03.01.2022 Aufrufe

Blogtexte2021_1_12

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

zigern mein Grafik-Studium abgeschlossen

hatte. Ich schaffte keine zwei Jahre, gesund

zu bleiben und wurde etwa vier oder fünf

Mal schubweise so heftig krank, dass ich zu

einer Behandlung gezwungen war. Etwa ab

der Jahrtausendwende, nachdem meine Frau

und ich geheiratet haben, trat eine deutliche

Besserung ein. Im Gespann mit dem Arzt und

sozial integriert fand ich eine Normalität „neben“

den anderen.

Die Segelfreunde blieben mir von

Beginn. Ich fand es einfach, mich zu

erklären. Man kennt mich an der Elbe,

wo jeder jeden kennt, der Regatten

segelt oder sonstwie am Wochenende

nach Stade, Glückstadt oder einen der

anderen schönen Häfen aufbricht, oft

zusammen mit mehreren Booten. Was

von mir zu erwarten sei, wie ich mich

auf den Regatten verhalte, ob ich mit

dem Boot umgehen könne und ein

Guter wäre oder nicht, das hatte ich

bereits mehr als zehn Jahre unter

Beweis gestellt. Dass ich so bliebe,

wie sie mich kannten und mochten,

schien außer Frage, und soviel wissen

ja auch nicht immer alle gleich gut. Fazit,

ich behielt meine Freunde, blieb sozial integriert,

und das gelingt einigen, die mit dem

Psychiater Bekanntschaft machen, nicht. Das

war meine Vorstellung vom outen. Es gelang

ihnen wie nebenbei zu erzählen, wie’s mir ergangen

ist.

# Ich habe immer gern geredet, hatte kein

Problem damit

Die Probleme gab es nicht in Bahrenfeld,

wohin wir zogen, als Wedel oder Kiel nicht

in Frage kamen. Schwierig wurde es erst in

Schenefeld, wo ich seit knapp zwanzig Jahren

mit meiner Familie zu Hause bin. Mit dem

Beginn meiner Malerei kam es unweigerlich

zu Ausstellungen und einer bescheidenen

Bekanntheit, anders jedenfalls, als es die Illustration

gewesen war. Das ist nur ein Beruf.

Segeln ist kein Beruf, und „mit Johnny am

Wochenende unterwegs sein“, da hatte sich

für meine Freunde scheinbar nichts geändert.

Tatsächlich habe ich mich geändert, wie

mutmaßlich die anderen auch. Viele bemerken

ihre eigene Entwicklung nicht, so normal

kommt ihnen alles vor. Aber: „Ich bin so

geworden“, beschrieb mir einmal ein Freund

seinen eigenen Charakter heute und grenzte

sich damit klar ab von der Idee, man sei, wie

man eben ist. Ich jedenfalls war unzufrieden

mit mir und meiner Vergangenheit und habe

allen Grund dazu. Während die anderen in

guten Jahren bundesdeutschen Wohlstands

sich entwickelten, lahmte ich quasi auf einem

Bein hinter allen hintendran. Meine Freunde

fanden, während wir erwachsen wurden, zu

drei vier oder fünf kurzlebigen Beziehungen,

bis sie heirateten. Sie wählten ihre Partnerin

und trennten sich, wenn’s nicht lief.

Mir blieb diese Wahl nicht; ein Problem des

Bescheuerten ist ja, dass er es von sich nicht

annimmt, einer zu sein. Narren fühlen nicht,

und um selbstbewusst zu sein, müssen wir

etwas merken. Erst die Krankheit, dann die

Pillen, da merkst du nix. Und der Arzt findet

das auch ganz richtig, warum? Wer merkt,

dass er sich selbst verarscht, flippt gern mal

aus … aktuell der arme Michel Wendler, das

denke ich jedenfalls. Eine arme Sau, aber er

tut ja einiges, um sich weitere Spötter ranzuzüchten.

Ich war anders: brav.

Meine lieben Freunde, sie stiegen beruflich

auf, machten ein gutes Jahresgehalt

und zeigten vor, was ihnen gelungen ist. Ich

musste mir meine Vergangenheit, die zwar

zunehmend in den Hintergrund getreten ist,

je selbstverständlicher schließlich auch meine

Gegenwart wurde, schön reden. Worin besteht

der Unterschied? Das begann ich mich

dann doch zu fragen.

Das Normalgesunde bedeutet sich zu nehmen

was geht und andere verbal zu maßregeln

dafür, Regeln nicht einzuhalten. Man

nennt es fälschlich Selbstbewusstsein. Das

konnte ich nicht. Als Illustration ein kurzes

Zitat aus den Nachrichten (es ist nicht die

Politik, die etwa versagt in der Krise).

# „Es bricht alles zusammen – trotz Corona-

Lockdown: Ansturm auf verschneite Bergregionen.

Der Ansturm auf Harz, Sauerland und

Feldberg ist allen Corona-Einschränkungen

zum Trotz riesig. Die Massen tummeln sich

auf den Pisten. Teilweise herrscht Chaos. Alle

Bitten um Verzicht nützten wenig: Im Harz

und anderen verschneiten Berggebieten

waren die Parkplätze am Samstag vielerorts

schon am Morgen voll.“ (02.01.2021, 17:31

Uhr | dpa).

Im Versuch, mehr wie die anderen zu werden,

zu begreifen was der Grund dafür sei weshalb

mein Verstand erkrankte, musste ich dazulernen.

Ich musste lernen, was andere mit

dem Beginn ihres Lebens als Erwachsener

gelernt hatten oder direkt danach. Ich lernte

es später, und nicht einmal der Arzt, als ausgebildeter

Psycho-Fachmann, war dabei eine

nennenswerte Hilfe. Dem Psychiater genügt

zu plaudern, Medikamente zu verschreiben,

und mir genügte das nicht. Mein Selbstbewusstsein,

zunächst ein kleines Pflänzchen,

wurde zu einem Unkraut, das nicht zu kontrollieren

war. Ein neues Problem. Ein böses,

um sich greifendes Gewächs im Wald der

Schenefelder Eichen und Buchen, festverwurzelte

Stämme seit Jahrtausenden.

Zunächst war ich, was meine früheren Erkrankungen

betraf anonym, mit dem Recht

auf einen Schutz meiner Person ausgestattet,

meinte ich. Dass die Gesellschaft durch und

durch böse ist, wer denkt denn sowas? Jetzt

aktuell wird die Digitalisierung der Krankenakten

diskutiert, und bald wird das auf breiter

Ebene selbstverständlich sein, wie ja bereits,

trotz der Angreifbarkeit dieser Systeme, viele

Menschen online ihre Bankgeschäfte machen

oder trotz der Ungewissheit, was es eigentlich

ist, ihre Waren im Internet aussuchen

und bestellen. Auch die Partnersuche findet

online statt. Die Realität behält die Macht

dennoch.

So vor ungefähr fünfzehn Jahren ging ich

noch etwa monatlich zu meinem Arzt in Wedel,

nahm eine Minimaldosis der verschriebenen

Psychopharmaka ein, plauderte mehr,

als dass ich’s als Therapie empfand, mit dem

Psychiater. Bald ließ ich die letzte Nullkomma-Dosis

weg und riskierte, auf eigene Faust

zu leben. Das ging etwa zehn Jahre lang gut.

Als meine Mutter vor einigen Jahren verstarb,

hat’s mich derbe gerissen, und einige hier im

Dorf haben sich den Spaß erlaubt, nachzutreten,

als ich mir den Kopf gebrochen habe,

wie früher. Ich schien ihnen am Boden zu

liegen? Da musste es leicht sein, darauf hinzuweisen,

was für eine Gefahr ich sei, und

das mitten unter den oberen Zehntausend

vom (gallischen) Dorf? Ich war Asterix gewesen

und aus meinem Obelix wurde das

dümmste fette Wildschwein, das du dir denken

kannst.

Damals aber, als wir gerade neu unser kleines

Häuschen bezogen hatten, habe ich

mir den Fuß gebrochen, ganz normale Sache.

Das würde nicht so ohne weiteres von

selbst gerade zusammenwachsen, war sich

der Durchgangs- und Unfallarzt hier um die

Ecke im Dorf sicher, und das möge nicht er,

sondern einer, der es regelmäßig mache, im

„richtigen“ Krankenhaus operieren. Ich bekam

einen Termin, einige Tage noch humpeln, und

dann solle losgehen.

Meine Frau und ich wurden am Morgen des

für die Operation bestimmten Tages in der

Zentralen Notaufnahme des Hauses vorstellig.

Dort gingen wir in einen Flur, ich auf meinen

Krücken, sie mit einer Reisetasche, in der

ich ein wenig Klamotten und eine Waschtasche

hatte. Im Gang saßen, wie Hühner auf

der Stange, einige Patienten. Ihnen gegenüber

war eine Öffnung in der Wand, ähnlich

einer Art Essensluke in der Mensa einer Firma

oder der Uni. Dort saß jemand, die Daten vom

jeweiligen Neuankömmling aufzunehmen.

Meine Karte wurde eingelesen.

„Ist das ihr Hausarzt?“ fragte die Angestellte

des Krankenhauses so laut, dass jeder in der

Umgebung es mitbekam: „Dr. – sie nannte

den Namen – Arzt für Psychiatrie und Neurologie“,

dann die Anschrift. „Wie kommen Sie

denn darauf?“, fragte ich. Ich war perplex. „Das

steht hier.“ Ich widersprach: „Mein Hausarzt

ist, wenn überhaupt P. (das ist auch ein Segler

und Freund) – aber der macht, weil er in

Wedel wohnt, keine Hausbesuche in Schenefeld.“

Ich sei schon jahrelang nicht mehr beim

Arzt gewesen, einige Monate nicht bei dem

erwähnten Neurologen. Ich galt, was meine

Psyche betraf als grundsätzlich gesund und

empfand mich auch so. Wie sie darauf käme,

er sei mein Hausarzt wollte, ich wissen? „Das

kann ich lesen, wenn ich ihre Karte in den

Rechner stecke.“ Nun, ich selbst kann es wohl

nicht lesen, wenn ich mir diese Karte wo hinstecke?

Das dachte ich, und warum die vier

oder fünf Fremden es mitbekommen sollten,

was da steht? Mir war das weder geheuer

noch angenehm, mit dieser Situation konfrontiert

zu sein.

Ich hatte mir den Fuß gebrochen, kam auf

Krücken und wollte nicht grad in die Klappse.

Jan 3, 2021 - Die Wellen vor Edinburgh 5 [Seite 4 bis 6 ]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!