Blogtexte2021_1_12
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Der Mensch benötigt seine Hände, um die
Ohren zu verschließen, das ist nicht zu übersehen.
In eine andere Richtung zu schauen,
die Augen zu verdrehen oder gähnend die
Lieder zu senken, eine coole Sonnenbrille; es
gibt viele Möglichkeiten, Kunst zu übersehen,
die schlecht ist, und dabei so zu tun, als ob
es was sei. Musik machen zu können, ist in
der gegenseitigen Anforderung der Kollegen
auf dem Bandstand ungleich härter für den,
der’s probiert und zugleich ein fließendes
Spiel. Künstler zeigen „Arbeiten“, wollen ernst
genommen werden wie die Manager in der
Wirtschaft und die Macker, die im Tiefbau
eine Straße aufreißen? Sie konzentrieren
sich. Verschrobene Tanten besuchen deine
Vernissage und geschwollene Reden verwursten
den Intellekt.
# Kunst!
Maler können verkrampft drauflos schrammen.
Musiker müssen ihren Körper beherrschen.
Wie Tänzer ist es ihnen nötig, gekonnt
und fließend zu atmen. Ganz sicher ist es das
auch in der bildenden Kunst. Aber hier fällt
es leichter, sich und dem Betrachter blauen
Dunst vorzumachen. Das bewundere ich an
Joseph Beuys. Er hat die Leute wirklich vorführen
können, auf einen Blick hinter die
Fassade zurückgeworfen und tatsächlich zum
Denken angeregt: Seine Kunst war neu. Eine
echte Alternative zur gekonnten Abbildung
in der Malerei und erfrischender als die Bildhauer
anderswo. Das kann man nicht immer
wiederholen wie einen alten Witz oder den
bekannten Zaubertrick, dessen Geheimnis
keines mehr ist.
Wie faszinierend es sein kann, Dinge zu begreifen,
die man nur versteht, nachdem man
bereits einige Kenntnisse in seiner Beschäftigung
hat, und wie unbegreiflich verschieden
die Kollegen dasselbe tun, macht eine Textstelle
deutlich. Dizzy Gillespie spricht hier
über Monk. Das sind Giganten des Jazz, das
muss ich nicht erklären.
# Ich habe Monk schon 1937 oder 38 kennengelernt.
Damals spielte er mit Cootie
Williams im Savoy, und dann, 1939, bekam
er den Gig im Minton’s. Ich habe eine Menge
von Monk gelernt. Es ist sehr eigenartig mit
ihm. Unser gegenseitiger Einfluss auf einander
war musikalisch so stark, dass er gar nicht
mehr weiß, was ich ihm gezeigt habe. Aber
ich weiß noch einiges, was er mir gezeigt hat,
zum Beispiel den Moll-Sext-Akkord mit einer
Sexte im Bass. Das habe ich zuerst von ihm
gehört. (…).
Ich sagte einmal zu Monk: „Zeig’ mir irgendetwas,
das du von mir gelernt hast, und das du
oft verwendest.“ (…). Dann zeigte ich ihm, was
ich von ihm gelernt hatte, damals, diese eine
besondere Sache, die mir neue Möglichkeiten
eröffnet hatte. Aber ihm fiel nichts ein, was
er von mir gelernt hatte. Dabei weiß ich genau,
dass es hunderte von Sachen gibt, denn
wir waren oft zusammen und ich spielte auf
dem Klavier herum und wenn ich etwas entdeckt
hatte, zeigte ich es den anderen, auch
ihm. Aber Monk ist ein Unikum, mehr als alle
anderen aus unserer damaligen Clique. (Dizzy
Gillespie, to Be, or not … to BOP, Minton’s
Playhouse, Doubleday New York 1979).
Zum anderen Thema, der psychischen Gesundheit
von Wunderkindern finde ich dies
bei Chaplin.
# Während „The Kid“ geschnitten wurde, besuchte
der siebenjährige Samuel Reschewsky,
der Kinderschachweltmeister, das Atelier. Er
sollte im Athletic Club seine Künste zeigen
und eine Simultanpartie gegen zwanzig Erwachsene
spielen, darunter Dr. Griffiths, den
Schachmeister von Kalifornien. Er hatte ein
dünnes, blasses, eindringliches kleines Gesicht
und starrte die Menschen, denen er
begegnete, aus großen Augen streitsüchtig
an. (…).
„Können Sie Schach spielen?“ fragte er. Ich
musste zugeben, dass ich es nicht konnte.
„Ich zeige es Ihnen, kommen Sie doch heute
Abend und sehen Sie mir zu. Ich werde
gleichzeitig mit zwanzig Männern spielen“,
sagte er prahlerisch. (…). Man muss nicht unbedingt
Schachspieler sein, um das Drama
dieses Abends wahrzunehmen: Zwanzig Männer
mittleren Alters über ihrem Schachbrett
brüten zu sehen, in Ratlosigkeit gestürzt von
einem Siebenjährigen, der noch dazu jünger
aussah als er war, und ihn zu beobachten, wie
er an dem U-förmig angeordneten Tisch von
einem Brett zum anderen ging, war allein
schon dramatisch genug.
Die dreihundert oder mehr Zuschauer, die
schweigend auf den Bankreihen an den
Längswänden der Halle saßen und ein Kind
beobachteten, das seine Geisteskraft mit der
erfahrener Männer maß, wirkten surrealistisch.
Einige von ihnen schauten herablassend
lächelnd zu. Der Junge war verblüffend,
doch beunruhigte er mich, denn als ich das
konzentrierte kleine Gesicht betrachtete,
einmal stark gerötet und dann wieder kreidebleich,
wusste ich, dass der Junge mit seiner
Gesundheit bezahlte.
„Hier!“ pflegte einer der Spieler zu rufen, und
das Kind ging hin, betrachtete das Brett einige
Sekunden lang, machte dann einen Zug
oder rief „Matt!“ Dann lachten die Zuschauer
gedämpft. Ich sah, wie er schnell hintereinander
acht Spieler matt setzte, was Gelächter
und Applaus hervorrief. (Charles Chaplin, Die
Geschichte meines Lebens, Fischer 1977).
Chaplin ist selbst ein Wunder der Kreativität
und zugleich kommerziell unglaublich erfolgreich
gewesen. Ein sicherer Beobachter
und einer der großartigsten Künstler überhaupt.
Dazu kommt, dass er in der McCarthy-
Ära in unglaublicher Weise erfahren hat,
angefeindet zu werden. Psychiater wie der
oben zitierte Josef Bäuml zeigen sich von
einer naiven wie gleichermaßen doofen, ja
bösartigen Seite, wenn sie nivellieren wollen,
wie fies Menschen anderen gegenüber
sein können. Das als Ursache psychischer
Erkrankungen in seiner traumatisierenden
Weise ausblenden zu wollen zeigt zweierlei.
Zum Einen ist der Arzt nicht der Freund des
Patienten. Er ist der Fachmann. Als solcher
ist er nicht ehrlich (wie ja auch ein Polizist
beruflich bedingt nicht offen auf die Bürger
zu geht, deren Freund und Helfer er vorgibt
zu sein. Er ermittelt unter falscher Identität).
Ein Freund wiederum kann dem psychisch
Kranken kaum helfen, denn er wiederum ist
kein Fachmann.
Das andere, was ich probiere zu sagen ist, der
Psychiater möchte den Kranken nicht damit
belasten, etwa die Schuld der Probleme bei
den Eltern oder den Kollegen in der Firma zu
suchen. Der gute Grund ist die latente Angst
und damit die verborgene Aggression, die
in jeder Form psychischer Krankheit unterschwellig
darauf wartet, erkannt zu werden.
Wenn mir mein Leben nicht gelingt, ist nichts
naheliegender, als die böse Welt um mich herum
dafür zu beschuldigen. Das kann und will
kein Arzt forcieren. Lieber kreiert man eine
Theorie der Verletzlichkeit, kann aber keine
genetische Komponente dafür finden.
Keine einzunehmende Medizin wird je eine
Lösung für die wortreich erfundene „Dünnhäutigkeit“
sein. Was ist eine Seele, ein Nervenkostüm?
Mauern im Gehirn, wie sie vom
Haldol und den eleganteren Nachfolgern
erdacht wurden, die Rezeptoren zu schützen,
sind so einfallsreich und primitiv wie die
Grenze zwischen Nord- und Südkorea, die
Mauer in Berlin, die Zonengrenze zwischen
den deutschen Bundesländern nach dem
Krieg. Die Chemie des Gehirns, die Funken
der Nerven, die unsere Gliedmaßen mit den
Muskeln steuern, sie sind in einem Geflecht
aus Wahrnehmungen und Erfahrungen, wie
in einer Situation zu reagieren sei, derartig
kompliziert verwoben, dass „das Dopamin zu
binden“, wie es mir ein Arzt schmackhaft als
eine gute Idee zu erläutern probierte, allenfalls
moderne Quacksalberei ist. Das kann im
Notfall der Eskalation auf einer geschlossenen
Station die Lage beruhigen. Eine Verbesserung
des Lebens in schwierigen Zeiten
ist gut. Aber deswegen anzunehmen, mit ein
paar Pillen und Therapie wird das schon, ist
vermessen und unfair gegenüber den Kranken
und ihren Familien. Ungebildete Menschen
stehen vor Problemen, und die bitter
notwendigen Fachleute sind verschrobene
Medizinmänner, kaum fachlicher als ein pink
bekappter Pfarrer, der die Seele mit dem Räucheröfchen
ausschaukelt.
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 45 [Seite 41 bis 47 ]