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Blogtexte2021_1_12

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und Obergefreite R. fuhr wie der leibhaftige

Teufel, uns alle in den Tod mitzunehmen. Wir

bretterten über die Dörfer. Unser Fahrer gab

Gas, dass der Motor brüllte, fuhr immer zu

schnell. Ein fröhlicher Rennpilot, der dabei

noch erzählte und scherzte, während er genüsslich

bewies, was er drauf hatte. Sein Auto

knallte über die kleinen, oft unbeschrankten

Bahnübergänge Schleswig-Holsteins.

Mit quietschenden Reifen schleuderten wir

durch die Kurven schmaler Landstraßen. Er

überholte, wo immer es möglich war. Wir

fanden das großartig, so schien es, denn alle

unterstützen sein Fahren verbal. Wir lachten,

grölten derbe Sprüche und feuerten ihn noch

an, wollten Männer sein.

Wir Helden!

Mit einer Ausnahme. Einen Feigling hatten

wir. Der saß hinten und stöhnte schweißgebadet

bei jeder haarsträubenden Aktion

auf. Nach seinem Bekunden war er kurz davor,

sich zu übergeben. Das ignorierten wir

anderen geflissentlich. Er saß mittig, sein

Oberschenkel berührte meinen, und mit

dem schlanken Oberkörper schwankte er

vor und zurück wie in Trance. Oft schloss er

die Augen. Während mir einige Namen und

dazugehörige Geschichten noch heute präsent

sind, erinnere ich nur, dass dieser Soldat

auch sonst als zartbesaitet galt. Nach Kräften

probierte ich, wie ein Mann zu wirken. Das

hat wenig Eindruck gemacht, ein unnötiger

Selbstbetrug. Heute finde ich, das war dummes

Hinterherlaufen und sich wer weiß was

vorzumachen.

Im Auto hatte ich eine Hand im Türgriff verankert.

Ich klemmte zwischen den Kameraden

in die Seite gekeilt, während wir gestoßen

wurden wie im Scooter. Wir machten uns

über ihn lustig. Wir piesackten ihn unablässig

damit, was für ein Schisser er wäre. Der Arme!

Ha-ha. Er wurde beinahe ohnmächtig vor

Angst. Und das zeigte er auch noch: „Kannst

du bitte ein wenig langsamer fahren“, meinte

er immer wieder mit zaghafter Stimme. Wir

begriffen nicht: Das war bestimmt der mutigste

von uns. Er sagte was, traute sich. Das

spornte den Fahrer nur noch an. Wir anderen

lärmten, lachten, schnauften! Ich glaube, er

fand einen Ort abzukürzen. Er bat um Halt,

stieg allein aus, nahm früher als beabsichtigt

für den Rest seiner Heimfahrt den Zug. Ein

unscharfes Bild schwimmt in meinem Kopf.

Es dämmert und ein leichter Nieselregen

trübt die Sicht, ein Bahnhof wartet im Hintergrund

auf den Fahnenflüchtigen. Mir ist,

als erinnere ich ihn von hinten gesehen in

Uniform, gebeugte Schultern, die Sporttasche

mit schmutziger Wochenendwäsche in der

Hand. Das rote Barett schief über’s Ohr gezogen,

trottet der schlappe Kamerad davon.

Wir alberten aus dem offenen Seitenfenster,

spotteten ihm blöde hinterher, donnerten

weiter. Gut möglich, dass wir dazu unablässig

Bier (aus Dosen) konsumierten. „Wochenende!

Weg mit den Rotärschen, den Bremsern,

ööääh!“ Heute denke ich anders über diese

Fahrt.

nen, was immer zusammen unterwegs ist.

Angst ist keine Kopfsache. Sie betrifft den

ganzen Menschen, wie die Steigerung Wut

deutlich macht. Ob ich in lähmender Katatonie

verharre, weglaufe oder zuschlage, dass

ist alles dieselbe Basis. Wenn die Angst dazu

führt, unser Auto schneller zu fahren als gut

ist, dann benötigen wir Muskulatur,

das Gaspedal durchzutreten.

Dass Angst sich auch anders manifestiert,

wie Mut daherkommt?

Größere „Geister“ als ich haben

bereits Bücher zu diesem Thema

verfasst. „Das Körperschema der

Angst“ ist eine Kapitelüberschrift

bei Moshe Feldenkrais (Body and

Mature Behavior, 1949) und „Langeweile

sei die ausgedünnteste

Form der Angst“, schreibt Paul

Watzlawick an einer Stelle. (Vom

Unsinn des Sinns oder vom Sinn

des Unsinns, Piper 1995). Das erste

zeigt auf, wie untrennbar vom

Denken der Mensch ein inneres

System nutzt, auf komplexe Situationen zu

reagieren, sich das in der Muskulatur zeigt,

und das zweite (im Kapitel „Sinn oder Un-

Sinn unserer Wirklichkeitsvorstellung“ des

genannten Buches gefundene) Zitat macht

deutlich, dass die Langeweile nur ein Wort ist,

welches neu interpretiert das immer gleiche

Problem des Menschen beim Namen nennt.

Als Kreativer ist es unabdingbar, seine Gliedmaßen,

die Atmung und den Willen auf das

Ziel hin zu bündeln wie das ein guter Sportler

macht. Mit „Mama, mir ist langweilig“ kann

ich kein Bild fertig bekommen.

:(

# Nur einer hat was gemerkt, und wir lachten

ihn aus

Der Trainer beschreit es, der Arzt ermahnt:

„Das ist eine Kopfsache!“, aber es nützt oft

nichts. Wie reißt man sich zusammen? Mental

sei das Problem, die wenigsten wollen es

wahrhaben, dass Körper und Geist nur zwei

Worte sind, ein intellektueller Trick zu tren-

Mrz 8, 2021 - „Mama, mir ist langweilig.“ 30 [Seite 29 bis 30 ]

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