Blogtexte2021_1_12

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„Du kannst nicht fluchen“. Das lässt mir dieWahl, schlechte Tage zu ertragen. Morgen, dakann ich es vielleicht.Die Welt ist voller Widersprüche, dass diegrünen Parteien die Umwelt nicht retten, isteiner. Wunderkind Greta Thunberg rastet ausdeswegen. Sie wird immer angelogen wie wiralle, aber sie stört sich daran.Das macht den Unterschied.Popper stellt die Theorie richtig, er räumt aufmit dem falschen Denken, wir sähen etwasund reagierten darauf. Der kluge Autor machtdeutlich, dass der Normale den Wald vor lauterBäumen gar nicht bemerkt. „Oh wie schöndie Tanne“, sagt der Spaziergänger, aber derFörster sieht etwas anderes.# Dass die Wissenschaften, wie schon diegriechischen Philosophen sahen, vom Problem,von der Verwunderung über etwas ausgehen,das an sich etwas Alltägliches seinkann, aber für den wissenschaftlichen Denkereben zur Verwunderung, zum Problem wird,das habe ich schon am Anfang angedeutet.Meine These ist, dass jede wissenschaftlicheEntwicklung nur so zu verstehen ist, dass ihrAusgangspunkt ein Problem ist oder eineProblemsituation, das heißt, das Auftaucheneines Problems in einer bestimmten Situationunseres Gesamtwissens.Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Dieältere Wissenschaftstheorie lehrte – und sielehrt es noch immer –, dass der Ausgangspunktder Wissenschaft unsere Sinneswahrnehmungoder die sinnliche Beobachtung ist.Das klingt zunächst durchaus vernünftig undüberzeugend, ist aber grundfalsch. Man kanndas leicht durch die folgende These zeigen:ohne Problem keine Beobachtung. Wenn ichSie auffordere: „Bitte, beobachten Sie!“, sosollten Sie mich, dem Sprachgebrauch gemäß,fragen: „Ja, aber was? Was soll ich beobachten?“Mit anderen Worten, Sie bitten mich,Ihnen ein Problem anzugeben, das durch IhreBeobachtung gelöst werden kann; und wennich Ihnen kein Problem angebe, sondern nurein Objekt, so ist das zwar schon etwas besser,aber keinesfalls befriedigend. Wenn ichIhnen zum Beispiel sage: „Bitte, beobachtenSie Ihre Uhr“, so werden Sie noch immer nichtwissen, was ich eigentlich beobachtet habenwill. Wenn ich Ihnen aber ein ganz trivialesProblem stelle, dann wird die Sache anders.Sie werden sich vielleicht für das Problemnicht interessieren, aber Sie werden wenigstenswissen, was Sie durch Ihre Wahrnehmungoder Beobachtung feststellen sollen.Als Beispiel könnten Sie das Problem nehmen,ob der Mond im Zunehmen oder Abnehmenist; oder in welcher Stadt das Buch, dassie gegenwärtig lesen, gedruckt wurde. (KarlR. Popper, Alles Leben ist Problemlösen, Piper1996).Die von Popper korrigierte Einordnung unseresVorgehens, die Welt zu erforschen, ist fürdas Begreifen der talentierten, besonderenwie auffälligen Kinder von Bedeutung. Hierwird die individuelle Person deutlich, dieansetzen wird, wo andere sich nicht motivieren,Interessantes zu bemerken. Eine guteBeschreibung findet sich bei Feldenkrais, derals Assistent des Physikers Joliot-Curie zugegenwar, als dieser die künstliche Radioaktivitätentdeckte. Wenn man googelt, erscheintzuoberst dies:# Am 15. Januar 1934 legten Irène und FredericJoliot-Curie der Schwedischen Akademieder Wissenschaften ein sensationelles Forschungsergebnisvor: Es war ihnen gelungen,künstliche Radioaktivität herzustellen. Dafürgab es postwendend den Nobelpreis, womitIrène in die Fußstapfen ihrer berühmtenMutter Marie Curie trat.Der Assistent seinerzeit, M. Feldenkrais,schreibt detailliert, wie das auf den Weg gekommenist.# Ich habe das Glück gehabt, Zeuge eines Beispielsvon Bewusstheit des Gehörten zu sein.In unserem Laboratorium in Paris war eineWaage, die einige Jahrzehnte lang gedienthatte, demontiert und eine neu entworfeneCurie-Waage installiert worden, und ich warim Begriff nach Hause zu gehen. FrédéricJoliot-Curie bat mich, das neue Instrumentnoch anzuschaun, auf das er sehr stolz war.Zwischen seiner zentralen Aufhängung undseinem Gehäuse, das geerdet war, hatte dasInstrument eine Spannung von fünfzehnhundertVolt. Es war schon spät und niemandmehr im Labor außer uns. Joliot sah sich nocheinmal um, dann zog er seinen Mantel ausund begann das Instrument auszuprobieren.Er nahm einen Metallstreifen, der in der Nähedes Instruments liegen geblieben war, legteihn in die Kammer und schaltete den Zählerein, woraufhin aus dem Lautsprecher ein Hagelvon knackenden Geräuschen kam. Joliotmachte seinem Ärger darüber Luft, dass derAnschlag, den er aufgehängt hatte und aufdem wer immer als letzter das Labor verließ,gebeten wurde, das Instrument abzustellen,nicht beachtet oder jedenfalls die Bitte nichtbefolgt worden war. Er zog den Mantel wiederan, wir waren schon im Weggehen, als er,die Hand nach dem Schalter ausgestreckt,erstarrte als hätte ihn der Blitz getroffen. Erzog den Mantel wieder aus; für alles andereblind und taub, stand er bei der Waage undhorchte auf das Knacken. Immer noch horchend,wandte er sich um und sagte: „Hörstdu, wie das Knacken immer schwächer wird?Hier ist kein radioaktives Material, das einesolche halbe Lebensdauer hat.“ Nachdem erden Apparat seiner eigenen Vorschrift gemäßabgeschaltet hatte, gingen wir nach Hause.Anderntags erfuhren wir, dass die induzierteRadioaktivität entdeckt worden war. Wäre erjener Geräusche nicht bewusst gewahr geworden,so hätten sie wahrscheinlich nur zueinem Rüffel geführt für den, der es unterlassenhatte, die Maschine abzustellen. Fasteine Woche lang vergewisserte sich Joliot,bevor er sich und dann die Welt überzeugenkonnte, dass die künstliche oder induzierteRadioaktivität eine experimentell erhärteteTatsache ist. Er ist dann mit dem Nobelpreisbelohnt worden. Ich glaube, nur wenige Physikerverfügen über einen solchen Grad vonBewusstheit wie Joliot-Curie; mancher hättewahrscheinlich nur gemeint, es sei an demneuen Apparat etwas nicht in Ordnung.Vorfälle wie dieser werden oft als „intuitiv“wegerklärt. Meines Erachtens ist das eineFrage der Semantik. Intuition kommt vor aufeinem Gebiet, von dem einer schon großeErfahrung hat und das für ihn von entscheidendempersönlichen Interesse ist. (MosheFeldenkrais, Die Entdeckung des Selbstverständlichen,1981).# Als talentiert zu gelten, heißt nicht normalzu seinNicht normal sein und doch bei Verstand?Mit einer besonderen Bewusstheit wie Joliotgesegnet zu sein, einen Nobelpreis zubekommen, weil man im Knacken einer elektronischenWaage mehr hört, als nur denRhythmus einiger Geräusche, ist außergewöhnlich.Ein Musikinstrument zum Klingenbringen oder zeichnen zu können, sensibeldie Umgebung wahrzunehmen, ist nicht normal.Der Besondere ist nicht normal, aber dasbedeutet latent auch die Gefahr, deswegenpsychisch labil zu sein, isoliert von den anderenins Abseits zu geraten. Ein Grenzgängerist derjenige, der seine spezielle Leidenschafterkennt und sich auf den Weg macht, seineHoffnung daran hängt, ein besonderes Lebenmeistern zu können.Für ein talentiertes Kind stellt sich die Weltmit zwei Polen dar. Da fasziniert zu lernen alseine rasante Entwicklung, die deswegen befriedigt.Das Andere ist der Applaus durch dieUmgebung. Das Leben des Wunderkindes istalso eine Medaille mit zwei Seiten. Vermutlichwird so ein Kind selbst zu einem Wesenmit zwei Innenwelten, wie jeder weiß, was esbedeutet gelobt zu werden und arbeiten zumüssen auf der anderen Seite, aber die Gefahr,emotional Probleme zu bekommen, istbei extremen Lebenswegen eher gegeben.Bei Siegfried Oelke finde ich einen gutenText zum Thema.# Alle Menschen haben Empfindungen undGefühle. Der künstlerische Mensch ist sicherlichein besonders empfindsamer Mensch. Eskann sein, dass er einen so hohen Grad vonSensibilität hat, dass seine Verletzlichkeitden Druck, den das Leben für ihn verursacht,nur erträgt, wenn er eine Form findet, mit derer sich von dem Druck befreien kann. (…). SeineEmpfindsamkeit wird bewirken, dass seineAugen immer und immer wieder wieder fasziniertsind von Dingen und Erscheinungendieser Welt und eben so sehr davon, wie mansie darstellen könnte. (…). Die oft gestellteFrage: Kann man illustrieren lernen? Einetheoretische Frage hat bestenfalls Anspruchauf eine theoretische Antwort. Was kann dienützen? Die Lust dessen, der das lernen will,was bisher beschrieben ist, muss groß sein;sie muss so groß sein, dass sie die jeweiligenSchwächen (jeder hat irgendwelche Schwächen)überwinden hilft. Seitdem der AusdruckApr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 42 [Seite 41 bis 47 ]

„Motivation“ im Schwange ist, verleitet er zurIllusion, als ließe sich auch Lust lehren. Mankann nur infizieren. Wenn einer aber gegendiese Ansteckung immun ist, dann sollte ersich unbedingt woanders seine „Ansteckung“holen. (Prof. Siegfried Oelke, Über Illustration,Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung,März 1983).Zum Begriff der Verletzlichkeit aus Sicht derPsychiatrie schreibt Bäuml:# Was versteht man unter dem „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“?Die Theorie wurde 1973erstmals formuliert. Ganz allgemein besagtsie, dass die Außenhaut der Seele, das sogenannteNervenkostüm nicht bei allen Menschengleich stabil ist, dass es wohl einigeMenschen gibt, die eine besonders dünne Außenhauthaben. (Josef Bäuml, Psychosen ausdem schizophrenen Formenkreis, Springer-Verlag 1994).Der Volksmund spricht vom zweigeteiltenMenschen im Zusammenhang mit dem BegriffSchizophrenie, aber das ist genauso nurein Begriff wie viele andere theoretischeIdeen und genügt kaum, die unterschiedlichenVerläufe psychischer Erkrankungenund zahlreichen Diagnosen seriös fassbarzu machen. Tatsächlich kennen wir alle denWunsch nach Bestätigung. Zu unterscheidenist, ob ich zwanzig Jahre bei einem Autobauertätig bin und deswegen sagen wir „Opel“ einStück von mir ist oder ich mein Leben damitzubrachte zu musizieren, zu zeichnen oderanderweitig aus mir selbst einen Künstlerformte, der scheinbar untrennbar mit demWerk verschmilzt.Wenn ein Mensch Kritik erfährt, muss er esintellektuell hinbekommen, Geschaffenesund Person zu trennen. Das „Ich“ sei eineLeistung, heißt es. Genau das steht hier zurDebatte. Kann ein Kreativer auseinanderhalten,was mit ihm passiert, er fühlt? Bleibt derSchaffende, wenn etwas nicht gelingt, seineTätigkeit misslang oder ein von ihm gemachtesProdukt fehlerhaft wurde, emotional unversehrt?Darin steckt der Spruch, die Kunstkäme vom Können genauso wie in gekonnterArbeit aus handwerklicher Sicht. Jemandschrieb, Kunst käme vom nicht mehr anderskönnen. Das drückt den Zwang aus, der damitverbunden ist. Zum einen die Faszination inder Sache, eine angenehme Erfahrung, bestimmteDinge zu bemerken in der Art wiePopper es beschreibt: Forschung. Auf deranderen Seite Reflexion, zusammen unsereindividuelle Existenz.An anderer Stelle wird bereits erwähnt, dassich als Kind einige Wochen in Marktschellenbergin Verschickung war. Schon dieser1976 übliche Begriff lässt ahnen, wie Kindergesehen wurden. Man kann mit ihnen machen,was man will? Es sind Kinder, und wirErwachsenen wissen, was gut für sie ist: Wieeine Sache verschickt. Es muss über Frühjahrund Sommer stattgefunden haben, kollidiertevermutlich mit dem Schuljahr. Ich kann michnicht hinreichend erinnern.Wann immer es möglich war, probierte ichmit meiner Zeichnerei anzugeben. Das warbereits im Kindergarten methodisch, die Leitungskräftewohlwollend zu stimmen. Nachdiesem Grundsatz ging ich jede Gruppensituationmit übergeordnetem Lehrer oder einerAufsicht an. Das hatte bei meinen Elterngewirkt, Aufmerksamkeit zu bekommen, imKindergarten und in den jeweiligen Schulklassen.Das habe ich im Studium gemacht.Es funktionierte nicht mehr nach dem Studiumin der freien Wirtschaft, denn mit meinerZielvorgabe „Illustrator“ war ich selbstständig.Nun gab es keinen Kursleiter, der mit mirals bestem Schüler punkten konnte, und dieAuftraggeber, meine Kunden, waren nicht daraninteressiert, mich zu loben.Ich erinnere, dass ich in Marktschellenbergnur eine einzige Zeichnung anfertigte. Dasist ein wenig seltsam. Vielleicht liegt es daran,dass meine Art mich beliebt machen zuwollen, von den Frauen, die uns betreuten, inkeiner Weise gestützt wurde. Das mag dazubeigetragen haben, dass ich dort unglücklichwar. Im Prinzip wäre es als therapeutischerAnsatz denkbar, aber ich glaube, dass ich dasKonzept überbewerte, würde ich das so interpretieren,und dann hätte diese Pädagogikzudem versagt. Eine unangenehme Zeit.Meine Eltern? Es hat nie an Geld gefehlt, aberetwas zu leisten wurde bei uns zu wichtiggenommen. Ich war überfordert ein ums andereMal. Die Verschickung ist im Nachhinein(gutgemeinte) Trickserei gewesen, mir denAnblick der Zerstörung meiner gewohntenUmgebung zu ersparen. Abriss des (geerbten)Altbaus für ein großes Geschäftshaus.Unter dem Vorwand, eine Art Kur würde mirzum Start auf der Realschule gut tun, warenwir beim Kinderarzt Dr. Hofeld vorstellig, erschlug es vor. Der kleine Doktor war bereitskonsultiert worden, als mir die Tischplattemit den Heften der Hausaufgaben im Blickunterm geneigten Kopf davon zu gleitenschien. Nach vorn und in einem Bogen hochsauste sie scheinbar, dass mir schwindelte,ich Stunden brauchte, aber nicht fertigwurde. Meine Mutter schlug mich mit ihremRechenschieber – warum?Sie wollte jede Sache forcieren und hattedoch selbst keine Zeit, die Arbeit zwang sie;noch im Sterben war sie der Auffassung,neu zu bauen wäre ohne Alternative notwendiggewesen. Sie beschrieb mir, währendwir im Wohnzimmer sitzend auf ihrenTod warteten, die Beerdigung planten undweinten, wie es früher in der Bahnhofstraßegewesen war. Ich erinnerte mich, stimmteschließlich zu. Das ist mein Vermögen, vondem ich heute lebe. Wir haben es auf Kostender Gesundheit erkämpft. Alternativloszur Dankbarkeit verpflichtet. Ich wurdenicht besser darin, alles richtig zu machen.Ich habe mir Mühe gegeben.Meine Mutter wollte mir ein Abitur möglichmachen.Sie war selbst nach der Elften abgegangen.Mir wurde, als zu früh eingeschultem Kindmit schwachen Noten in den Hauptfächern,die Realschule empfohlen. Ein Abitur? Ichkönnte schaffen, fand meine Mutter, was ihrmisslungen war. Eine Ahnenreihe: Der „einfache“Volksschullehrer „Uropa Bur“ hatte denVater meiner Mutter, Heinz, zum Oberstudienratzwingen wollen – der war als Matrose indie Seefahrt abgebogen. Erst als Kapitän (aufgroßer Fahrt) rehabilitiert vom Vater. Ich binauf dem Gymnasium, dem elitären „Rist“ inWedel, krachend gescheitert. Nach nur einemJahr, ging ich mit gleich drei fünfen ab. Ichmusste schräg versetzt diese Klassenstufeein zweites Mal machen.Und zu dieser Zeit ist die Verschickung mitder Barmer gewesen.Wir sind in Altona mit dem Schlafwagen abgefahren,das war mit das Aufregendste. Icherinnere, wie ich morgens aus dem rasendenZug den Kopf aus dem heruntergeschobenenFenster halte, um als Erster die Alpen zu sehen.Die Berge fand ich toll. Ich probierte mich beider Leitung beliebt zu machen. Wir nanntendie ältere Dame beim Vornamen: Charlotte.Tatsächlich war sie in Hamburg gewesen.Sogar Wedel kannte sie: die Schiffsbegrüßungsanlage;das gefiel mir, und sie mochtemich. Die Mädchen, die uns für gewöhnlichbetreuten waren nicht empfänglich für soetwas. Sie erkannten in den normaleren Kinderndas Potential, diese in Spiele und Aufgabenzu integrieren. Immer wieder fand ichZeit, ganz allein auf einer Wiese unweit derGebäude zu sitzen und mich mit dieser einzigenZeichnung zu beschäftigen, die ich dortmachte. Das war so in Zeichenblockgrößeeine Bleistiftskizze. Leider unauffindbar heute,kann ich mich ganz genau an das Problemerinnern, das ich damit hatte.Eines Tages zu Beginn startete ich mit demBild. Das fand auch wie erwartet großes Interesse.Manche schauten gern, wie sich die Szeneentwickelte. Obgleich ich immer schnellApr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 43 [Seite 41 bis 47 ]

„Du kannst nicht fluchen“. Das lässt mir die

Wahl, schlechte Tage zu ertragen. Morgen, da

kann ich es vielleicht.

Die Welt ist voller Widersprüche, dass die

grünen Parteien die Umwelt nicht retten, ist

einer. Wunderkind Greta Thunberg rastet aus

deswegen. Sie wird immer angelogen wie wir

alle, aber sie stört sich daran.

Das macht den Unterschied.

Popper stellt die Theorie richtig, er räumt auf

mit dem falschen Denken, wir sähen etwas

und reagierten darauf. Der kluge Autor macht

deutlich, dass der Normale den Wald vor lauter

Bäumen gar nicht bemerkt. „Oh wie schön

die Tanne“, sagt der Spaziergänger, aber der

Förster sieht etwas anderes.

# Dass die Wissenschaften, wie schon die

griechischen Philosophen sahen, vom Problem,

von der Verwunderung über etwas ausgehen,

das an sich etwas Alltägliches sein

kann, aber für den wissenschaftlichen Denker

eben zur Verwunderung, zum Problem wird,

das habe ich schon am Anfang angedeutet.

Meine These ist, dass jede wissenschaftliche

Entwicklung nur so zu verstehen ist, dass ihr

Ausgangspunkt ein Problem ist oder eine

Problemsituation, das heißt, das Auftauchen

eines Problems in einer bestimmten Situation

unseres Gesamtwissens.

Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Die

ältere Wissenschaftstheorie lehrte – und sie

lehrt es noch immer –, dass der Ausgangspunkt

der Wissenschaft unsere Sinneswahrnehmung

oder die sinnliche Beobachtung ist.

Das klingt zunächst durchaus vernünftig und

überzeugend, ist aber grundfalsch. Man kann

das leicht durch die folgende These zeigen:

ohne Problem keine Beobachtung. Wenn ich

Sie auffordere: „Bitte, beobachten Sie!“, so

sollten Sie mich, dem Sprachgebrauch gemäß,

fragen: „Ja, aber was? Was soll ich beobachten?“

Mit anderen Worten, Sie bitten mich,

Ihnen ein Problem anzugeben, das durch Ihre

Beobachtung gelöst werden kann; und wenn

ich Ihnen kein Problem angebe, sondern nur

ein Objekt, so ist das zwar schon etwas besser,

aber keinesfalls befriedigend. Wenn ich

Ihnen zum Beispiel sage: „Bitte, beobachten

Sie Ihre Uhr“, so werden Sie noch immer nicht

wissen, was ich eigentlich beobachtet haben

will. Wenn ich Ihnen aber ein ganz triviales

Problem stelle, dann wird die Sache anders.

Sie werden sich vielleicht für das Problem

nicht interessieren, aber Sie werden wenigstens

wissen, was Sie durch Ihre Wahrnehmung

oder Beobachtung feststellen sollen.

Als Beispiel könnten Sie das Problem nehmen,

ob der Mond im Zunehmen oder Abnehmen

ist; oder in welcher Stadt das Buch, das

sie gegenwärtig lesen, gedruckt wurde. (Karl

R. Popper, Alles Leben ist Problemlösen, Piper

1996).

Die von Popper korrigierte Einordnung unseres

Vorgehens, die Welt zu erforschen, ist für

das Begreifen der talentierten, besonderen

wie auffälligen Kinder von Bedeutung. Hier

wird die individuelle Person deutlich, die

ansetzen wird, wo andere sich nicht motivieren,

Interessantes zu bemerken. Eine gute

Beschreibung findet sich bei Feldenkrais, der

als Assistent des Physikers Joliot-Curie zugegen

war, als dieser die künstliche Radioaktivität

entdeckte. Wenn man googelt, erscheint

zuoberst dies:

# Am 15. Januar 1934 legten Irène und Frederic

Joliot-Curie der Schwedischen Akademie

der Wissenschaften ein sensationelles Forschungsergebnis

vor: Es war ihnen gelungen,

künstliche Radioaktivität herzustellen. Dafür

gab es postwendend den Nobelpreis, womit

Irène in die Fußstapfen ihrer berühmten

Mutter Marie Curie trat.

Der Assistent seinerzeit, M. Feldenkrais,

schreibt detailliert, wie das auf den Weg gekommen

ist.

# Ich habe das Glück gehabt, Zeuge eines Beispiels

von Bewusstheit des Gehörten zu sein.

In unserem Laboratorium in Paris war eine

Waage, die einige Jahrzehnte lang gedient

hatte, demontiert und eine neu entworfene

Curie-Waage installiert worden, und ich war

im Begriff nach Hause zu gehen. Frédéric

Joliot-Curie bat mich, das neue Instrument

noch anzuschaun, auf das er sehr stolz war.

Zwischen seiner zentralen Aufhängung und

seinem Gehäuse, das geerdet war, hatte das

Instrument eine Spannung von fünfzehnhundert

Volt. Es war schon spät und niemand

mehr im Labor außer uns. Joliot sah sich noch

einmal um, dann zog er seinen Mantel aus

und begann das Instrument auszuprobieren.

Er nahm einen Metallstreifen, der in der Nähe

des Instruments liegen geblieben war, legte

ihn in die Kammer und schaltete den Zähler

ein, woraufhin aus dem Lautsprecher ein Hagel

von knackenden Geräuschen kam. Joliot

machte seinem Ärger darüber Luft, dass der

Anschlag, den er aufgehängt hatte und auf

dem wer immer als letzter das Labor verließ,

gebeten wurde, das Instrument abzustellen,

nicht beachtet oder jedenfalls die Bitte nicht

befolgt worden war. Er zog den Mantel wieder

an, wir waren schon im Weggehen, als er,

die Hand nach dem Schalter ausgestreckt,

erstarrte als hätte ihn der Blitz getroffen. Er

zog den Mantel wieder aus; für alles andere

blind und taub, stand er bei der Waage und

horchte auf das Knacken. Immer noch horchend,

wandte er sich um und sagte: „Hörst

du, wie das Knacken immer schwächer wird?

Hier ist kein radioaktives Material, das eine

solche halbe Lebensdauer hat.“ Nachdem er

den Apparat seiner eigenen Vorschrift gemäß

abgeschaltet hatte, gingen wir nach Hause.

Anderntags erfuhren wir, dass die induzierte

Radioaktivität entdeckt worden war. Wäre er

jener Geräusche nicht bewusst gewahr geworden,

so hätten sie wahrscheinlich nur zu

einem Rüffel geführt für den, der es unterlassen

hatte, die Maschine abzustellen. Fast

eine Woche lang vergewisserte sich Joliot,

bevor er sich und dann die Welt überzeugen

konnte, dass die künstliche oder induzierte

Radioaktivität eine experimentell erhärtete

Tatsache ist. Er ist dann mit dem Nobelpreis

belohnt worden. Ich glaube, nur wenige Physiker

verfügen über einen solchen Grad von

Bewusstheit wie Joliot-Curie; mancher hätte

wahrscheinlich nur gemeint, es sei an dem

neuen Apparat etwas nicht in Ordnung.

Vorfälle wie dieser werden oft als „intuitiv“

wegerklärt. Meines Erachtens ist das eine

Frage der Semantik. Intuition kommt vor auf

einem Gebiet, von dem einer schon große

Erfahrung hat und das für ihn von entscheidendem

persönlichen Interesse ist. (Moshe

Feldenkrais, Die Entdeckung des Selbstverständlichen,

1981).

# Als talentiert zu gelten, heißt nicht normal

zu sein

Nicht normal sein und doch bei Verstand?

Mit einer besonderen Bewusstheit wie Joliot

gesegnet zu sein, einen Nobelpreis zu

bekommen, weil man im Knacken einer elektronischen

Waage mehr hört, als nur den

Rhythmus einiger Geräusche, ist außergewöhnlich.

Ein Musikinstrument zum Klingen

bringen oder zeichnen zu können, sensibel

die Umgebung wahrzunehmen, ist nicht normal.

Der Besondere ist nicht normal, aber das

bedeutet latent auch die Gefahr, deswegen

psychisch labil zu sein, isoliert von den anderen

ins Abseits zu geraten. Ein Grenzgänger

ist derjenige, der seine spezielle Leidenschaft

erkennt und sich auf den Weg macht, seine

Hoffnung daran hängt, ein besonderes Leben

meistern zu können.

Für ein talentiertes Kind stellt sich die Welt

mit zwei Polen dar. Da fasziniert zu lernen als

eine rasante Entwicklung, die deswegen befriedigt.

Das Andere ist der Applaus durch die

Umgebung. Das Leben des Wunderkindes ist

also eine Medaille mit zwei Seiten. Vermutlich

wird so ein Kind selbst zu einem Wesen

mit zwei Innenwelten, wie jeder weiß, was es

bedeutet gelobt zu werden und arbeiten zu

müssen auf der anderen Seite, aber die Gefahr,

emotional Probleme zu bekommen, ist

bei extremen Lebenswegen eher gegeben.

Bei Siegfried Oelke finde ich einen guten

Text zum Thema.

# Alle Menschen haben Empfindungen und

Gefühle. Der künstlerische Mensch ist sicherlich

ein besonders empfindsamer Mensch. Es

kann sein, dass er einen so hohen Grad von

Sensibilität hat, dass seine Verletzlichkeit

den Druck, den das Leben für ihn verursacht,

nur erträgt, wenn er eine Form findet, mit der

er sich von dem Druck befreien kann. (…). Seine

Empfindsamkeit wird bewirken, dass seine

Augen immer und immer wieder wieder fasziniert

sind von Dingen und Erscheinungen

dieser Welt und eben so sehr davon, wie man

sie darstellen könnte. (…). Die oft gestellte

Frage: Kann man illustrieren lernen? Eine

theoretische Frage hat bestenfalls Anspruch

auf eine theoretische Antwort. Was kann die

nützen? Die Lust dessen, der das lernen will,

was bisher beschrieben ist, muss groß sein;

sie muss so groß sein, dass sie die jeweiligen

Schwächen (jeder hat irgendwelche Schwächen)

überwinden hilft. Seitdem der Ausdruck

Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 42 [Seite 41 bis 47 ]

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