Blogtexte2021_1_12
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zigern mein Grafik-Studium abgeschlossen
hatte. Ich schaffte keine zwei Jahre, gesund
zu bleiben und wurde etwa vier oder fünf
Mal schubweise so heftig krank, dass ich zu
einer Behandlung gezwungen war. Etwa ab
der Jahrtausendwende, nachdem meine Frau
und ich geheiratet haben, trat eine deutliche
Besserung ein. Im Gespann mit dem Arzt und
sozial integriert fand ich eine Normalität „neben“
den anderen.
Die Segelfreunde blieben mir von
Beginn. Ich fand es einfach, mich zu
erklären. Man kennt mich an der Elbe,
wo jeder jeden kennt, der Regatten
segelt oder sonstwie am Wochenende
nach Stade, Glückstadt oder einen der
anderen schönen Häfen aufbricht, oft
zusammen mit mehreren Booten. Was
von mir zu erwarten sei, wie ich mich
auf den Regatten verhalte, ob ich mit
dem Boot umgehen könne und ein
Guter wäre oder nicht, das hatte ich
bereits mehr als zehn Jahre unter
Beweis gestellt. Dass ich so bliebe,
wie sie mich kannten und mochten,
schien außer Frage, und soviel wissen
ja auch nicht immer alle gleich gut. Fazit,
ich behielt meine Freunde, blieb sozial integriert,
und das gelingt einigen, die mit dem
Psychiater Bekanntschaft machen, nicht. Das
war meine Vorstellung vom outen. Es gelang
ihnen wie nebenbei zu erzählen, wie’s mir ergangen
ist.
# Ich habe immer gern geredet, hatte kein
Problem damit
Die Probleme gab es nicht in Bahrenfeld,
wohin wir zogen, als Wedel oder Kiel nicht
in Frage kamen. Schwierig wurde es erst in
Schenefeld, wo ich seit knapp zwanzig Jahren
mit meiner Familie zu Hause bin. Mit dem
Beginn meiner Malerei kam es unweigerlich
zu Ausstellungen und einer bescheidenen
Bekanntheit, anders jedenfalls, als es die Illustration
gewesen war. Das ist nur ein Beruf.
Segeln ist kein Beruf, und „mit Johnny am
Wochenende unterwegs sein“, da hatte sich
für meine Freunde scheinbar nichts geändert.
Tatsächlich habe ich mich geändert, wie
mutmaßlich die anderen auch. Viele bemerken
ihre eigene Entwicklung nicht, so normal
kommt ihnen alles vor. Aber: „Ich bin so
geworden“, beschrieb mir einmal ein Freund
seinen eigenen Charakter heute und grenzte
sich damit klar ab von der Idee, man sei, wie
man eben ist. Ich jedenfalls war unzufrieden
mit mir und meiner Vergangenheit und habe
allen Grund dazu. Während die anderen in
guten Jahren bundesdeutschen Wohlstands
sich entwickelten, lahmte ich quasi auf einem
Bein hinter allen hintendran. Meine Freunde
fanden, während wir erwachsen wurden, zu
drei vier oder fünf kurzlebigen Beziehungen,
bis sie heirateten. Sie wählten ihre Partnerin
und trennten sich, wenn’s nicht lief.
Mir blieb diese Wahl nicht; ein Problem des
Bescheuerten ist ja, dass er es von sich nicht
annimmt, einer zu sein. Narren fühlen nicht,
und um selbstbewusst zu sein, müssen wir
etwas merken. Erst die Krankheit, dann die
Pillen, da merkst du nix. Und der Arzt findet
das auch ganz richtig, warum? Wer merkt,
dass er sich selbst verarscht, flippt gern mal
aus … aktuell der arme Michel Wendler, das
denke ich jedenfalls. Eine arme Sau, aber er
tut ja einiges, um sich weitere Spötter ranzuzüchten.
Ich war anders: brav.
Meine lieben Freunde, sie stiegen beruflich
auf, machten ein gutes Jahresgehalt
und zeigten vor, was ihnen gelungen ist. Ich
musste mir meine Vergangenheit, die zwar
zunehmend in den Hintergrund getreten ist,
je selbstverständlicher schließlich auch meine
Gegenwart wurde, schön reden. Worin besteht
der Unterschied? Das begann ich mich
dann doch zu fragen.
Das Normalgesunde bedeutet sich zu nehmen
was geht und andere verbal zu maßregeln
dafür, Regeln nicht einzuhalten. Man
nennt es fälschlich Selbstbewusstsein. Das
konnte ich nicht. Als Illustration ein kurzes
Zitat aus den Nachrichten (es ist nicht die
Politik, die etwa versagt in der Krise).
# „Es bricht alles zusammen – trotz Corona-
Lockdown: Ansturm auf verschneite Bergregionen.
Der Ansturm auf Harz, Sauerland und
Feldberg ist allen Corona-Einschränkungen
zum Trotz riesig. Die Massen tummeln sich
auf den Pisten. Teilweise herrscht Chaos. Alle
Bitten um Verzicht nützten wenig: Im Harz
und anderen verschneiten Berggebieten
waren die Parkplätze am Samstag vielerorts
schon am Morgen voll.“ (02.01.2021, 17:31
Uhr | dpa).
Im Versuch, mehr wie die anderen zu werden,
zu begreifen was der Grund dafür sei weshalb
mein Verstand erkrankte, musste ich dazulernen.
Ich musste lernen, was andere mit
dem Beginn ihres Lebens als Erwachsener
gelernt hatten oder direkt danach. Ich lernte
es später, und nicht einmal der Arzt, als ausgebildeter
Psycho-Fachmann, war dabei eine
nennenswerte Hilfe. Dem Psychiater genügt
zu plaudern, Medikamente zu verschreiben,
und mir genügte das nicht. Mein Selbstbewusstsein,
zunächst ein kleines Pflänzchen,
wurde zu einem Unkraut, das nicht zu kontrollieren
war. Ein neues Problem. Ein böses,
um sich greifendes Gewächs im Wald der
Schenefelder Eichen und Buchen, festverwurzelte
Stämme seit Jahrtausenden.
Zunächst war ich, was meine früheren Erkrankungen
betraf anonym, mit dem Recht
auf einen Schutz meiner Person ausgestattet,
meinte ich. Dass die Gesellschaft durch und
durch böse ist, wer denkt denn sowas? Jetzt
aktuell wird die Digitalisierung der Krankenakten
diskutiert, und bald wird das auf breiter
Ebene selbstverständlich sein, wie ja bereits,
trotz der Angreifbarkeit dieser Systeme, viele
Menschen online ihre Bankgeschäfte machen
oder trotz der Ungewissheit, was es eigentlich
ist, ihre Waren im Internet aussuchen
und bestellen. Auch die Partnersuche findet
online statt. Die Realität behält die Macht
dennoch.
So vor ungefähr fünfzehn Jahren ging ich
noch etwa monatlich zu meinem Arzt in Wedel,
nahm eine Minimaldosis der verschriebenen
Psychopharmaka ein, plauderte mehr,
als dass ich’s als Therapie empfand, mit dem
Psychiater. Bald ließ ich die letzte Nullkomma-Dosis
weg und riskierte, auf eigene Faust
zu leben. Das ging etwa zehn Jahre lang gut.
Als meine Mutter vor einigen Jahren verstarb,
hat’s mich derbe gerissen, und einige hier im
Dorf haben sich den Spaß erlaubt, nachzutreten,
als ich mir den Kopf gebrochen habe,
wie früher. Ich schien ihnen am Boden zu
liegen? Da musste es leicht sein, darauf hinzuweisen,
was für eine Gefahr ich sei, und
das mitten unter den oberen Zehntausend
vom (gallischen) Dorf? Ich war Asterix gewesen
und aus meinem Obelix wurde das
dümmste fette Wildschwein, das du dir denken
kannst.
Damals aber, als wir gerade neu unser kleines
Häuschen bezogen hatten, habe ich
mir den Fuß gebrochen, ganz normale Sache.
Das würde nicht so ohne weiteres von
selbst gerade zusammenwachsen, war sich
der Durchgangs- und Unfallarzt hier um die
Ecke im Dorf sicher, und das möge nicht er,
sondern einer, der es regelmäßig mache, im
„richtigen“ Krankenhaus operieren. Ich bekam
einen Termin, einige Tage noch humpeln, und
dann solle losgehen.
Meine Frau und ich wurden am Morgen des
für die Operation bestimmten Tages in der
Zentralen Notaufnahme des Hauses vorstellig.
Dort gingen wir in einen Flur, ich auf meinen
Krücken, sie mit einer Reisetasche, in der
ich ein wenig Klamotten und eine Waschtasche
hatte. Im Gang saßen, wie Hühner auf
der Stange, einige Patienten. Ihnen gegenüber
war eine Öffnung in der Wand, ähnlich
einer Art Essensluke in der Mensa einer Firma
oder der Uni. Dort saß jemand, die Daten vom
jeweiligen Neuankömmling aufzunehmen.
Meine Karte wurde eingelesen.
„Ist das ihr Hausarzt?“ fragte die Angestellte
des Krankenhauses so laut, dass jeder in der
Umgebung es mitbekam: „Dr. – sie nannte
den Namen – Arzt für Psychiatrie und Neurologie“,
dann die Anschrift. „Wie kommen Sie
denn darauf?“, fragte ich. Ich war perplex. „Das
steht hier.“ Ich widersprach: „Mein Hausarzt
ist, wenn überhaupt P. (das ist auch ein Segler
und Freund) – aber der macht, weil er in
Wedel wohnt, keine Hausbesuche in Schenefeld.“
Ich sei schon jahrelang nicht mehr beim
Arzt gewesen, einige Monate nicht bei dem
erwähnten Neurologen. Ich galt, was meine
Psyche betraf als grundsätzlich gesund und
empfand mich auch so. Wie sie darauf käme,
er sei mein Hausarzt wollte, ich wissen? „Das
kann ich lesen, wenn ich ihre Karte in den
Rechner stecke.“ Nun, ich selbst kann es wohl
nicht lesen, wenn ich mir diese Karte wo hinstecke?
Das dachte ich, und warum die vier
oder fünf Fremden es mitbekommen sollten,
was da steht? Mir war das weder geheuer
noch angenehm, mit dieser Situation konfrontiert
zu sein.
Ich hatte mir den Fuß gebrochen, kam auf
Krücken und wollte nicht grad in die Klappse.
Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 5 [Seite 4 bis 6 ]