03.01.2022 Aufrufe

Blogtexte2021_1_12

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

„Motivation“ im Schwange ist, verleitet er zur

Illusion, als ließe sich auch Lust lehren. Man

kann nur infizieren. Wenn einer aber gegen

diese Ansteckung immun ist, dann sollte er

sich unbedingt woanders seine „Ansteckung“

holen. (Prof. Siegfried Oelke, Über Illustration,

Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung,

März 1983).

Zum Begriff der Verletzlichkeit aus Sicht der

Psychiatrie schreibt Bäuml:

# Was versteht man unter dem „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“?

Die Theorie wurde 1973

erstmals formuliert. Ganz allgemein besagt

sie, dass die Außenhaut der Seele, das sogenannte

Nervenkostüm nicht bei allen Menschen

gleich stabil ist, dass es wohl einige

Menschen gibt, die eine besonders dünne Außenhaut

haben. (Josef Bäuml, Psychosen aus

dem schizophrenen Formenkreis, Springer-

Verlag 1994).

Der Volksmund spricht vom zweigeteilten

Menschen im Zusammenhang mit dem Begriff

Schizophrenie, aber das ist genauso nur

ein Begriff wie viele andere theoretische

Ideen und genügt kaum, die unterschiedlichen

Verläufe psychischer Erkrankungen

und zahlreichen Diagnosen seriös fassbar

zu machen. Tatsächlich kennen wir alle den

Wunsch nach Bestätigung. Zu unterscheiden

ist, ob ich zwanzig Jahre bei einem Autobauer

tätig bin und deswegen sagen wir „Opel“ ein

Stück von mir ist oder ich mein Leben damit

zubrachte zu musizieren, zu zeichnen oder

anderweitig aus mir selbst einen Künstler

formte, der scheinbar untrennbar mit dem

Werk verschmilzt.

Wenn ein Mensch Kritik erfährt, muss er es

intellektuell hinbekommen, Geschaffenes

und Person zu trennen. Das „Ich“ sei eine

Leistung, heißt es. Genau das steht hier zur

Debatte. Kann ein Kreativer auseinanderhalten,

was mit ihm passiert, er fühlt? Bleibt der

Schaffende, wenn etwas nicht gelingt, seine

Tätigkeit misslang oder ein von ihm gemachtes

Produkt fehlerhaft wurde, emotional unversehrt?

Darin steckt der Spruch, die Kunst

käme vom Können genauso wie in gekonnter

Arbeit aus handwerklicher Sicht. Jemand

schrieb, Kunst käme vom nicht mehr anders

können. Das drückt den Zwang aus, der damit

verbunden ist. Zum einen die Faszination in

der Sache, eine angenehme Erfahrung, bestimmte

Dinge zu bemerken in der Art wie

Popper es beschreibt: Forschung. Auf der

anderen Seite Reflexion, zusammen unsere

individuelle Existenz.

An anderer Stelle wird bereits erwähnt, dass

ich als Kind einige Wochen in Marktschellenberg

in Verschickung war. Schon dieser

1976 übliche Begriff lässt ahnen, wie Kinder

gesehen wurden. Man kann mit ihnen machen,

was man will? Es sind Kinder, und wir

Erwachsenen wissen, was gut für sie ist: Wie

eine Sache verschickt. Es muss über Frühjahr

und Sommer stattgefunden haben, kollidierte

vermutlich mit dem Schuljahr. Ich kann mich

nicht hinreichend erinnern.

Wann immer es möglich war, probierte ich

mit meiner Zeichnerei anzugeben. Das war

bereits im Kindergarten methodisch, die Leitungskräfte

wohlwollend zu stimmen. Nach

diesem Grundsatz ging ich jede Gruppensituation

mit übergeordnetem Lehrer oder einer

Aufsicht an. Das hatte bei meinen Eltern

gewirkt, Aufmerksamkeit zu bekommen, im

Kindergarten und in den jeweiligen Schulklassen.

Das habe ich im Studium gemacht.

Es funktionierte nicht mehr nach dem Studium

in der freien Wirtschaft, denn mit meiner

Zielvorgabe „Illustrator“ war ich selbstständig.

Nun gab es keinen Kursleiter, der mit mir

als bestem Schüler punkten konnte, und die

Auftraggeber, meine Kunden, waren nicht daran

interessiert, mich zu loben.

Ich erinnere, dass ich in Marktschellenberg

nur eine einzige Zeichnung anfertigte. Das

ist ein wenig seltsam. Vielleicht liegt es daran,

dass meine Art mich beliebt machen zu

wollen, von den Frauen, die uns betreuten, in

keiner Weise gestützt wurde. Das mag dazu

beigetragen haben, dass ich dort unglücklich

war. Im Prinzip wäre es als therapeutischer

Ansatz denkbar, aber ich glaube, dass ich das

Konzept überbewerte, würde ich das so interpretieren,

und dann hätte diese Pädagogik

zudem versagt. Eine unangenehme Zeit.

Meine Eltern? Es hat nie an Geld gefehlt, aber

etwas zu leisten wurde bei uns zu wichtig

genommen. Ich war überfordert ein ums andere

Mal. Die Verschickung ist im Nachhinein

(gutgemeinte) Trickserei gewesen, mir den

Anblick der Zerstörung meiner gewohnten

Umgebung zu ersparen. Abriss des (geerbten)

Altbaus für ein großes Geschäftshaus.

Unter dem Vorwand, eine Art Kur würde mir

zum Start auf der Realschule gut tun, waren

wir beim Kinderarzt Dr. Hofeld vorstellig, er

schlug es vor. Der kleine Doktor war bereits

konsultiert worden, als mir die Tischplatte

mit den Heften der Hausaufgaben im Blick

unterm geneigten Kopf davon zu gleiten

schien. Nach vorn und in einem Bogen hoch

sauste sie scheinbar, dass mir schwindelte,

ich Stunden brauchte, aber nicht fertig

wurde. Meine Mutter schlug mich mit ihrem

Rechenschieber – warum?

Sie wollte jede Sache forcieren und hatte

doch selbst keine Zeit, die Arbeit zwang sie;

noch im Sterben war sie der Auffassung,

neu zu bauen wäre ohne Alternative notwendig

gewesen. Sie beschrieb mir, während

wir im Wohnzimmer sitzend auf ihren

Tod warteten, die Beerdigung planten und

weinten, wie es früher in der Bahnhofstraße

gewesen war. Ich erinnerte mich, stimmte

schließlich zu. Das ist mein Vermögen, von

dem ich heute lebe. Wir haben es auf Kosten

der Gesundheit erkämpft. Alternativlos

zur Dankbarkeit verpflichtet. Ich wurde

nicht besser darin, alles richtig zu machen.

Ich habe mir Mühe gegeben.

Meine Mutter wollte mir ein Abitur möglich

machen.

Sie war selbst nach der Elften abgegangen.

Mir wurde, als zu früh eingeschultem Kind

mit schwachen Noten in den Hauptfächern,

die Realschule empfohlen. Ein Abitur? Ich

könnte schaffen, fand meine Mutter, was ihr

misslungen war. Eine Ahnenreihe: Der „einfache“

Volksschullehrer „Uropa Bur“ hatte den

Vater meiner Mutter, Heinz, zum Oberstudienrat

zwingen wollen – der war als Matrose in

die Seefahrt abgebogen. Erst als Kapitän (auf

großer Fahrt) rehabilitiert vom Vater. Ich bin

auf dem Gymnasium, dem elitären „Rist“ in

Wedel, krachend gescheitert. Nach nur einem

Jahr, ging ich mit gleich drei fünfen ab. Ich

musste schräg versetzt diese Klassenstufe

ein zweites Mal machen.

Und zu dieser Zeit ist die Verschickung mit

der Barmer gewesen.

Wir sind in Altona mit dem Schlafwagen abgefahren,

das war mit das Aufregendste. Ich

erinnere, wie ich morgens aus dem rasenden

Zug den Kopf aus dem heruntergeschobenen

Fenster halte, um als Erster die Alpen zu sehen.

Die Berge fand ich toll. Ich probierte mich bei

der Leitung beliebt zu machen. Wir nannten

die ältere Dame beim Vornamen: Charlotte.

Tatsächlich war sie in Hamburg gewesen.

Sogar Wedel kannte sie: die Schiffsbegrüßungsanlage;

das gefiel mir, und sie mochte

mich. Die Mädchen, die uns für gewöhnlich

betreuten waren nicht empfänglich für so

etwas. Sie erkannten in den normaleren Kindern

das Potential, diese in Spiele und Aufgaben

zu integrieren. Immer wieder fand ich

Zeit, ganz allein auf einer Wiese unweit der

Gebäude zu sitzen und mich mit dieser einzigen

Zeichnung zu beschäftigen, die ich dort

machte. Das war so in Zeichenblockgröße

eine Bleistiftskizze. Leider unauffindbar heute,

kann ich mich ganz genau an das Problem

erinnern, das ich damit hatte.

Eines Tages zu Beginn startete ich mit dem

Bild. Das fand auch wie erwartet großes Interesse.

Manche schauten gern, wie sich die Szene

entwickelte. Obgleich ich immer schnell

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 43 [Seite 41 bis 47 ]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!