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Weil Hoffnung ändert
Apr 10, 2021
Weltbester von irgendetwas zu sein, ist nicht
nötig. Weiter zu lernen, herauszufinden, was
wichtig ist und vor allem dort zu suchen, wo
es lohnt, schon. Im Jahr 2016 schien meine
kleine Welt doch ganz in Ordnung zu sein.
Das würde nicht so bleiben, so viel war uns
schon klar. Nach seinem Schlaganfall war
mein alter Vater Erich auf Hilfe angewiesen
und wurde zu Hause von meiner Mutter gepflegt.
Depressiv hoffte er auf gar nichts, sah
keinerlei Zukunft für sich und lebte wie zur
Strafe, nicht gehen zu können. Dass er dem
traurigen Ende näher kam, konnten wir nicht
ausblenden. Im Frühjahr wurde zudem eine
ärztliche Untersuchung meiner Mutter notwendig;
und scheinbar aus heiterem Himmel
endete jede vertraute Vorstellung gemeinsamer
Zukunft. Mit der feststehenden Diagnose
ihres baldigen Todes konfrontiert, strukturierten
wir die verbleibende Zeit, in der noch
so viel geregelt werden musste. Es blieben
wenige Monate dafür.
Kurze Pause: Im Sommer waren wir wie gewohnt
für zwei Wochen auf Fehmarn, während
meine Eltern zu Hause begannen, sich
dem Unvermeidbaren zu stellen. Der Herbst
bedeutete für alle eine nicht gekannte Extreme.
Meine Mutter starb dann wie vorausgesagt
noch innerhalb des Jahres im Dezember.
Auch in jenem Sommer, dem letzten mit Eltern,
voll mit düsterer Vorahnung, zeichnete
ich. Im Kaufhaus Stolz kaufte ich mir ein kleines
Notizheft. Mit Bleistift machte ich meine
Skizzen wie gewohnt. Einmal habe ich mir
bei Rüders eine Pferdedecke geborgt, und
dort am Boden sitzend, wo die Skulptur mit
den Badenixen und ihren wehenden Handtüchern
das Auge erfreut, die Leute gezeichnet.
Ich erinnere, eine Mutter mit Tochter kommt
vorbei, meint: „Sieh mal, der Mann zeichnet
auch.“ Schnell betont sie: „Aber nicht so schön
wie du!“ Bekräftigend stellt sie’s nochmal fest.
Ohne überhaupt stehenzubleiben, zieht sie
ihre Tochter, die gern noch schauen möchte,
mit der Hand weiter. Die Mama macht Tempo,
ist die Wichtigste unbestritten.
Sie wiederholt es extra aufgesetzt:
„Du malst viel schöner!“
„Nein“, widerspricht ihr das Mädchen
ganz leise (und vermutlich
ungehört).
Ich war schon als Kind herausragend
im Zeichnen. Es tut weh,
dummen Eltern zuzuhören. Ich
war gut, wurde gelobt, aber ein
Wunderkind bin ich nicht gewesen.
Ich muss daran denken, weil
ich durch Zufall auf „Cole Trumpet“
gestoßen bin, sie ist eines.
Wie soll ich’s erklären? Ich male einfach. Ich
kann das, es beschäftigt mich. Ich bin kein
Sammler von Kunst, ich stelle meine nicht
aus. Ich fülle meine Wände mit Bildern. Wenn
ich sparsam lebe, reicht was ich habe, wenn
nicht, nehme ich einen Job an oder gehe betteln,
verblöde freiwillig gern. Ich habe fertig.
Ich suche nichts nur so. Seit dem Erlebten in
den vergangenen Jahren (mit der Politik hier
im Dorf), dem brutalen Ende, und damit meine
ich nicht das Sterben meiner Eltern: nie
wieder Kunst. Interessiert mich nicht. Kaum
einmal begeistere ich mich für die kreativen
Kollegen, folge nicht, häufe nichts an von anderen
und bin nicht informiert; aber ich höre
Musik. Was ich suchte, habe ich gefunden. Ich
warte darauf, was eventuell kommt, rechne
mit Ärger, Schmerzen. Ich hoffe auf gar nichts
und suche nie blind, wo ich gerade bin und
weil es möglicherweise leicht ist.
Ich empfinde mich als grundsätzlich frei.
Musik unterhält mich bloß. Youtube bietet
Galerien nach dem Motto „könnte interessieren“
an.
Trompete.
Ich beschreibe. Es hilft mir zu denken, kann
anderen nützen. Niccole Ramos ist mit elf
Jahren beeindruckend, auch Alba Armengou
kann spielen, etwa siebzehn, singt wunderbar.
Cole in Venezuela, Alba in Spanien,
Katalonien – Barcelona, und natürlich nicht
allein, musizieren diese faszinierenden Trompeterinnen
mit anderen jungen Menschen in
verschiedenen Formationen. Skandinavien,
Schweden: Idun, etwa siebzehn, an der Seite
ihrer Mutter Gunhild Carling, eher kein
Wunderkind der Posaune, aber bereits eine
feste Größe im Dixieland, auch das gibt es.
Joan Chamorro in Barcelona ist unermüdlich
im Zusammenstellen hochklassigen Jugendorchester:
Alba, Elsa Armengou und Andrea
Motis sind Stars.
Zumindest online.
Alte Videos zeigen, wie Hans Cooling Carling
seine Kinder zum Jazz brachte, wir sehen
Gunhild und ihre Geschwister als Kinder (in
den Achtzigern) mit dem Papa auf der Bühne.
Kein Wunder, dass Idun singt, Posaune spielt.
Auf Videos (von vor wenigen Jahren) wird
klar, dass ihr Talent anfangs kein Feuerwerk
der Jazzimprovisation gewesen ist.
Cole Trumpet Prodigy ist eine Rakete.
Das Wunderkind. Videos mit Cole, die einen
eigenen Kanal hat, machen Spaß. Sie ist unglaublich,
und sie genießt zu spielen. Man
muss sich kaum Sorgen machen, weil sie so
jung ist. Sie ist wirklich selbstbewusst, strahlt
ihre Zuhörer an. Sie ist stolz, aber fröhlich wie
ein Kind, im besten Sinne. Beruhigend. Wer
hat einen Nutzen davon, wenn ein Kind besonders
ist?
# Und was ist das überhaupt, ein Talent?
Mir sind Textstellen verschiedener Autoren in
den Sinn gekommen, etwas zu beschreiben,
das mit einem Begriff wie Talent kaum genügend
definiert ist, gerade die Umrisse erkennbar
macht vom Problem. Es ist nämlich
eines. Das normale Kind wird beschrieben
mit „kleine Kinder, kleine Probleme, große
Kinder große“, und wer sich so austauscht
findet andere, die ähnliche Geschichten parat
haben.
Aber mit einem Wunderkind fallen auch die
Eltern aus dem Rahmen.
Ein Kind kommt auf die Welt, hat Bedürfnisse,
Hunger, schreit. Es lernt sich zurechtzufinden.
Je nach Umgebung, in der ein Organismus
startet zu leben, muss das kleine System
lernen, Anforderungen an Sicherheit, Fortbestand
der Existenz und Schwierigkeiten
seiner Funktion im Detail zu befriedigen. Der
Erwachsene hat Methoden gefunden, sein
Verhalten zu rechtfertigen. Wir müssen nicht
nur wegen unserer Motive agieren, werden
bewertet, stehen unter dem Druck von Kritik.
Verantwortung ist eine intellektuelle Rahmung
unseres Seins und ergänzt die Tat. Die
Handlung wird im Dialog mit anderen hinsichtlich
ihrer logischen Qualität bewertet.
Ein Mensch muss lernen, in dieser Welt seinen
Platz zu finden. Was geschieht im Gehirn,
mit dem ganzen Menschen?
Das Ergebnis nennen wir Verstand.
Die Bewertung der Umgebung ist dahingehend
falsch, dass andere nie objektiv sind.
Kritiker bleiben subjektive Bewerter, nehmen
die ihnen fremden Motive nur ausschnitthaft
wahr; einen Anderen kennen, hieße sich
selbst kennen. So genau will man’s in der
Regel nicht wissen. Umgekehrt sind manche
gezwungen, sich selbst genau kennenzulernen.
Zum einen wegen der Faszination, eine
persönliche Lust wie etwa zu zeichnen immer
besser zu erlernen, und das heißt sich
selbst und die Welt kennenlernen wollen.
Zum anderen, um Probleme in den Griff zu
bekommen, weil es nicht geht, zu leben wie
die anderen und glücklich zu sein. Es soll einander
nicht ausschließen.
Das Ergebnis nennen wir angekommen sein.
Wenn es schwierig wird, womit auch immer
klarzukommen, gibt es Menschen, die souverän
wirken möchten. Jemand gibt sich selbstbewusst:
„Damit habe ich kein Problem.“ Konfrontiert
mit einer unerquicklichen Situation
wird Gelassenheit vorgetäuscht. Der verstorbene
Philosoph und großartige Denker Karl
Popper sah das anders? Sein Buchtitel lässt
ahnen, dass einige nur Ausflüchte zum Besten
geben. „Alles Leben ist Problemlösen“ –
müssen wir vermuten, dass diejenigen, die
kein Problem haben, schon gestorben sind?
Typen, die meinen, so zu tun als ob, werden
selbst zum Problem. Ich empfinde den Alltag
als kompliziert. Meine emotionale Freiheit
muss ich immer neu erkämpfen. Das lernte
ich so spät. Es zu können, ist meine Kunst
heute. Sie schafft mir die Luft zu atmen. Dem
Gebot „Du sollst nicht fluchen“ trotze ich mit
Apr 10, 2021 - Weil Hoffnung ändert 41 [Seite 41 bis 47 ]