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Blogtexte2021_1_12

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Ich kann kontern. „Gehen Sie doch dahinten

hin“, preie ich die Alte an, ohne sie zu respektieren,

setzte böse nach: „Ich kenne Sie. Sie

dackeln hier regelmäßig rum. Wenn Sie mich

ein weiteres Mal als ,Idioten‘ bezeichnen, zeige

ich Sie an!“ Daraufhin bekommt die Olsch

es mit der Angst zu tun, dreht sich um.

Die Doofe bleibt aber, mich nahezu anrempelnd,

nach dem Motto „mein Platz!“ auf

Tuchfühlung stehen. Sie könnte locker einige

Meter unterhalb des Regendachs beiseite

treten, wenn sie sich um unsere Gesundheit

Sorgen machte. Ich lese endlich den Aushang,

weil mein 285er nicht wie gewohnt fährt, so

gut es geht in dieser Position, diszipliniere

mich, die Klappe zu halten.

Dann steigt Nancy zufällig am Rathaus ein,

und das entschädigt nun wirklich.

Vor wenigen Tagen bin ich auf dem Gelände

des Hamburger Yachthafens unterwegs. Das

ist vergleichbar mit einem großen privaten

Parkplatz. Es gibt mehrere Bootshallen, dazwischen

sind Verbindungswege und aus

Gründen des Flutschutzes erhöhte Plateaus

mit dort abgestellten Schiffen. Eine Anlage,

die von Fahrzeugen nur in Schrittgeschwindigkeit

genutzt wird. Es beginnt zu regnen,

als der Hafenmeister (mit seinem kleinen

Fahrrad unterwegs) meint, mir eine andere

Halle am hinteren Ende des Geländes zu

empfehlen für mein Anliegen. Ich beschließe,

ihm mit dem Wagen zu folgen, statt das Auto

stehen zu lassen, wo es geparkt ist, und zu

Fuß mitzugehen. Es hört gerade auf, „langsam“

zu regnen.

# Natürlich schnalle ich mich nicht an

Schon weil die ersten Meter ausbiegend rückwärts

zu fahren sind, die nützliche Rückfahrkamera

in diesem Fall schlechter informiert

als eine beherzte Rumpfdrehung, der erweiterte

Schulterblick, den ich in der Fahrschule

lernte und in meinem Alter noch mühelos

zustande bringe. So weit so gut.

Kaum, dass ich ins Vorwärts umgeschaltet

habe, beginnt überraschend ein Warnton.

Wir haben das Fahrzeug neu. Ich kann fahren,

aber ich interessiere mich nicht für Autos,

denke naiv: „Ach so, das ist, weil ich den

Gurt nicht anlegte“, und ignoriere das Signal.

Vielleicht kann man es abstellen? Ich bin

ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert.

Ich folge dem Bootswart auf dem Klapprad.

Man glaubt es nicht: Nach wenigen fünfzig

Metern steigert sich das mahnende Piepen in

ein infernalisches Pfeifen, so was von penetrant

(!) – und sicher nicht abstellbar. Das wird

mir schon klar.

# Schöne neue Welt, ich will hier weg

Keinen Krankenwagen kann man sich als

Fußgänger noch gefahrlos anhören, wenn es

ihm gefällt, direkt neben dem Gehweg, auf

dem man läuft, sein blödes Tatü loszulassen!

Das ist lauter geworden. Eine alberne Welt,

finde ich. Wir werden älter, ja, manches ist sicherer,

natürlich. Es gibt die tollsten Produkte,

das stimmt. Nichtsdestotrotz sind viele „Zivilisationskranke“

unter uns, die an den Widersprüchen

aus Erwartungen, Absicherungen

und erhofften Lustbefriedigungen unserer

Zeit scheitern, wie immer schon Menschen in

jeder Epoche nicht klar gekommen sind. Das

stellt sich nur anders dar.

Als ich klein war, erzählte mein Vater gern

von früher. Möglicherweise ist das ein erblicher

Charakterzug. Unsere Familie käme aus

dem Mecklenburgischen hieß es, und die Vorfahren

wären als Hugenotten aus Frankreich

ausgewandert. Tatsächlich machten meine

Eltern einen Ort aus: Dingelstädt, wälzten

alte Kirchenbücher.

Vorfahre Emil-Hermann hätte „seine Geige

auf einem Zaunpfahl zerschlagen“, der junge

Mann wäre es leid gewesen, das „Gefiedel“

erlernen zu müssen. Es hieß, er hätte sich zu

Fuß auf den Weg nach Hamburg gemacht,

wurde Seemann. Mit seiner holländischen

Frau begründete der Seefahrer eine Familie

mit zahlreichen Kindern in Finkenwerder.

Willy, der verstorbene Vater von meinem

„Erich“ (den ich ganz selbstverständlich beim

Vornamen nannte, was irgendwie richtiger

war, als z.B. „Vati“ zu sagen), wurde von ihm

als „der Alte“ bezeichnet.

Wohl auch, weil er „Schipper“ im Hafen war,

ein Kapitän.

Der Alte. Dessen Bruder Johnny wurde vom

Vater zur Seefahrt gezwungen. Auf dem

Schiff vom Emil-Hermann, der dort als Steuermann

(oder Kapitän) in der Weizenfahrt

nach Australien segelte, musste der Junge

an Bord mitfahren. In einem fernöstlichen

Hafen trickste der Vater seinen Sohn aus und

ließ ihn nach einem Landgang fassungslos

allein am Ufer zurück. Der Junge sah gerade

noch, wie die Bark nah der Kimm mit dem

Schlepper in See ging. Das war tatsächlich

als Erziehungsmaßnahme gedacht, um einen

„Mann“ aus ihm zu machen. Es wurde erzählt,

Johnny hätte daraufhin nie wieder ein Wort

mit seinem Vater gesprochen, nachdem es

ihm gelang, ein Schiff und eine Heuer nach

Hamburg zu bekommen. Er war mit vielleicht

vierzehn Jahren ein Kind (und ohne Englisch

zu können) in der Fremde allein zurück gelassen

worden.

Später: Johnny trank.

Der verkaufte Fisch und anderes in einem Geschäft

am Hafen, als Adolf Hitler an die Macht

kam. „Dat gift Kriech!“, waren sich Willy und

sein Bruder sicher. „Un’ dat, wo ick grood up

de tweete Flasche an’ Doog trainier“, befand

Johnny – und meinte Hochprozentiges.

Trinken war nicht ungewöhnlich.

Mein Vater ist zunächst Maschinenschlosser

in Wedel gewesen. In der Schlosserei war es

ganz selbstverständlich, Bier im Rahmen der

Beschäftigung (mindestens in der Pause) zu

trinken. Und es gab diejenigen, die „Holsten“

bevorzugten und die anderen, die nur „Astra“

tranken.

Fett zu essen, das Trinken und zu rauchen waren

gesellschaftlich akzeptiert.

Erich las gern Simenon, bei mir stehen einige

Maigrets im Schrank. Im Internet habe ich

das erste Kapitel eines bekannten Romans

gefunden, an den ich mich gern erinnere. Ich

probiere es hier (stark) gekürzt und auf die

Bier- und Sandwichbestellungen verdichtet

zu zitieren.

# Aufregung am Quai des Orfèvres

Ab halb vier hob Maigret von Zeit zu Zeit den

Kopf, um auf die Uhr zu sehen. Um zehn vor

vier unterschrieb er das letzte Schriftstück,

das er soeben durchgesehen hatte, schob

seinen Lehnstuhl zurück, wischte sich den

Schweiß von der Stirn und betrachtete unschlüssig

die fünf Pfeifen im Aschenbecher,

die er geraucht hatte, ohne sie hinterher

auszuklopfen. (...). Es war der 4. August. Aber

obwohl die Fenster weit offen standen, hatte

es sich kein bisschen abgekühlt; heiße Luft

drang herein, die von dem geschmolzenen

Asphalt und dem glühenden Pflaster aufstieg.

Man wartete fast darauf, dass auch die Seine

anfing zu dampfen wie kochendes Wasser auf

einem Herd.

Die Taxis und Busse auf dem Pont Saint-Michel

fuhren langsamer als sonst, schleppten

sich dahin, und nicht nur bei der Kriminalpolizei

waren alle Leute in Hemdsärmeln. Auch

auf den Gehsteigen trugen die Männer ihre

Jacketts unter dem Arm, und vorhin hatte

Maigret sogar Leute in Shorts gesehen, wie

am Strand. (...).

Maigret erhob sich mühsam, nahm eine der

Pfeifen, klopfte sie aus, zündete sie an und

ging dann zu einem der Fenster, an dem er

stehen blieb, um das Restaurant am Quai

des Grands-Augustins zu beobachten. Es hatte

eine gelb gestrichene Fassade, und man

musste zwei Stufen hinuntersteigen, um in

den Gastraum zu gelangen, der gewiss fast so

kühl war wie ein Keller. Die Theke war eine

richtig altmodische Zinktheke, an der Wand

hing eine Schiefertafel, auf der mit Kreide

geschrieben stand, was es zu essen gab, und

es roch immer nach Calvados.

Bis zu den Buden der Bouquinisten am Seine-

Ufer roch es nach Calvados.

Reglos blieb er vier oder fünf Minuten stehen,

zog an seiner Pfeife, sah, wie ein Taxi unweit

des kleinen Restaurants hielt und drei Männer

ausstiegen und die Stufen hinuntergingen.

Die ihm vertrauteste der drei Gestalten

war Lognon, der Inspektor aus dem 18. Arrondissement,

der von fern noch kleiner und

dünner wirkte. Maigret sah ihn zum ersten

Mal mit einem Strohhut.

Was würden die drei trinken? Bier zweifellos.

(...).

Alles verlief wie geplant. Maigret ging, ein

wenig schwerfällig und ein wenig unruhig,

zurück in sein Büro (...).

Um sechs Uhr brachte der Kellner der Brasserie

Dauphine ein Tablett mit Biergläsern.

(...). Wenn Bier gebracht wurde, war das ein

Zeichen, dass Maigret sich auf ein langes Verhör

einstellte. (...). Um halb acht hatten sich

bereits fünf Presseleute im Flur versammelt,

und sie sahen den Kellner von der Brasserie

Dauphine mit neuem Bier und Sandwiches

heraufkommen. (...). Nacheinander verschwanden

die Reporter in einem kleinen

Büro am Ende des Flurs, um ihre Zeitung anzurufen.

(...).

„Sollen wir uns auch Sandwiches kommen

lassen?“

„Ach was!“

„Und Bier?“

Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 39 [Seite 37 bis 40 ]

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