Blogtexte2021_1_12
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„Mama, mir ist langweilig.“
Mit achtzehn Jahren wohnte ich noch bei
meinen Eltern. Kurz nach meinem Geburtstag
hatten wir eine Playboy-Ausgabe im
Briefkasten. Ein Werbegeschenk auf meinen
Namen persönlich zugestellt. Ich sei nun
erwachsen, und hier stünde alles, was Männern
Spaß macht, so ungefähr. Tatsächlich
erfolgreich beworben, kaufte ich von da an
gelegentlich das Heft. Als wir den Haushalt
meiner verstorbenen Eltern auflösten, fand
ich einen Stapel alter Ausgaben. Nicht nur
diese Magazine haben wir weggeworfen.
Vieles mehr, das einen vertrauten Platz im
Keller hatte, ist weg. Manches ist so fest mit
Erinnerungen verbunden. Es fühlt sich an und
kommt mir vor, wie noch immer dorthin zu
gehen, wenn ich nur dran denke.
Es war die Ausgabe vom Juli 1994 mit einem
Interview von Bill Gates, die mich motivierte,
meinem Leben eine bessere Richtung zu
geben, ohne dass ich’s gleich begriff. Gates
war für mich zu der Zeit nur irgendein ein
Typ. Microsoft spielte keine Rolle für Grafiker,
fand ich. Das waren die Computer der anderen,
der Masse. Es hat mich nicht interessiert.
Ein graues Porträt, und lang war der Text. Ich
habe es überblättert, die Hochglanzbilder
sind mir wichtiger gewesen. Während die
kleinen Buchstaben meine innere Festplatte
nie erreichten, hat sich eine Überschrift eingebrannt.
Ich meine mich zu erinnern, was da
stand.
„Bill Gates: Angst ist der Schlüssel.“
# Fear should guide you, but it should be latent.
I have some latent fear. I consider failure
on a regular basis. (Bill Gates im Playboy
Interview 1994, gefunden im Original auf
englisch im „Internet Archive’s Wayback Machine“).
Jeder sei seines Glückes Schmied, heißt es.
Dafür muss man das Richtige tun, aber was?
Wer sich unwohl fühlt, das jedoch nicht konkret
spürt, an etwas festmachen kann, bleibt
auf die Gunst des Schicksals angewiesen.
Eine nur dir bewusste Angst sollte dich leiten,
nicht ein ungebändigtes, nach außen zur
Schau gestelltes Drängen. Er rechne stets
mit dem Misserfolg, meint Gates. Ausblenden
und Verdrängung sind keine Lösung. Den
Weg zum Guten können wir nur einschlagen,
wenn wir wissen, wie es uns geht. Wäre das
selbstverständlich, fügte sich niemand den
Schaden zu, in die gegenteilige Richtung zu
laufen.
Wir erinnern uns, handeln in der Gegenwart,
und unser Leben kann als ein Baum dargestellt
werden, der in vielen Ästen vorankommt.
Welchem Zweig wir gerade neuen Saft verleihen,
hängt davon ab, was uns in den
Sinn kommt, woran wir zurückdenken
und wie es zur realen Gegenwart
passt. Eine bessere Zukunft
können wir nur erreichen, wenn uns
klar ist, wer wir sind und wo wir herkommen.
Entwurzelte Bäume haben
es schwer, wieder irgendwo Fuß zu
fassen, und sich erinnern können
bedeutet gelegentlich Mut. Furcht
als leitender Antrieb und dem gegenüber
Mut und Erfolg, schließlich
ausruhen können, dazwischen die
ganze Bandbreite der Emotionen.
Gäbe es nur zwei Gefühle, schlecht bzw. gut,
könnten wir uns leicht auf einer Skala platzieren,
bezogen auf die Nähe zum jeweiligen
Pol. Die Navigationsleiste für eine praktische
Umsetzung, Krisen zu überwinden. Sie könnte
offene Türen sichtbarer machen, die Fähigkeit
ausbilden, selbst welche zu öffnen. Was wie
die pauschale Vereinfachung eines komplexen
Inhaltes scheint, meint das Gegenteil, die
individuelle Basis für ein Problem, genaue
Fokussierung auf einer eindeutigen Linie.
Statt mit mehr Bällen zu jonglieren als möglich,
die persönliche Bestleistung zu steigern,
indem die eigene Sicht auf Schwierigkeiten
der Maßstab ist. Herauszufinden, was man
wirklich will und was dran hindert, macht es
möglich zu malen, singen und jede Menge
nutzlosen Kram zu tun.
# Angst kann als die Basis unseres Tuns begriffen
werden
Keine Szene, deren Helldunkel nicht maßgeblich
für die Komposition ist bei aller
Farbe. Das Salz in der Suppe, die Grammatik
der Sprache, die Perspektive einer Zeichnung,
wir benötigen einen roten Faden, um eine
komplexe Thematik mit wenigen Elementen
zu strukturieren. Wie viel Angst ein Mensch
momentan hat, das ist ein guter Gradmesser
seines Wohlbefindens.
Manche Dinge bleiben im Gedächtnis, scheinen
Jahre später ein bedeutsames Puzzleteil
für eine grundsätzliche Frage zu sein. Bill Gates
gibt ein Interview im Playboy, das noch
heute für profilierte Artikel herangezogen
wird. Es zeige den Visionär, der schon in den
Neunzigern das Streaming und die sozialen
Netze vorausgesehen hat, finden Kenner. Ich
aber merke mir diesen banalen Satz, ohne
überhaupt ein Wort vom Text gelesen zu haben?
Bis heute mache ich einen Bogen um
alles Soziale, pflege wenige alte Freundschaften
analog. Meine Erinnerung gilt nicht
dem lange Zeit reichsten Mann der Welt. Ein
elementarer Satz, immer wieder kolportiert,
sonst wem zugeschrieben und neu in den
Mund gelegt, der den Menschen seit aller
Zeit leitet, blieb hängen. Hätte ich gleich verstanden
worum es geht und als Binsenweisheit
abgehakt, wüsste ich heute nichts mehr
vom alten Magazin.
Die Frage ist nicht, dass Angst uns leitet, der
Schlüssel zum Leben zu sein scheint. Die
Frage ist, was Angst mit uns macht. Das ist
eine persönliche, individuelle Fragestellung.
Dafür müssten wir nicht schreiben können
wie die anderen Tiere, würden trotzdem forschen,
wenn uns das Leben lieb ist. Zu reden
und schreiben, etwas zu lesen, was jemand
schrieb, ist umwegig und kann zu der Verwechslung
von Kommunikation mit eigenem
Denken führen, wenn wir nur plappern. Ein
gelesenes Wort muss in unser Denken einhaken.
Es darf nicht mitgetragen werden, wie
die Ballaststoffe in der Nahrung dem Darm
helfen. Wir müssen den fremden Gedanken
selbst verdauen, damit eine Idee zu unserer
eigenen werden kann. Natürlich erkennt der
Mensch, dass ihm manches besser schmeckt
als anderes und so bleiben einige intellektuelle
Brocken auf dem Silbertablett liegen.
Dass hier eine Delikatesse serviert wird, erkennen
wir durchaus, weil die anderen so ein
Geschieß drum machen.
# Angst kann blind davor machen, sie bei sich
zu bemerken
Eine zweideutige Sache wurde abgespeichert,
weil uns nur eine Seite der Medaille klar war.
Obschon nicht offensichtlich, muss etwas dahinter
stehen. Als junger Mensch ahnten wir,
Wichtiges weglegen zu müssen, das verborgene
Problem erst später lösen zu können.
Die individuelle Frage was genau hemmt,
verbirgt sich oft, wie etwas, das am Rücken
klebt. Wäre es nicht so, kämen wir umweglos
voran. Das Leben besteht aus dem Bemerken
der Probleme und ihrer Lösung. Weiß man,
ob’s einem gut geht? Man muss sich nur an
einer belebten Kreuzung mit vorbei eilenden
Fahrzeugen, Radfahrern und Fußgängern gestresste
Menschen ansehen, um zu begreifen,
dass diese Frage nicht so unsinnig ist wie’s
scheint.
Eine Geschichte fällt mir ein, noch eine. Nachdem
ich achtzehn Jahre alt wurde, kam gleich
der Staat, mich für den Wehrdienst zu mustern.
Für fünfzehn Monate war ich in Seeth.
Ich begann wie alle als Schütze, wurde befördert:
Gefreiter, Obergefreiter und regulär entlassen.
Nur ein dicker Sack mit persönlicher
Ausrüstung stand einige auf den Wehrdienst
folgende Jahre bereit im Keller und erinnerte
an die fortbestehende Pflicht. Mit einem geheimen
Kennwort gerufen sollten wir ggf. antreten.
Das passierte tatsächlich. Einige Male
verlangte man mich als Reservist. Es war üblich,
für eine Zeit wieder Soldat „zu spielen“,
schließlich mussten andere ran.
Meine jungen Jahre: In emotionaler Hinsicht
bin ich vollkommen unreif gewesen. Der
fachliche Ausdruck „leptosomer Spätentwickler“
trifft zu. Ich war nicht nur dünn und
unsportlich, in mancherlei einfach doof. Nicht
wenige junge Menschen sind so, und einige
kultivieren ihre Beschränktheit bis ins Alter.
„So bin ich eben“, meinen sie.
Am Wochenende fuhren wir Soldaten typischerweise
mit der Bahn nach Hause. Über
Glückstadt führte die Bahnlinie. Wir füllten
die Silberlinge und stiegen in Hamburg in
die S-Bahn um. Viele von uns sind aus dem
Ruhrpott gekommen, hatten es weit. Einmal
nahm R. (aus Pinneberg, glaube ich) welche
von uns im eigenen Wagen mit. Zu viert und
anfangs sogar fünft zusammengequetscht im
Fahrzeug fuhren wir gern zusammen in Richtung
Heimat. Ich erinnere mich: Der Kamerad
Mrz 8, 2021 - „Mama, mir ist langweilig.“ 29 [Seite 29 bis 30 ]