Lebens

vorher. Es hat mich für immer verändert.

Mein Frust, der dazu führte, dass ich heutzutage

jede politische Wahl boykottiere wie

der armseligste, tumbe Nichtwähler, der aus

dumpfer Logik dem Staat trotzt. Ich benötige

dafür keine gleichgesinnten Reichsbürger

und dergleichen verschworene Gesellschaft,

keine sozialen Netzwerke oder Stammtisch.

Ich habe als verbliebene Möglichkeit auszustellen

und meine Meinung zu sagen diese

Webseite. Dies ist nicht China. Ich liebe den

deutschen Rechtsstaat, wirklich. Aber ich

baue ihn nicht mehr mit, ich bin der Anarchist

im Atelier und wüte im stillen Kämmerlein.

Das schaffte die (um bei den Galliern zu bleiben)

Kleopatra im Turm. Eine eitle, verblichene

Schönheit auf dem Thron

ganz oben über den Verleihnixen

und Nixalsverdrussen,

wie sie überall vorkommen.

Im wichtig aufragenden Hochhäuschen,

dessen ebenfalls

in die Jahre gekommene Architektur

daran erinnert, wie

provinziell es westlich von

Lurup ist, wo einige hingestreute

Häusergruppen nicht

aufgeben (noch) Widerstand

zu leisten und nach einem

Stadtkern fragen. Das erübrigt

sich mit dem baldigen totalen

Leerstand des „Einkaufstempels“, wie das

Tageblatt unser „Zentrum“ (noch) nennt. Und

die Tage des Tageblattes? Sie sind gezählt,

glaube ich. Bald haben wir noch eine „Nord-

Zeitung“, die erzählt dann unter „Vermischtes“

was von Lübeck über Bergedorf bis Husum

so los ist, und die sinnigen Döntjes des einen

oder anderen Glossisten werden uns erheitern.

Ist doch egal, wer regiert und was vor

der Tür passiert. Wir haben ja das Internet,

und da steht alles wichtige drin, von Q-Anon,

und dass Bill Gates an allem Schuld sei, genügt

doch. Dann, wenn die Provinz den Rest

eigener Identität schluckt, in sich selbst hineinmampft,

was sie längst ist, die Düpenaustadt

zu „Ostpinneberg“ wurde – dann wird es

keinen Sockel für eigene Politikklüngel hier

mehr geben.

Und das ist auch gut so.

Eigenes Schwimmbad, eigene Stadtwerke

und andere politisch hochtrabende Kerne

einer Stadt erübrigen sich, wenn wir zum

Vorort umdeklariert würden. Ich kann’s kaum

erwarten! Politik, nie wieder.

Erste Einblicke in die Struktur dynamischer

Bewegungen, andere zu mobben, bekam ich

bereits vor einigen Jahren, ohne zu begreifen.

Ein nebensächliches Erlebnis, das ich erst

heute in mein inzwischen gewonnenes Verständnis

von Menschen in der Politik und der

Unmöglichkeit, in diesem Umfeld Freundschaften

zu leben, einordnen kann. Das war

eine Feier, mutmaßlich ein Geburtstag. Sie

fand bei einer an der Unterelbe bekannten

Familie statt. Das ganze Haus erinnere ich

menschengefüllt mit Seglern aller Generationen,

kann nicht mehr sagen, ob einer meiner

Freunde gerade älter geworden war oder seine

Eltern eingeladen hatten.

Ich habe die Geschichte vor einigen Jahren

am Ehemann einer angesehenen Frontfrau

der entsprechenden Partei ausprobiert. Ich

kenne wahnsinnig viele Leute und komme

gern ins Gespräch. Meine Einschätzung, wie

es bei den oberen Zehntausend einer politischen

Partei zugeht, hat der liebe Mann voll

und ganz bestätigt. Ich jedenfalls habe eine

Träne verdrückt, anschließend – und mich

selbst wiedergefunden in einem Moment

vollkommener Verlorenheit.

Ich erinnere mich: Da war gerade die Regierung

gebildet worden mit Angela Merkel als

Kanzlerin und dem frischgebackenen Außenminister

Guido Westerwelle. Ich hatte noch

nicht mitbekommen, dass das nicht wenige

zu massiver Kritik anregte. Ich erinnerte noch

den Wahlabend. Nach Jahren der Dümpelei in

der Nähe der Fünf-Prozent-Marke, hatte die

FDP es geschaft, erkennbar zu punkten und

konnte mit der CDU eine stabile Koalition

bilden. Das war ganz bestimmt das Verdienst

des neuen Außenministers, der unermüdlich

mit dem „Guidomobil“ herumgefahren war

in jedes Dorf und Städtchen, um für sich und

seine Leute Werbung zu machen. Und so sehr

hat er gestrahlt und sich wie ein kleiner Junge

gefreut an diesem Abend, als die Stimmen

ausgezählt waren, dass ich sein fröhliches

Lachen, die echte Freude in seinem Gesicht

nie mehr vergessen werde. Ich habe das im

Fernsehen gesehen und gedacht, wie selten

es ist, dass jemand aus der Politik lachen

kann, ohne wie ein Plakat zu erscheinen. Die

Maske der Freundlichkeit, das ist es doch für

gewöhnlich.

Dazu kam, dass ich ein Interview mit Westerwelle

sah, und das war im Kinderkanal. Wir

Eltern kannten über das „Sandmännchen“ hinaus

alle Sendungen. Wurden groß mit Miley

Cyrus und Selena Gomez, als gehörten die zur

Familie. Die „Zauberer vom Waverly Place“

oder „Wissen macht Ah!“ mit Shary und Ralph

anzusehen, Standard. Guido Westerwelle wurde

von einer Schülerin gefragt, was er gern

gewesen wäre, wenn es ihn nicht in die Politik

gezogen hätte? „Ein Maler“, er wäre gern

Künstler, meinte er zu meiner Überraschung.

Er war mehr als sympathisch in dieser ungezwungenen

Umgebung mit den beiden

Kindern, die ihm schwierige Fragen gestellt

haben, und konnte authentisch antworten.

Das Qualitätsmerkmal seines Politikerseins

war für mich also die menschliche Seite,

Offenheit, Glaubwürdigkeit deswegen. Dazu

passte, dass es bekannt wurde, er sei mit einem

Mann zusammen. Für mich ein Vorbild,

nicht weil ich Männer liebe, sondern, weil er

seine Angst vor den anderen in den Griff bekommen

hatte. Ich bemerkte etwas, was ich

gar nicht verstand, und wollte es in meinen

Lebensweg einbauen, davon lernen. Inzwischen

war er Außenminister, und in diesem

Amt hat er eine unglückliche Figur gemacht.

Sein schlechtes Englisch, zum Spott der Nation

und zum Abschuss freigegeben, und

schwul ist er auch noch. So muss es gewesen

sein, aber das hatte ich nicht mitbekommen.

Für mich war das der nette Mann, der sich so

freuen konnte, weil er gewonnen hatte, wie

ein kleiner Junge in einem Wettbewerb.

Der gern Maler wäre.

Meine Naivität, nie hat mich jemand der alten

Elbsegler angefeindet, weil ich etwa in

der Klappse gewesen wäre – aber von einem

Moment zum anderen wurde ich selbst zu

„Westerwelle und schwul“, als ich auf dieser

erwähnten Feier wie nebenbei etwas positives

über den neuen Minister sagte.

„Den. Den magst du!?“

Etwa fünfzehn alte, verdiente, vornehmlich

aus der Generation meiner Eltern anwesende

Segler-Recken, die große Schiffe besaßen

und manche Langstrecke siegreich nach

Hause gebracht hatten, Pokale angehäuft,

rund Seeland regattiert hatten, regelmäßig

Edinburgh durch und über die kalte, stürmische

Nordsee ertrotzt hatten – verstummten

schlagartig. Das Gebrabbel einer ganzen Feier

kam für einen Moment zum Schweigen,

unglaublich. Die Gesichter drehten sich alle

mir zu, und so leise war das, und wie die mich

angesehen haben.

Das werde ich nie mehr vergessen.

:(

Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 6 [Seite 4 bis 6 ]

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