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03.01.2022 Aufrufe

Für immer geimpftMrz 28, 2021Frau Lot schaute zurück und wurde zur Salzsäule.„Ein Tod wie gewünscht“, beginnt MaxFrisch ein Buch. Wer will denn leben? MeinDasein ist zu einer Abrechnung mit früherverkommen. Eine Existenz ohne Zukunft.Mich interessiert nicht, etwas daraus zumachen. Ich schlachte (lustlos) die Vergangenheitaus. Ich beschäftige mich. Das kannman nicht gerade als Antrieb bezeichnen. DerMotor läuft, aber im Stand, und ich rolle zumEnde einer Startbahn. Dort geht es nicht inden Himmel. Kein Abgrund droht, in den ichstürzen werde.Irgendwann bleibt meine Kiste einfach stehen.Eine Karton mit Spielzeug, das ist meine Erinnerung.Die Zukunft werfe ich täglich weg.Es gibt keine Liebe, hat niemals eine gegebenund es wird auch keine geben: Weil ich nichtweiß, was das sein soll und keine Möglichkeithabe, es noch herauszufinden. Das ist vomgroßen Versuchsleiter der du bist im Himmelausgeschlossen worden. Jedenfalls was michbetrifft. Ihr anderen, da mag es funktionieren,aber das ist mir inzwischen egal. Mein Professorim Studium und schließlich Freund (Jahrgang1923), passionierter Pfeifenraucher, hatteim Alter seinen Geruchssinn verloren. Ichhabe die Empathie verloren. Nur noch Spottbefriedigt mich. Ein kurzes Glück, wenn manglaubt, den Doofen überlegen zu sein.Viele hier nehmen teil am offenen Geheimnis,einige auch im Süden, nicht wenige am Meer.So kommt es mir vor. Das Netz reicht weiterals die Nachbarschaft. Aber es ist Ruhe eingekehrt,es gibt bessere Themen, und schonbald gerate ich in vollkommene Vergessenheit.Verbittert habe ich mich abgewandt: vonder Politik, der Demokratie, Gesellschaft. Ichveralbere die Mitmenschen, und niemand bemerktes noch. Mein Theater findet in einemSaal statt, der nicht öffentlich ist und dessendigitale Präsentation keinen Spaß macht,weil die Grundregel, dass der Clown nicht imBilde ist einer zu sein, gebrochen wurde. Einbisschen Spaß muss sein, aber wir sind allezu weit gegangen.Unser Dorf, wie im Groschenroman von G.F.Unger. Der Cowboy, ein Peter Kraus der nichtaufhören möchte, er kann mir nicht in dieAugen schauen. Unnötige Eskalation: EinPfosten wurde unangespitzt eingeschlagen.Staub hat sich gelegt, die Frontlinie ist ruhig.Einige grüßen vorsichtshalber, andere offensiv.Wir bleiben im Sattel, tippen uns denColt an die Krempe, Respekt. Das sind mir dieLiebsten. Sie spielen unser neues, fröhlichesSpiel, winken oder zeigen ihr „Victory“.# Indianerspiele, Pädophile und GendarmDer alte Rote macht es als „Peace“ (mit geschlossenenFingern). Er streckt seine Handwie eine Friedenspfeife aus. „Tu’ mir nix!“,heißt es wohl, während er anderen (fallswelche auftauchen) skandiert: „Das ist unserKünstler!“ So sichert man sich in jede erdenklicheRichtung ab. Ein gewiefter Fouché,der als einfacher Maurer angefangen hat. Erpassiert gemächlich, aber ohne wie früherfür einen Schwatz anzuhalten. Besser ist das,mag er denken. Als Grüßonkelder Arbeiterklasse reiteter den einfachen Esel, eindrahtiger Kamerad für einengewichtigen Kicker. Immerunterwegs ist der dickeMann. Er gleitet früh in denWald, macht Rast im Schnaakenmooroder dreht die kleineRunde im Dorf, beginnendvon seinen Weiden über diealte Landstraße, am Horstder Krähen und den Taubenvom von Appen vorbei wiegewohnt. Der an dieser Stellesonst unbändig belferndeHund macht ausnahmsweisekeinen Lärm.Manchmal ist zu schweigen einfach klüger.Traurig. Das Problemwildschwein ist plattgemacht,und wieder andere schämen sichscheinbar. A. rennt weg und kommt besser garnicht erst. Ich gebe zu, es tut weh. Das kannniemand weniger ändern oder rückgängigmachen als ich. Es hilft nicht, eigene Fehlereinzusehen, unmöglich nachzugeben, wohindenn und wem? Das ist paradox und stabilwie die Zwickmühle, die zum Ende des Spielsund neuem Beginn in eine neue Mühle aufeinem frischem Brett zwingt. Nicht einen Millimeterkann ich in die alte Richtung gehen.„Haben wir es nicht gewusst!“, geiferten dieSchergen, falls ich es probierte und fändeneitle Freude dran, über mich herzufallen, ihreSteine auf mich zu schmettern. Das Dreckspack.Stephans steh’ mir bei. Ein Füllhorn derKunst ist das Geschenk der Götter zu meinemTrost.Danke.Müßig, eine alte Hexe ganz oben im Rat dafürzu beschuldigen, ein Mädchen zur Marionettezu gängeln, die Unbedarfte was weiß ichglauben zu machen, ihr Gehirn zu waschen,über die armseligste Ziege von allen drobenim Turm noch zu schreiben? Home-Officeist ein willkommener Panzerwagen für eineTrumpete der Moral, die, von Haus aus feige,nur zu gern eine maskierte Schildbürgerinist und mit vorgehaltener Pappe strahlt. Sieist ihr eigenes Deepfake, renommiert wiegedruckt, ist online noch besser als live. Siewird kaum ernst genommen, ist nur eine Frauund vergleichsweise naiv emporgekommen.Chaplin ist ihr zu hoch, Burt Lancaster zu breit(das ist ja auch ein Mann), aber sie bekommtes besser hin als ein Haloween-Kürbis. Smile.Die Sicherheit und die Pflicht zu leiten undlächeln gebietet es.Unser gallisches Dorf. Der letzte, der nochmitspielt, ist O. (ein alter Römer). Wahrscheinlichist er zu dumm, zu begreifen, dass unserTheater ein Fake ist. Ein Mahner, er gibt denernsthaften Großonkel, erinnert an den Wertdes Lebens, der Familie, erklärt mir die Ehe;so belehrt er mich ein jedes Mal. Seine Tochtermöchte ich nicht sein. Die kann nicht weg,und zwar lebenslang. Diagnose: GolfplatzElternhaus. Was nimmt sich dieser Typ raus.Ich bin nicht frech. Ich habe fertig mit derScheinheiligkeit selbst ernannter Prediger:„das Buch gelesen“, mein Gott – hilf.Ich spiele nun offen ohne Handicap. Nachdemich genug probierte, weiß ich Bessereszu tun, selbst wenn die Normalität der anderenunerreichbar bleibt. Die ist auch nichtanzustreben, dasdenke ich. Bleibtnur zu malen. EineArbeit für die Tonne.Covid ist meineletzte Freude undeine Hoffnung gleichermaßen.EineFreude, weil siedie Pathologie derMasse wieder alseine Theorie, dieernsthaft zu diskutierenist, in denFokus rückt. „Waseinmal gedachtwurde, kann nichtzurückgenommenwerden“, wussteschon Dürrenmatt. Corona: Außerdem kannman tatsächlich daran sterben, und das wäreimmerhin eine Abkürzung eines ansonstenöden Lebensabschnitts.„The whole man must move at once.“Gesundes System oder infizierte Idioten? Esist jetzt an der freien offenen Gesellschaft,ihre Werte zu verteidigen und Leistungsfähigkeitim besten Sinne unter Beweis zustellen. Die letzte Chance für das Ganze, zuzeigen, dass eine gemeinsame Bedrohung zueiner geschlossenen Reaktion führt und dasSystem bindet, ohne die Einzelnen zu erdrücken.Die Diktatur haben wir abgewählt.Dorthin kommen wir nicht zurück: wo diesind, die nicht begriffen, was unsere Elternlernten. Wenn doch, dann über den UmwegChaos. Unsere Zukunft ist besser oder ein infizierterScherbenhaufen. Anführer und Follower– wenige stehen rum und sehen bloß zu.Sie traben für ihren Traum, sie rennen für denChef, kämpfen um ihre kleine Welt. Seitdemmir die eigene Existenz doch recht egal ist,denke ich emotionslos.„Schaun’ wir mal.“Als stünde ich ungeschützt auf dem atomaren(oder viralen) Versuchsgelände.Und es ist mir egal.:Mrz 28, 2021 - Für immer geimpft 36 [Seite 36 bis 36 ]

Einfach aufgehörtApr 2, 2021„Ein Mensch aus dem vorigenJahrhundert“, wer das in meiner Kindheitüber jemanden sagte, wertete ihn ab.Eine gängige Floskel, andere als altmodischabzustrafen. „Mercedesfahrer mit Hut“ oder„lebt hinter dem Mond“ ging in dieselbeRichtung. Kurz nach der Jahrtausendwendetrumpfte ein Bekannter mit dieser Neuinterpretationauf: „Ich bin ein Mensch aus demvorigen Jahrhundert“, meinte er, verzweifeltüber seine digitale Unfähigkeit. Ich konntedarüber lachen. Ein Humor, der nur bei denenverfängt, die als Kind mit Menschen konfrontiertwaren, die vor 1900 geboren sind underschrecken, dass sie inzwischen selbst abgestraftwerden können.Die Pandemie trifft gerade gut entwickelteStaaten. Wir haben ein hohes Durchschnittsalter.Ein Beleg dafür, wie verlässlich Medizinund Versorgung der Mitglieder unserer Gesellschaftsind. Wir können einen großen Teilder nicht Arbeitenden mitnehmen, stoßen aneine Grenze, die durch stetige Verbesserungdes Lebensstandards entstanden ist. Vor denersten Impfungen traf die Corona-Erkrankungbesonders die ältere Generation. Das sindMenschen, die in früheren Jahrhunderten niemalsin solcher Breite dieses Alter erreichten.„Wir haben unser Mindesthaltbarkeitsdatumlängst überschritten“, mit diesem Witz probierteein Freund zu punkten.Das kam gut an.„Soylent Green“ aus dem Jahr 1973 nimmtdiese Zukunft auf erschreckende Weise vorweg:die Überbevölkerung des Planeten. Zudieser Zeit schien ein Flug zum Mars, unddass wir ihn in nächster Zeit besiedeln würden,realistisch. Heute, wo tatsächlich darangearbeitet wird, sind Zweifel angebracht; obwir das rechtzeitig schaffen, unseren Fortbestandsichern können, die Erde bewohnbarbleibt. Außerdem kommt es einigen, dieRaumfahrt als Kind fasziniert hat, heute nichtmehr in den Sinn, sich für ein Leben im All zubegeistern.Mich irritiert, dass stetige Verbesserung undFortschritt ein Problem geschaffen haben.Die frühzeitlichen Menschen wurden nichtalt. In einer Kurzgeschichte von Jack Londonbeschreibt der Schriftsteller, wie die indigenenMenschen in Stammesstärke weiterziehenund ein Greis zurückgelassen wird. DerAlte ist erblindet, zu schwach, um die Reisein eine wärmere und fruchtbare Region einweiteres Mal schaffen zu können und weißdas auch.Ein Feuer brennt. Die anderenbrechen auf, er realisiert es anHand der Geräuschkulisse. Icherinnere nicht, ob und wie sichjemand von ihm verabschiedet,glaube aber, dass es Teil der Erzählungist. Das ist die einzigeMöglichkeit die sie kennen undakzeptierter Brauch. Der Altelegt gelegentlich Holz aus einemkleiner werdenden Stapel nach,damit das Feuer nicht verlöscht.Er prüft, wie viele Zweige nochin Reichweite sind. Er kann nichtaufstehen, nichts sehen, undes beginnt zu schneien. Langeschon ist nichts mehr von der Sippe zu hören.Erinnerungen kommen ihm, während es kälterwird, der Holzvorrat kleiner. So ungefähr.Das habe ich als Jugendlicher verschlungen,dann ging das Buch verloren. Als ich’s späterin einem Geschäft entdeckte, habe ich eswieder gekauft, noch einmal gelesen. Es stehtim Regal. (Jack London, Alaska-Erzählungen,Das Gesetz des Lebens, Fischer 1992).Einiges passierte seit der Steinzeit. Die Zivilisationerfand den Fortschritt, der Menschzivilisierte sich fort. Zurück zur Natur? Immergalt anderes als richtig. Vor wenigen Tagenzappte ich in eine archäologische Sendung.Gezeigt wurde im zufällig erwischten Momentder Schädel einer Frau. Die lebte beiRom zur Zeit Cäsars, starb früh. Die Spezialistenfür die Epoche stellten Hypothesenauf. Eigentlich ein Mädchen, etwa zehn Jahrealt, könnte sie die Frau eines Soundso gewesensein oder eine Sklavin. Das wäre üblichgewesen, und heute würden wir sagen, esist ein Kind. Das erklärte der Sprecher ganznebenbei. Keineswegs wurde eine Parallelein die Neuzeit gezogen und unsere Sexualpraktikenoder der Sinn von Ehe, Schutz derKinder und dergleichen diskutiert. Wie langedauert Kindheit? Wer bestimmt darüber:Gott, die Natur, der Staat oder die Nachbarn?Ist’s richtig wie es jeweils üblich ist; das wäreeine andere Doku mit entsprechendem Thema.Ich habe mich nicht mit der Sendungaufgehalten, ein prägnanter Schnipsel bliebhängen, mehr nicht. Diese Forscher bewertenim Rahmen der jeweiligen Schublade, in dersie tätig sind.Schon immer wurde über junge Menschenentschieden, wie es richtig sei, sich gehöre.Die Macht der sogenannten Erwachsenenbestimmt ihr Leben. Wer glaubt, heute seidie Welt besser und er selbst menschlicherim Sinne von gütiger, fairer und gerecht,muss berücksichtigen, Teil der Gegenwartzu sein und diese nur mitzugestalten, abernicht grundsätzlich erschaffen zu haben. Esist leicht aufzuzeigen, wie widersprüchlichunsere Umgebung auch heutzutage kommuniziert,und immer noch werden besondersjunge Menschen massiv getäuscht.Als Kind wurde ich nach Marktschellenberg„verschickt“, im Berchtesgadener Land, undzwar 1976, wohl noch vor dem zwölftenGeburtstag im August. Mit dem für mich inzwischenbefremdlich anmutenden Begriffbezeichnete man ganz offiziell eine Sozialleistungder Krankenkasse. Das geschah fürsechs Wochen in den großen Ferien im Sommer.Ich vermute diesen Grund: Meine Elternplanten einen Neubau. In einer (besondersfür meine Mutter) typischen Weise wurde mirnur angedeutet, was im Gange war. Nach einemGespräch mit Dr. Hofeld entschied derKinderarzt, ich sei zu leicht für mein Alter, zudünn. Die Barmer-Ersatzkasse hätte in denBergen ein (schönes) Kinderheim, dort müssteich hin, und dann würde das besser.Als ich zurück kam, war unser Haus bereitsabgerissen, ein Schock für mich. Ich sollemich freuen über das großartige Projekt, einGeschäftshaus zu bauen, das spürte ich, unddann freute ich mich nach Kräften. Tatsächlichhatte ich nicht zugenommen, aber dasinteressierte niemanden. Ich fühlte mich diemeiste Zeit vollkommen einsam und verlassenin Berchtesgaden.Dort sah ich zum ersten Mal Filme der populärenSerie „Don Camillo und Peppone“ imFernsehen. Später habe ich mehrere originaleBücher dieser Geschichten für die Zeitungvon Guareschi gelesen. Neben Steinbecks„Von Mäusen und Menschen“ mit John Malkovich,empfinde ich die Bassa-Verfilmungenals nah am Text gelungene Adaptionen. Mitden beliebten Karl-May-Filmen konnte ichweniger anfangen. Andere haben auch Probleme:Spencer Tracy könne nicht der alteMann sein, den Hemingway gemeint habe,fand Otto Ruths, mein alter Professor. MitFernandel, der ja tatsächlich Franzose war,J. Tati in „Mon Oncle“ oder „Ferien am Meer“,und natürlich Chaplin in vielen Filmen, istmeine Erinnerung an früher untrennbar verwoben.Den „kleinen Prinzen“ von Saint Ex’habe ich natürlich gelesen und weitere Bücherdes Fliegers und wunderbaren Autors.Mich hat der Wunsch umgetrieben, wie diezu werden, die ihre Kindheit nicht vergessenhaben. Warum? Das könnte ich erst heute sagen:Das Beste am Älterwerden ist wohl diezunehmende Freiheit der Bewertung, alsofrei zu werden vom Zeitgeist und die Modewahlweise ins persönliche Dasein zu integrierenoder abzulehnen. Das konnte ich nichtbegreifen. Aber es würde sich mal später lohnen,das war schon klar.Guareschi beschreibt das Fahrrad in der Bassa.# Man kann nicht verstehen, dass es auf demErdenfleck zwischen dem großen Fluss undder großen Straße eine Zeit gegeben habensollte, in der das Fahrrad unbekannt war. Tatsächlichfahren in der Bassa alle Rad, von denAchtzigjährigen bis zu den Fünfjährigen. (…).Man muss wirklich lachen, wenn man dieFahrräder der Städter sieht, diese funkelndenDinger aus besonderen Metallen, mitelektrischer Beleuchtung, Gangschaltungen,patentierten Werkzeugtaschen, Kettenschutzdeckeln,Kilometerzählern und anderenderartigen Dummheiten. Das sind keineFahrräder, sondern Spielzeuge zur Unterhaltungder Beine. Das wirkliche Fahrrad musswenigstens dreißig Kilo wiegen. Der Lackmuss bis auf kleine Spuren abgekratzt sein.Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 37 [Seite 37 bis 40 ]

Einfach aufgehört

Apr 2, 2021

„Ein Mensch aus dem vorigen

Jahrhundert“, wer das in meiner Kindheit

über jemanden sagte, wertete ihn ab.

Eine gängige Floskel, andere als altmodisch

abzustrafen. „Mercedesfahrer mit Hut“ oder

„lebt hinter dem Mond“ ging in dieselbe

Richtung. Kurz nach der Jahrtausendwende

trumpfte ein Bekannter mit dieser Neuinterpretation

auf: „Ich bin ein Mensch aus dem

vorigen Jahrhundert“, meinte er, verzweifelt

über seine digitale Unfähigkeit. Ich konnte

darüber lachen. Ein Humor, der nur bei denen

verfängt, die als Kind mit Menschen konfrontiert

waren, die vor 1900 geboren sind und

erschrecken, dass sie inzwischen selbst abgestraft

werden können.

Die Pandemie trifft gerade gut entwickelte

Staaten. Wir haben ein hohes Durchschnittsalter.

Ein Beleg dafür, wie verlässlich Medizin

und Versorgung der Mitglieder unserer Gesellschaft

sind. Wir können einen großen Teil

der nicht Arbeitenden mitnehmen, stoßen an

eine Grenze, die durch stetige Verbesserung

des Lebensstandards entstanden ist. Vor den

ersten Impfungen traf die Corona-Erkrankung

besonders die ältere Generation. Das sind

Menschen, die in früheren Jahrhunderten niemals

in solcher Breite dieses Alter erreichten.

„Wir haben unser Mindesthaltbarkeitsdatum

längst überschritten“, mit diesem Witz probierte

ein Freund zu punkten.

Das kam gut an.

„Soylent Green“ aus dem Jahr 1973 nimmt

diese Zukunft auf erschreckende Weise vorweg:

die Überbevölkerung des Planeten. Zu

dieser Zeit schien ein Flug zum Mars, und

dass wir ihn in nächster Zeit besiedeln würden,

realistisch. Heute, wo tatsächlich daran

gearbeitet wird, sind Zweifel angebracht; ob

wir das rechtzeitig schaffen, unseren Fortbestand

sichern können, die Erde bewohnbar

bleibt. Außerdem kommt es einigen, die

Raumfahrt als Kind fasziniert hat, heute nicht

mehr in den Sinn, sich für ein Leben im All zu

begeistern.

Mich irritiert, dass stetige Verbesserung und

Fortschritt ein Problem geschaffen haben.

Die frühzeitlichen Menschen wurden nicht

alt. In einer Kurzgeschichte von Jack London

beschreibt der Schriftsteller, wie die indigenen

Menschen in Stammesstärke weiterziehen

und ein Greis zurückgelassen wird. Der

Alte ist erblindet, zu schwach, um die Reise

in eine wärmere und fruchtbare Region ein

weiteres Mal schaffen zu können und weiß

das auch.

Ein Feuer brennt. Die anderen

brechen auf, er realisiert es an

Hand der Geräuschkulisse. Ich

erinnere nicht, ob und wie sich

jemand von ihm verabschiedet,

glaube aber, dass es Teil der Erzählung

ist. Das ist die einzige

Möglichkeit die sie kennen und

akzeptierter Brauch. Der Alte

legt gelegentlich Holz aus einem

kleiner werdenden Stapel nach,

damit das Feuer nicht verlöscht.

Er prüft, wie viele Zweige noch

in Reichweite sind. Er kann nicht

aufstehen, nichts sehen, und

es beginnt zu schneien. Lange

schon ist nichts mehr von der Sippe zu hören.

Erinnerungen kommen ihm, während es kälter

wird, der Holzvorrat kleiner. So ungefähr.

Das habe ich als Jugendlicher verschlungen,

dann ging das Buch verloren. Als ich’s später

in einem Geschäft entdeckte, habe ich es

wieder gekauft, noch einmal gelesen. Es steht

im Regal. (Jack London, Alaska-Erzählungen,

Das Gesetz des Lebens, Fischer 1992).

Einiges passierte seit der Steinzeit. Die Zivilisation

erfand den Fortschritt, der Mensch

zivilisierte sich fort. Zurück zur Natur? Immer

galt anderes als richtig. Vor wenigen Tagen

zappte ich in eine archäologische Sendung.

Gezeigt wurde im zufällig erwischten Moment

der Schädel einer Frau. Die lebte bei

Rom zur Zeit Cäsars, starb früh. Die Spezialisten

für die Epoche stellten Hypothesen

auf. Eigentlich ein Mädchen, etwa zehn Jahre

alt, könnte sie die Frau eines Soundso gewesen

sein oder eine Sklavin. Das wäre üblich

gewesen, und heute würden wir sagen, es

ist ein Kind. Das erklärte der Sprecher ganz

nebenbei. Keineswegs wurde eine Parallele

in die Neuzeit gezogen und unsere Sexualpraktiken

oder der Sinn von Ehe, Schutz der

Kinder und dergleichen diskutiert. Wie lange

dauert Kindheit? Wer bestimmt darüber:

Gott, die Natur, der Staat oder die Nachbarn?

Ist’s richtig wie es jeweils üblich ist; das wäre

eine andere Doku mit entsprechendem Thema.

Ich habe mich nicht mit der Sendung

aufgehalten, ein prägnanter Schnipsel blieb

hängen, mehr nicht. Diese Forscher bewerten

im Rahmen der jeweiligen Schublade, in der

sie tätig sind.

Schon immer wurde über junge Menschen

entschieden, wie es richtig sei, sich gehöre.

Die Macht der sogenannten Erwachsenen

bestimmt ihr Leben. Wer glaubt, heute sei

die Welt besser und er selbst menschlicher

im Sinne von gütiger, fairer und gerecht,

muss berücksichtigen, Teil der Gegenwart

zu sein und diese nur mitzugestalten, aber

nicht grundsätzlich erschaffen zu haben. Es

ist leicht aufzuzeigen, wie widersprüchlich

unsere Umgebung auch heutzutage kommuniziert,

und immer noch werden besonders

junge Menschen massiv getäuscht.

Als Kind wurde ich nach Marktschellenberg

„verschickt“, im Berchtesgadener Land, und

zwar 1976, wohl noch vor dem zwölften

Geburtstag im August. Mit dem für mich inzwischen

befremdlich anmutenden Begriff

bezeichnete man ganz offiziell eine Sozialleistung

der Krankenkasse. Das geschah für

sechs Wochen in den großen Ferien im Sommer.

Ich vermute diesen Grund: Meine Eltern

planten einen Neubau. In einer (besonders

für meine Mutter) typischen Weise wurde mir

nur angedeutet, was im Gange war. Nach einem

Gespräch mit Dr. Hofeld entschied der

Kinderarzt, ich sei zu leicht für mein Alter, zu

dünn. Die Barmer-Ersatzkasse hätte in den

Bergen ein (schönes) Kinderheim, dort müsste

ich hin, und dann würde das besser.

Als ich zurück kam, war unser Haus bereits

abgerissen, ein Schock für mich. Ich solle

mich freuen über das großartige Projekt, ein

Geschäftshaus zu bauen, das spürte ich, und

dann freute ich mich nach Kräften. Tatsächlich

hatte ich nicht zugenommen, aber das

interessierte niemanden. Ich fühlte mich die

meiste Zeit vollkommen einsam und verlassen

in Berchtesgaden.

Dort sah ich zum ersten Mal Filme der populären

Serie „Don Camillo und Peppone“ im

Fernsehen. Später habe ich mehrere originale

Bücher dieser Geschichten für die Zeitung

von Guareschi gelesen. Neben Steinbecks

„Von Mäusen und Menschen“ mit John Malkovich,

empfinde ich die Bassa-Verfilmungen

als nah am Text gelungene Adaptionen. Mit

den beliebten Karl-May-Filmen konnte ich

weniger anfangen. Andere haben auch Probleme:

Spencer Tracy könne nicht der alte

Mann sein, den Hemingway gemeint habe,

fand Otto Ruths, mein alter Professor. Mit

Fernandel, der ja tatsächlich Franzose war,

J. Tati in „Mon Oncle“ oder „Ferien am Meer“,

und natürlich Chaplin in vielen Filmen, ist

meine Erinnerung an früher untrennbar verwoben.

Den „kleinen Prinzen“ von Saint Ex’

habe ich natürlich gelesen und weitere Bücher

des Fliegers und wunderbaren Autors.

Mich hat der Wunsch umgetrieben, wie die

zu werden, die ihre Kindheit nicht vergessen

haben. Warum? Das könnte ich erst heute sagen:

Das Beste am Älterwerden ist wohl die

zunehmende Freiheit der Bewertung, also

frei zu werden vom Zeitgeist und die Mode

wahlweise ins persönliche Dasein zu integrieren

oder abzulehnen. Das konnte ich nicht

begreifen. Aber es würde sich mal später lohnen,

das war schon klar.

Guareschi beschreibt das Fahrrad in der Bassa.

# Man kann nicht verstehen, dass es auf dem

Erdenfleck zwischen dem großen Fluss und

der großen Straße eine Zeit gegeben haben

sollte, in der das Fahrrad unbekannt war. Tatsächlich

fahren in der Bassa alle Rad, von den

Achtzigjährigen bis zu den Fünfjährigen. (…).

Man muss wirklich lachen, wenn man die

Fahrräder der Städter sieht, diese funkelnden

Dinger aus besonderen Metallen, mit

elektrischer Beleuchtung, Gangschaltungen,

patentierten Werkzeugtaschen, Kettenschutzdeckeln,

Kilometerzählern und anderen

derartigen Dummheiten. Das sind keine

Fahrräder, sondern Spielzeuge zur Unterhaltung

der Beine. Das wirkliche Fahrrad muss

wenigstens dreißig Kilo wiegen. Der Lack

muss bis auf kleine Spuren abgekratzt sein.

Apr 2, 2021 - Einfach aufgehört 37 [Seite 37 bis 40 ]

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