Blogtexte2021_1_12
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„Motivation“ im Schwange ist, verleitet er zur
Illusion, als ließe sich auch Lust lehren. Man
kann nur infizieren. Wenn einer aber gegen
diese Ansteckung immun ist, dann sollte er
sich unbedingt woanders seine „Ansteckung“
holen. (Prof. Siegfried Oelke, Über Illustration,
Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung,
März 1983).
Zum Begriff der Verletzlichkeit aus Sicht der
Psychiatrie schreibt Bäuml:
# Was versteht man unter dem „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“?
Die Theorie wurde 1973
erstmals formuliert. Ganz allgemein besagt
sie, dass die Außenhaut der Seele, das sogenannte
Nervenkostüm nicht bei allen Menschen
gleich stabil ist, dass es wohl einige
Menschen gibt, die eine besonders dünne Außenhaut
haben. (Josef Bäuml, Psychosen aus
dem schizophrenen Formenkreis, Springer-
Verlag 1994).
Der Volksmund spricht vom zweigeteilten
Menschen im Zusammenhang mit dem Begriff
Schizophrenie, aber das ist genauso nur
ein Begriff wie viele andere theoretische
Ideen und genügt kaum, die unterschiedlichen
Verläufe psychischer Erkrankungen
und zahlreichen Diagnosen seriös fassbar
zu machen. Tatsächlich kennen wir alle den
Wunsch nach Bestätigung. Zu unterscheiden
ist, ob ich zwanzig Jahre bei einem Autobauer
tätig bin und deswegen sagen wir „Opel“ ein
Stück von mir ist oder ich mein Leben damit
zubrachte zu musizieren, zu zeichnen oder
anderweitig aus mir selbst einen Künstler
formte, der scheinbar untrennbar mit dem
Werk verschmilzt.
Wenn ein Mensch Kritik erfährt, muss er es
intellektuell hinbekommen, Geschaffenes
und Person zu trennen. Das „Ich“ sei eine
Leistung, heißt es. Genau das steht hier zur
Debatte. Kann ein Kreativer auseinanderhalten,
was mit ihm passiert, er fühlt? Bleibt der
Schaffende, wenn etwas nicht gelingt, seine
Tätigkeit misslang oder ein von ihm gemachtes
Produkt fehlerhaft wurde, emotional unversehrt?
Darin steckt der Spruch, die Kunst
käme vom Können genauso wie in gekonnter
Arbeit aus handwerklicher Sicht. Jemand
schrieb, Kunst käme vom nicht mehr anders
können. Das drückt den Zwang aus, der damit
verbunden ist. Zum einen die Faszination in
der Sache, eine angenehme Erfahrung, bestimmte
Dinge zu bemerken in der Art wie
Popper es beschreibt: Forschung. Auf der
anderen Seite Reflexion, zusammen unsere
individuelle Existenz.
An anderer Stelle wird bereits erwähnt, dass
ich als Kind einige Wochen in Marktschellenberg
in Verschickung war. Schon dieser
1976 übliche Begriff lässt ahnen, wie Kinder
gesehen wurden. Man kann mit ihnen machen,
was man will? Es sind Kinder, und wir
Erwachsenen wissen, was gut für sie ist: Wie
eine Sache verschickt. Es muss über Frühjahr
und Sommer stattgefunden haben, kollidierte
vermutlich mit dem Schuljahr. Ich kann mich
nicht hinreichend erinnern.
Wann immer es möglich war, probierte ich
mit meiner Zeichnerei anzugeben. Das war
bereits im Kindergarten methodisch, die Leitungskräfte
wohlwollend zu stimmen. Nach
diesem Grundsatz ging ich jede Gruppensituation
mit übergeordnetem Lehrer oder einer
Aufsicht an. Das hatte bei meinen Eltern
gewirkt, Aufmerksamkeit zu bekommen, im
Kindergarten und in den jeweiligen Schulklassen.
Das habe ich im Studium gemacht.
Es funktionierte nicht mehr nach dem Studium
in der freien Wirtschaft, denn mit meiner
Zielvorgabe „Illustrator“ war ich selbstständig.
Nun gab es keinen Kursleiter, der mit mir
als bestem Schüler punkten konnte, und die
Auftraggeber, meine Kunden, waren nicht daran
interessiert, mich zu loben.
Ich erinnere, dass ich in Marktschellenberg
nur eine einzige Zeichnung anfertigte. Das
ist ein wenig seltsam. Vielleicht liegt es daran,
dass meine Art mich beliebt machen zu
wollen, von den Frauen, die uns betreuten, in
keiner Weise gestützt wurde. Das mag dazu
beigetragen haben, dass ich dort unglücklich
war. Im Prinzip wäre es als therapeutischer
Ansatz denkbar, aber ich glaube, dass ich das
Konzept überbewerte, würde ich das so interpretieren,
und dann hätte diese Pädagogik
zudem versagt. Eine unangenehme Zeit.
Meine Eltern? Es hat nie an Geld gefehlt, aber
etwas zu leisten wurde bei uns zu wichtig
genommen. Ich war überfordert ein ums andere
Mal. Die Verschickung ist im Nachhinein
(gutgemeinte) Trickserei gewesen, mir den
Anblick der Zerstörung meiner gewohnten
Umgebung zu ersparen. Abriss des (geerbten)
Altbaus für ein großes Geschäftshaus.
Unter dem Vorwand, eine Art Kur würde mir
zum Start auf der Realschule gut tun, waren
wir beim Kinderarzt Dr. Hofeld vorstellig, er
schlug es vor. Der kleine Doktor war bereits
konsultiert worden, als mir die Tischplatte
mit den Heften der Hausaufgaben im Blick
unterm geneigten Kopf davon zu gleiten
schien. Nach vorn und in einem Bogen hoch
sauste sie scheinbar, dass mir schwindelte,
ich Stunden brauchte, aber nicht fertig
wurde. Meine Mutter schlug mich mit ihrem
Rechenschieber – warum?
Sie wollte jede Sache forcieren und hatte
doch selbst keine Zeit, die Arbeit zwang sie;
noch im Sterben war sie der Auffassung,
neu zu bauen wäre ohne Alternative notwendig
gewesen. Sie beschrieb mir, während
wir im Wohnzimmer sitzend auf ihren
Tod warteten, die Beerdigung planten und
weinten, wie es früher in der Bahnhofstraße
gewesen war. Ich erinnerte mich, stimmte
schließlich zu. Das ist mein Vermögen, von
dem ich heute lebe. Wir haben es auf Kosten
der Gesundheit erkämpft. Alternativlos
zur Dankbarkeit verpflichtet. Ich wurde
nicht besser darin, alles richtig zu machen.
Ich habe mir Mühe gegeben.
Meine Mutter wollte mir ein Abitur möglich
machen.
Sie war selbst nach der Elften abgegangen.
Mir wurde, als zu früh eingeschultem Kind
mit schwachen Noten in den Hauptfächern,
die Realschule empfohlen. Ein Abitur? Ich
könnte schaffen, fand meine Mutter, was ihr
misslungen war. Eine Ahnenreihe: Der „einfache“
Volksschullehrer „Uropa Bur“ hatte den
Vater meiner Mutter, Heinz, zum Oberstudienrat
zwingen wollen – der war als Matrose in
die Seefahrt abgebogen. Erst als Kapitän (auf
großer Fahrt) rehabilitiert vom Vater. Ich bin
auf dem Gymnasium, dem elitären „Rist“ in
Wedel, krachend gescheitert. Nach nur einem
Jahr, ging ich mit gleich drei fünfen ab. Ich
musste schräg versetzt diese Klassenstufe
ein zweites Mal machen.
Und zu dieser Zeit ist die Verschickung mit
der Barmer gewesen.
Wir sind in Altona mit dem Schlafwagen abgefahren,
das war mit das Aufregendste. Ich
erinnere, wie ich morgens aus dem rasenden
Zug den Kopf aus dem heruntergeschobenen
Fenster halte, um als Erster die Alpen zu sehen.
Die Berge fand ich toll. Ich probierte mich bei
der Leitung beliebt zu machen. Wir nannten
die ältere Dame beim Vornamen: Charlotte.
Tatsächlich war sie in Hamburg gewesen.
Sogar Wedel kannte sie: die Schiffsbegrüßungsanlage;
das gefiel mir, und sie mochte
mich. Die Mädchen, die uns für gewöhnlich
betreuten waren nicht empfänglich für so
etwas. Sie erkannten in den normaleren Kindern
das Potential, diese in Spiele und Aufgaben
zu integrieren. Immer wieder fand ich
Zeit, ganz allein auf einer Wiese unweit der
Gebäude zu sitzen und mich mit dieser einzigen
Zeichnung zu beschäftigen, die ich dort
machte. Das war so in Zeichenblockgröße
eine Bleistiftskizze. Leider unauffindbar heute,
kann ich mich ganz genau an das Problem
erinnern, das ich damit hatte.
Eines Tages zu Beginn startete ich mit dem
Bild. Das fand auch wie erwartet großes Interesse.
Manche schauten gern, wie sich die Szene
entwickelte. Obgleich ich immer schnell
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 43 [Seite 41 bis 47 ]