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Girlande der Schande

Mai 9, 2021

Öffentlichkeit ist ein Teil der Kunst, das andere

ist die Beschäftigung mit den Mitteln, sich

auszudrücken. Nicht nur Künstler, viele Menschen

leben öffentlich sichtbar. Das ist eine

Erfahrung, die diejenigen, die kaum jemand

kennt, eher nicht nachfühlen können. Für die

Masse bleibt das auf der Plattform stehen

nur eine vage Idee. Aber beinahe jeder teilt

seine Ansichten in einer Gruppe. Heute haben

wir im Alltag Möglichkeiten, uns selbst

darzustellen, die Menschen in den Siebzigern

als ich selbst Jugendlicher war nicht kannten.

Warum gibt es das? Vermutlich ist die Selbstdarstellung

und der Wunsch nach Reflexion

menschlich.

# Hass ist die Antwort?

Jeder ist heute Künstler,

allen stehen grafische

Mittel zur Verfügung. Seit

der Erfindung der Kamera,

sieht sich der Maler

vom Laien in der Einzigartigkeit

seiner Fähigkeit

bedroht. Nicht nur

zu fotografieren, auch zu

filmen und eine breite

Form von ästhetischen

Gestaltungsmöglichkeiten der Profis stehen

allen zur Verfügung. Seitdem Menschen sich

kleiden, ist zum rein zweckmäßigem Schutz

gegen die Witterung vielerlei dazugekommen,

womit jemand ausdrückt, wer er ist und

wie das wirken soll. Das schafft Beziehungen

zu Gleichgesinnten. Es bedeutet genauso,

dass unabdingbar Gegner eine Angriffsfläche

bekommen, die die Welt anders interpretieren.

Schon immer mussten sich Künstler einer

kritischen Öffentlichkeit stellen. Wenn

alle die Umgebung abbilden, sich als Model

oder zumindest Typ präsentieren, trifft das

auf jeden zu.

Aus einer feindseligen, aber natürlichen Umwelt

ist eine kritische geworden, die heute

künstlich ist, weil Menschen sie durchgängig

gestalten. Der moderne Mensch wirkt konstruiert

wie etwa seine Architektur und der

ganze Tand drumherum. Unter und hinter den

Masken ist er noch nackt und natürlich, versteht

sich oft nicht. Immer bunter, vielseitiger

und einfallsreicher sind die Influencer, denen

viele folgen, die einfachen Mitläufer sagten

wir früher, die Masse. Die graue Maus ist ein

Auslaufmodell, sie gibt sich bunt, kopiert

den Style. Neid wird maskiert, Schwäche und

Angst überspielt, und es gibt effektive Mittel,

das zu tun. Diejenigen, die etwas an den

anderen finden, dass sie dafür nutzen, sich

selbst aufzuwerten sind raffinierter geworden.

Die „asozialen“ Medien

werden die Netze genannt,

wenn eine böse Community

unterwegs ist.

Ich finde es realitätsnäher,

genau wie beim Mobbing

überhaupt, nicht nur die Opfer

zu beklagen, sondern die

Gesellschaft insofern richtig

einzuschätzen, dass jede

Besonderheit zu Neugierde

führt, eingeordnet wird und

zur Reflexion anregt. Damit

ist das Opfer von Anfeindungen

auch ein Objekt,

welches durch seine exponierte

Stellung aufgefallen

ist und das möglicherweise

selbst gar nicht nachvollziehen

kann. Nur Kurzsichtige

empören sich: „Ach, nun ist

,sie’ noch selbst schuld dran!?“, um ihrerseits

die willkommene Angriffsfläche zu haben,

sich zum Retter zu erheben, ohne anschließend

effektiv zu helfen.

Das Wort „Schuld“ ist nur ein Erklärungsprinzip.

Und damit eine Reduktion der größeren

Wirklichkeit zum Instrument derjenigen, dessen

Handwerksgerät es ist. Diese Definitionen

müssen sich, seitdem Menschen sprechen,

immer neuen Realitäten anpassen. Wir wollen

mehr. Es genügt uns nicht das mittelalterliche

Treiben. Mit dem Atlas

von Kopernikus kann

heute niemand den Mond

erreichen; soll heißen,

je besser wir menschliches

Verhalten verstehen,

desto effektiver können

Hilfen gegeben werden.

Nicht zuletzt wird Selbsthilfe

eher möglich, wenn

Ausgegrenzte lernen, ihre

Individualität stärker auszuleben

statt aufzugeben

und davonzulaufen. Dann

werden immer wieder

neue Böse ihnen schaden. Mit der Akzeptanz

einer nicht zu ändernden Umgebung kann

Angefeindeten eher geholfen werden, Wege

besserer Abgrenzung bei weiterhin individueller

Präsentation zu finden, als sich mahnend

und anklagend zu geben. Die Mode, unbequeme

Beziehungen sofort aufzukündigen, stärkt

nur diejenigen, die von außerhalb jeglicher

Verbindlichkeiten anonym schießen.

Eine grüne Kanzlerkandidatin Baerbock wird

per E-Mail diffus angefeindet wie viele andere

Politiker, fragt sich womöglich, wie das

sein kann, weil sie das Beste und Grünste

für uns will? Sie ist sich in eigener Sache

andererseits sicher, ihren Tübinger Oberbürgermeister

Palmer aus der Partei ausschließen

zu wollen, weil dessen Provokationen

den Rahmen der gutgrünen Partei wiederholt

gesprengt haben. Insgesamt bedeutet

andere abzumahnen, Druck in deren Richtung

hin auszuüben. Wie stilsicher, fair und

gesellschaftskonform wir dabei sind oder

eben nicht; was nun richtig ist, Meinung oder

Persönlichkeitsverletzung, entscheidet nicht

selten ein Gericht. Und auch dieses kommt

erst zur abschließenden Bewertung, weil unsere

Gesellschaft eine Kette von Instanzen

festlegte, die im Streitfall bis zu einem Ende

durchlaufen wird. Das wird aber nie verhindern

können, dass Menschen diesen Rahmen

umgehen. Auch Kinder widersetzen sich,

wenn die Umgebung (für

sie) nicht nachvollziehbare

Grenzen setzt. „Systemsprenger“

ist der Titel eines

Films, den man kaum gesehen

haben muss, um nicht

schon bei dieser Überschrift

und den wenigen Bildern

der Vorschau einen guten

Eindruck davon zu bekommen,

worum es geht.

Wir stehen dem anonymen

und überbordenden Hass

besonders im Internet einigermaßen

hilflos gegenüber.

Meiner Auffassung

nach stellt sich weniger

die Frage danach, warum

es Hass im Internet gibt,

sondern zunächst sollte

darüber nachgedacht werden,

was der Antrieb ist, sich zum Speaker

auf einen Stuhl zu erheben, statt einfach zu

arbeiten oder sein Bier zu trinken und die

eigenen Ansichten nur nebenbei und diskret

zu vertreten. Im Einsehen, dass nur reflektiert

und daraufhin weiter reagiert wird, und

schließlich die Form, in der das geschieht,

explodiert, liegt eine Chance. Ich kann mich

fragen: Wer braucht die Themen, die jemand

öffentlich herausstellt, wer braucht z.B. Kunst,

und wem bedeutet meine politische und gesellschaftsrelevante

Äußerung etwas; das bin

wohl zunächst ich selbst, der sich Gehör verschafft

und deswegen als Verursacher einer

Reaktion zu gelten habe.

Ich habe in einem TV-Beitrag Betroffene

von Hass-Mails gesehen. Ein „Vorreiter der

Transgender-Szene“, der ein kleines Geschäft

betreibt, konnte besonders gut und sensibel

ausdrücken, worin sein Problem besteht. Er

hatte sich zunächst gefreut, vor einigen Jahren

endlich den Mut zum Comingout gehabt

zu haben und viel Zuspruch bekommen. Klar,

die vielen anderen, denen es ähnlich geht,

Mai 9, 2021 - Girlande der Schande 49 [Seite 49 bis 51 ]

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