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Blogtexte2021_1_12

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# Meine kleine Freiheit

Heute würde ich sagen, dass der

Gewinn des Lebens darin besteht,

dazuzulernen. Während zunächst

der Anteil Meinungen und Ratschläge

anderer mein Leben bestimmt

hat, bin ich heute frei zu

denken, was ich möchte.

So kommt es mir vor.

So fühlt es sich an. Da muss ich,

wenn ich diesen Satz hinschreibe,

gleich an S. denken. Ein Professor im

Studium. Zusammen mit dem Kollegen

M. waren zwei Fachleute für

Trickfilm engagiert worden. Und ein

oder zwei Semester habe ich dort

verschiedene Kniffe der filmischen

Erzählkunst und Techniken erlernt,

diese elegant mit wenig Aufwand

grafisch umzusetzen. Der Kollege S.

hatte zahlreiche kluge Tipps drauf,

wie man eine Geschichte im Film

mit ganz einfachen Mitteln auf den

Punkt bringen kann. Einmal glitten

unsere Gespräche in kleiner Runde

vom Thema ab. Zwei, drei Kommilitoninnen

saßen mit mir dabei,

hübsche Mädchen, deren Augen

geradezu an den Lippen des Profs. hingen, als

der philosophisch wurde. „Was heißt das, der

eigene Wille?“, meinte er.

„Du kannst ja nicht einmal darüber bestimmen,

was du denkst.“

Ein ganzes Leben lang scheinbar … habe ich

über diesen Satz nachgedacht.

# Die Gedanken sind nicht frei

Stimmt das? Ich prüfe es nach. Andere thematisieren

dasselbe auf ihre Weise. Mein

Weltbild kollidiert immer wieder damit. Vor

geraumer Zeit, als es ganz normal war ohne

Maske vor Mund und Nase zum Gottesdienst

zu gehen, singen mit der Gemeinde war üblich,

dicht an dicht sitzend in der Bank eine

Kirche zu besuchen, statt bei ausgewählt

begrenzter Besucherzahl nach vorheriger

Anmeldung hinzugehen. Es geschieht oft,

mal im Alltag, dann im besonderen Moment,

ich stolpere drüber. Eine Predigt mahnt mich,

dass es kein isoliertes Selbst gibt und damit

auch keine Freiheit der Gedanken nach dem

Motto „mein Wille geschehe“, sondern nur die

Freiheit zwischen den anderen. So gesehen

sind die stillen Worte in unserem

Kopf immer bedingte Gedanken, frei nur

im individuellen Kanal. Wie breit kann ich

meine Spur machen?

Du stellst meine Füße auf weiten Raum

(David).

# Paulskirche

Der neue Pastor Brodowski, hier bei den

anderen, in der Siedlung in Schenefeld,

nicht im Dorf, wo ich „meine“ Stephanskirche

und Rinja mag, gut kenne, spricht vom

Leben in der Beziehung zu Gott. Der Pastor

macht sich lustig über den altgrünen

Joschka. Der Prediger zitiert: „Mein langer

Lauf zu mir selbst“, so hieße ein Buch vom

pensionierten Politstar. Das sei an seiner

Realität, wie er, Brodowski sie verstünde,

vorbei. Leben isoliert von Gott und der

Umgebung ganz auf sich selbst bezogen,

blende doch aus, dass niemand ohne das

Drumherum existiere. So ungefähr erinnere

ich seine Mahnung vor kurzem in unsrer anderen

(großen) Kirche mit dem etwas abseits

stehenden Turm. In diese Richtung argumentierte

auch der Professor für Trick. Nur glaube

ich, dass es weniger „evangelisch“ gemeint

war. Was wäre denn noch freies Denken, Freiheit

überhaupt, wenn wir so festgelegt sind,

dass uns alles bloß geschieht?

# Leben in Beziehung zum Gegenüber

Freier Wille, ja oder nein, glasklar und entschieden

oder fest und vorherbestimmt unterwegs,

irgendwie dazwischen; ich kann

das nicht beantworten, aber das eindeutige

Empfinden, viel selbstbestimmter zu sein, ist

nun immer spürbar. Das wird mit den Jahren

stärker, lässt sich nicht auslöschen, wenn

mich noch irritiert, dass mir nach wie vor so

einiges passiert, worüber ich wenig Kontrolle

habe. Gerade das häufiger vorkommende Erlebnis,

die Wahl zu haben was ich als nächstes

möchte, lässt mich spüren, dass es Momente

gab in meinem Leben, wo ich keine Wahl hatte

und wie unter Zwang funktionierte.

Das fühlt sich nicht gut an. Wer nicht wählen

kann, wird sich fürchten. Schlimm, wenn wir

nicht wählen können, obwohl wir’s könnten,

wenn wir wüssten, dass wir es können. Auf

diese Weise sind viele gefangen in ihrem

Kreislauf, den sie zu denken gewohnt sind. Ich

habe nach einem Ausweg aus diesem Strudel

gesucht. Ich fand den entscheidenden Menschen,

um auszubrechen, kam raus, gewann

meine menschliche, natürliche Freiheit und

Selbstachtung zurück – und habe dabei so

viel verloren. Freiheit vom lebenslangen Alptraum,

eine vollzeitliche Angststörung (wer

denkt sich Begriffe aus, und wie lang dürfen

wir sie verwenden) war mein Leben, was

heißt das schon. Der Schock, schließlich ganz

viel zerstört zu haben; das sitzt noch.

Vor einem Jahr habe ich mit „Das grünere

Gras“ angefangen (Europa von den Socken).

Das ist zu einem Bild mit Malpausen geworden.

Nun hat es beinahe ein Vierteljahr

herumgestanden, eine Zeit, in der anderes

wichtiger war. Seit einigen Tagen male ich

wieder. Zwischendurch kamen mir Zweifel, ob

ich ein weiteres Mal den Zugang finde weiterzumachen.

Aber darauf kann ich mich, so

scheint es, verlassen; die Kreativität versiegt

mir nicht. Ich zeichne nicht seit dem letzten

Sommer, na und? Man wird schlechter darin,

wenn man’s nicht täglich tut, na und? Gerade

mache ich anderes. Es macht keinen Sinn, in

eine Richtung arbeiten zu wollen, aus Angst

man müsse dranbleiben. Für wen denn?

Und vielleicht liegt hier die Antwort auf die

schwierige Frage, wie es denn richtig ist, mit

der Freiheit und dem sinnvollen Gebrauch

unseres Selbst.

Man gehe durch die offene Tür, renne nicht

an gegen die Wand daneben, finde ich. Aber

zu glauben, man könne alles und jedes beginnen,

führt eventuell dazu, nicht wahrhaben

zu wollen, wo man gerade ist. Die Wahl

besteht darin, zwischen den Türen und Mauern

zu unterscheiden und den passenden

Weg zu nehmen. Aber die Unfreiheit, die sich

nicht leugnen lässt, ist die, dass hier eben nur

Türen offen stehen, von uns geöffnet werden

können, die am aktuellen Platz drumherum

montiert sind. Wenn ich gerade in einem

Zimmer bin, ist das bildlich real. Wenn ich

mich auf einem Bahnhof befinde, muss ich,

wenn es mir nicht gefällt, etwa die Bahn als

Verkehrsmittel zu nutzen, zunächst den Weg

zum Flughafen auf mich nehmen, bevor ich

auf diese Weise abheben kann.

Entspannter auf dem Weg, der so vieles bedingt,

das ist mein Leben heute. Und ich bin

um so vieles unglücklicher, trauriger und

enttäuschter als je zuvor – ein Widerspruch

scheinbar: Entspannt aber nicht glücklich,

was soll das denn? Glück ist doch nur ein Höhepunkt.

Enttäuschungen zulassen können,

sich nicht dafür bestrafen, Fehler gemacht

zu haben, das meine ich. Was ich alles nicht

bekam, wo überall ich mir im Weg stand, gegen

wie viele Mauern ich rannte! Nur scheiße

war diese Vergangenheit. Eine Kette von Fehlern,

Versagen und falschen Entscheidungen

drängt sich mir auf, die ganze Zeit ist alles

präsent, was ich verkackte. Meine Erinnerung

tut mir weh; ich komme klar damit. Früher

wollte und konnte ich’s nie spüren, wie unglücklich,

ängstlich und blind ich gewesen

bin. Eine seltsame Sache.

Mai 28, 2021 - Meine kleine Freiheit 55 [Seite 52 bis 56 ]

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