Blogtexte2021_1_12
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menschliches Verhalten, Angewohnheiten
und schließlich über China. Er wüsste nicht,
weshalb wir gerade die Asiaten thematisieren,
meint er. Jahrelang hätte er nicht mehr
daran gedacht, komisch, dass er’s grad nun
erinnere, aber dort ließe man verlorenes Geld
auf dem Gehweg besser liegen. Es gelte als
verpönt, einen Cent aufzusammeln, da das
Unglück bringe.
Das ist ja interessant, denke ich und sage
nicht, wie sich einige ganz offensichtlich darüber
amüsiert haben, Geld wie verloren extra
auszulegen, wo ich gleich auftauchen würde.
Was für ein Spaß! Wie der Bassiner sich freut,
wenn er wieder Geld findet. Ich erinnere das
süffisante Grinsen. Theresa (beim Bäcker), die
spanische Nase, schiebt neun einzelne Cent
auf den Wechselgeldteller: „Mach nicht zu
doll damit.“ Inzwischen entdecke ich so gut
wie nie mehr was, es macht ihnen keinen
Spaß mehr? Ich lasse das heute liegen, für
die Armen.
# Danke für diesen Hinweis
Ich greife mir an den Fuß, denke und überlege.
Auf meine Frage erklärt der Mann, er
sei Rentner und wäre beim Theater gewesen,
„seine Leute“ seien auf dem Markt. Eine
seltsame Art zu sprechen für einen jungen
Rentner. „An welchem Theater waren Sie
denn?“, frage ich. „An verschiedenen.“ Er hätte
das Publikum bespaßt und zentnerschwere
Frauen gestemmt, Ha-ha. Ein Zentner, das
wären ja nur fünfzig Kilo. Viele wüssten es
nicht. Man hat schon von verdeckten Ermittlern
gehört. Ich überlege, ihm zu sagen, mir
ginge durch den Kopf alle meine Bilder, das
Boot und die Bürgermeisterin zu zersägen, an
nur einem Tag. Ich behalte das aber lieber
für mich. Nachher glaubt er es, und ich bekomme
„die offizielle“ Gefährderanzeige. Die
einfache (verdeckt getragene) GKR-Epaulette
genügt mir. Vorhin hat er noch intensiv mit
den Eltern von L. seitlich der Fensterfront gequatscht,
ist aufgestanden und los spaziert,
bevor er (zielstrebig) zu mir kommt: „Ist hier
noch frei?“ Diese „Leute“ kenne ich einigermaßen,
und der Markt ist ganz dahinten woanders.
Das ist mir aufgefallen.
Er wäre sonst mehr in Blankenese zu Hause
und verkehre gern in der Kneipe bei den Dockenhudener
Arkaden.
„Die Linde“, sage ich.
Und rege an: „Mich kennen einige“, aber das
misslingt vollständig. Er kennt meine Freunde
nicht, und seine Namen klingen wie schnell
erfunden. Auf meinerseits „Toddel, Schampus
oder Telle“, präsentiert er: „Schnuddel, Duddel,
Kuddl“, das sind bemühte Wortschöpfungen.
Ich könnte mit „Pietn, Piwi, Ewu, Schnalle
oder Treets, Petrus und Himbeertoni“ nachlegen,
ohne üben zu müssen.
Uwe.
Wir haben einander geduzt. Schließlich geht
er mit der Bemerkung, wir würden uns „sicher
nie wieder“ begegnen. Er setzt sich um die
Ecke an den anderen Tisch erneut zu dieser
Familie mit ihrem erwachsenen, aber psychisch
kranken Kind; Menschen, die mir aus
direkter Nachbarschaft bekannt sind?
Ein verkorkstes Händeschütteln, bei dem sich
unsere Hände verfehlen und in die nötige
Position mühsam hinwurschteln, ist noch zu
spüren: „Danke für das doch ganz nette Gespräch“,
hat er gesagt.
Ich bin höflich verstört. „Einen schönen Tag
noch …“
# Deine Leute auf dem Markt sind meine im
Café
Dr. John, Norbert, Susanne und Tom: Agenten
klopfen einander ab. Ich habe alle Ian Fleming
Romane gelesen. „Du lebst nur zweimal“
mehrmals. Unvergessen, wie Bond den
Hals des Mannes zudrückt, der ihm die Liebste
genommen hat: „Stirb Blofeld, stirb!“ Die
Lizenz zu töten. Blofeld stirbt, endlich. Der
Vulkan fetzt ihm den Arsch weg. Und James
bei den Fischern vergisst, wer er ist. M. muss
ohne ihn weitermachen.
Sir Miles. So nennt man mich beim Italiener.
Ich trinke dort den Wutmacher wie der Admiral.
Rekrut im Gelände? Unvergesslich bleibt
auch diese andere Geschichte: Ich bin mit
einem Segelmacher verabredet. Da meine
Frau unser Auto hat, fahre ich mit der S-Bahn
nach Wedel. Der Weg führt geradeaus die
Bahnhofstraße entlang, in Richtung meines
Elternhauses, wie schon unzählige Male in
meinem Leben. Gerade wird das Gebäude der
Volksbank abgerissen. Die Bank will ihr in die
Jahre gekommenes Eigentum aufwerten und
eine kombinierte Wohn- und Geschäftsimmobilie
bauen. Das hat mir eine Mitarbeiterin
erzählt. Eine Baugrube gähnt dort. Verschiedene
Fahrzeuge, Bagger, Arbeiter mit Maschinen
und ein großer Kran produzieren jede
Menge Staub und Lärm. Um die Passanten
vor Dreck und Gefahren zu bewahren, haben
die Verantwortlichen vorn zwei Container
aufgestellt, wo für gewöhnlich der Gehweg
verläuft. Die stehen der Länge nach mit geöffneten
Stirnseiten zum Tunnel aneinander
montiert und bilden eine schützende Röhre
für Fußgänger. Die Radfahrer, deren Fahrspur
hier unterbrochen ist, sind gebeten das Rad
zu schieben.
So ein Mann mit Fahrrad kommt mir genau
hier im provisorischen Tunnel wie zufällig
entgegen. Wir treffen in der Mitte der Blechkammer
aufeinander. Der hat eine derbe
Stoffjacke an, große rotbraune Karos. Vielleicht
noch eine Kappe aus Cord auf dem
Kopf, das weiß ich nicht mehr. Kräftig. Er gibt
sich wie ein kanadischer Holzfäller. In dem
Moment (so scheint es mir), wo er mich sieht,
fährt ein: „Da ist er ja!“ durch seine Züge.
Und dieser Mann kehrt nun um.
Noch im Tunnel, genau neben mir, wo es eng
ist. Wie auf Befehl. „Meine Aufgabe beginnt
jetzt“, scheint er zu denken. So würde ich es
im Nachhinein beschreiben. Das ist seine
Körpersprache, wie in einem Buch für andere
mitzulesen. Ein laienhaftes Theater verstärkt
das noch: Er tut gestisch, als hätte er etwas
vergessen und trabt mit seinem Rad, die
Hand am Lenker, ab sofort in meine Richtung
mit.
Mein Schatten?
Kann ja mal sein, dass einer zurück muss, weil
ihm was einfällt. Wir kennen einander nicht,
sind uns fremd. Warum habe ich das registriert?
Soweit hätte ich’s gar nicht wichtig genommen.
Irgendein Typ, und der dreht wieder
um. Ich kümmere mich nicht um den Mann
und hätte ihn vergessen, wenn das Ganze an
dieser Stelle zu Ende gewesen wäre.
Zeit vergeht.
Ich erreiche mein Elternhaus. Ich denke nicht
weiter an diesen Holzfäller. Das wäre vollkommen
unbewusst geblieben, ein Zusammentreffen
im Bautunnel vor der Volksbank.
Ich hätte gar nichts daran festgemacht und
habe ja eigene Ziele im Sinn. Das Wetter ist
gut, sonnig mit leicht dunstigem Himmel
und windstill. Ich bin unterwegs auf dem Hof,
schließe die Pforte auf, hole Erich’s Fahrrad,
um damit zum Hafen zu fahren, wo mein Boot
liegt, ich mit Hauke verabredet bin. Das haben
wir einander gestern per Mail bestätigt. Mein
Vater ist gestorben, und viele Erinnerungen
sind in meinem Kopf, wenn ich mit seinem
Hercules unterwegs bin.
Gemütlich radele ich die Bekstraße durch ihre
Kurven den Geesthang hinab. Ich fahre einige
hundert Meter über die Schulauer Straße
und um die Ecke bei der Sonne vom Planetenlehrpfad
in die Deichstraße, schließlich
die Anhöhe rauf, wo Jan und „Hochwürden
der Pabst“ ihren Laden haben. Rechts führt
der kreuzende Weg für Radfahrer und Spaziergänger
über die Kuppe, die unser großer
Seedeich bildet, der wohl Ende der Siebziger
nötig wurde: Ich erinnere mich, sehe wieder
die Bagger und Planierraupen in der schweren
Kleie unterwegs, wie damals, als ich noch
ein Kind war. Meine Augen sind die aufmerksamen
eines Indianers im Gelände.
Unten auf der Deichverteidigungsstraße ist
wieder der rotbejackte Mann unterwegs!
Unverkennbar, das ist der Typ aus der Bahnhofstraße,
der in dem Moment umdrehte, als
er mich sah. Jetzt ist es mehr als eine nebensächliche
Erinnerung. Nicht zum ersten Mal
passiert so etwas, und meine Sinne sind hellwach.
Viele Male ist es vorgekommen, dass
Bekannte scheinbar ganze Sätze zitieren, die
Teil meiner E-Mail-Kommunikation mit anderen
sind. Was wir im Fernsehen schauen,
wie ich mit Migräne leide und wer gestern
zu Besuch ist, wohlmeinend wird’s angedeutet,
eben nicht ganz konkret und mit einem
feinem Humor weitergezinkt. Woher wissen
(so viele) Fremde, was bei mir passiert? So
etwas macht neurotisch und paranoid. In der
Summe wird einfach zu oft und viel zu exakt
nachgesprochen, was bei uns privat gerade
ansteht. Ich spinne vernünftigerweise, und
das seit mehreren Jahren. Freunde sagen mir
schon wie wissend, ohne sich anschließend
(auf Nachfrage) genauer zu erklären: „Du bist
nicht krank.“
Das macht krank.
Mrz 18, 2021 - Der harte Knochen 33 [Seite 32 bis 34 ]