Blogtexte2021_1_12
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Europa, eine wahre Geschichte
Feb 18, 2021
„Europa ist von den Socken“, nun bin ich mit
dem Bild soweit, dass alles im Wesentlichen
festgelegt ist. Nach Monaten ist der Punkt
gekommen, zu verbessern, was bereits gut
dasteht. Ich bereite mich vor, probiere möglichst
geplant zu beginnen, mit dem Malen
erst anzufangen, wenn die kompositorischen
und inhaltlichen Fragen geklärt sind. Dann
passiert trotzdem jedes Mal das: Probleme
tauchen auf. Die lange, wahre Geschichte des
Bildes, hier kommt sie.
# Eine Chronologie, was alles misslang
Zunächst startete ich mit dem Mädchen auf
einer Kuh reitend. Das Erste war, daraus einen
Stier zu machen. Das ergab sich allein aus
dem Gedanken, die pornografischen Inhalte
noch aufzupeppen. Und erst als ich bereits
mit dem Malen angefangen hatte, begriff ich
das darin verborgene Thema.
Ich war unterwegs im Einkaufszentrum.
Es ergibt sich, ich komme mit einer attraktiven
Studentin ins Gespräch, kann es nicht
lassen von meiner Webseite zu erzählen,
und die junge Frau zieht schwupps ein Tablet
hervor, gibt meinen Namen ein. Das Bild
wird bereits im Blog erwähnt, so etwa im Mai
vergangenen Jahres. Wir reden und reden im
Geschäft (ohne Maske, glaube ich mich zu
erinnern, es ist gerade besser geworden mit
Covid), wo sie einen Nebenjob hat. Sie überfliegt
die Texte im Blog, und ich erzähle von
„Gurken und Rosen“, und warum ich das nicht
auf der Seite zeigen kann, jedenfalls nicht in
großer Auflösung. Ich sage, dass ich Bo Bartlett
bewundere und nun Themen aus meiner
selbst erlebten Erfahrung umsetzen möchte,
aber ohne den Stress, der einem widerfährt,
wenn die Menschen identifizierbar sind. Sie
erzählt, dass sie in Kiel einen Hund haben
kann, bei ihren Eltern in Hamburg wohnend
nicht, und dass sie möglicherweise dabei ist,
den Studiengang zu wechseln. Was könnte
besser zu ihr passen? Sie überlegt, und ich
denke, da ist es wieder mein Bild: Die junge
Erwachsene auf dem Weg ins Glück.
# Wo ist die Weide mit dem grüneren Gras?
Ich möchte realistisch malen, aber nicht reale
Situationen, und es soll mit dem Erwachsenwerden
zu tun haben und mit jungen Menschen.
Mein Leben, ich kann zurückschauen,
wenn ich der Gegenwart zuhöre. Ich denke an
den alten Hans-Jürgen, einen Freund. „Wenn
du früher die Jugendlichen
gefragt hast, sie wollten Lokomotivführer
werden, Kapitän
und Krankenschwester. Heute
sagt die Enkeltochter ,ich will
studieren’ und schaut dich
groß an“, meint er.
Er lässt das so im Raum stehen.
# Im Laden
Es ist viel Zeit vergangen, seitdem
wir im Geschäft geredet
haben, die Verkäuferin, Studentin
und ich – der Künstler, so
hat sie mich genannt. Ich gab
zu, Porno zu lieben, aber nicht
diesen Markt bedienen zu wollen, sondern
„Bilder“ zu machen. Zu dem Reitermädchen
meinte sie, das wäre ja wie bei „der Europa“,
und da habe ich so getan, als wüsste ich: „Ja“,
sagte ich nur. Ich hatte keine Ahnung, habe
zuhause gegoogelt. Tizian hat es gemalt, und
andere. Der Göttervater Zeus verwandelt sich
in einen freundlichen und wenig gehörnten,
attraktiven Stier, der auch nicht allzu gewaltig
groß ist. Er raubt die am Strand spielende
Göttin Europa, schwimmt mit ihr nach Kreta
und verwandelt sich zurück. Eigentlich hat
der Alte bereits eine Gattin, die soll es nicht
mitbekommen, deswegen die Entführung
in Tiergestalt. Aus der Liebelei entspringen
noch Kinder, das ist eine alte Sage.
Unser Kontinent hat seinen Namen davon.
Also überlegte ich, entschied mich, die Socken
auf „europäisch“ umzutrimmen. Mein
Bild trug den Arbeitstitel „Das grünere Gras“,
und nun konnte es auch „Europa ist von
den Socken“ heißen. Grünes Gras heißt jetzt
auch grüne Politik; wollte ich das sagen? Ein
chaotisches Parlament, der Brexit; mit einigen
wenigen Pinselstrichen kommen neue
Inhalte dazu, warum nicht? Big Brother, Sex
in Bondage, wer sieht was im Bild, interpretiert
hinein? Da waren sie wieder, die mehr
als tausend Worte im Gemälde. Es überrascht
zunächst den Künstler selbst, was gerade an
der Angel unserer Fantasie zappelt. Nur wer
seine Zukunft plant, habe eine, plakatiert die
Bank und empfiehlt eine Geldanlage. Wer
wisse wie viel er dem Zufall überlassen dürfe
habe das Glück auf seiner Seite, findet Lady
Barbara Wellington im Roman „Hornblower“,
und schon Edward Hopper beklagt, dass sich
die malerische Idee während der Arbeit noch
wandelt. Das müsse man hinnehmen, sagt
der Meister.
# Oder als Chance begreifen …
Mir war es darum gegangen, die Fantasie und
Erwartung junger Frauen „nichts zu verpassen,
jedem Ideal des perfekten Lebensentwurfs,
aber auch alles zu erleben und richtig
zu machen“ in ein Bild zu packen. Ein Studium
im Ausland, eine Lehre zuhause reicht schon
mal nicht. Ein toller Mann, aber nicht gleich
der Erste, der kommt usw. – die moderne plakative
Sexualität, über die man aber nicht
spricht, das sollte auch hinein. Zu meiner
Zeit waren Live-Cam-Porno und Internetsex
undenkbar, im Playboy alle Frauen untenrum
haarig und zudem im Intimsten retuschiert.
Noch mehr Haare drauf.
# Eine alte Geschichte, modern interpretiert
Ich wollte die Orvellsche Komponente im
Bild haben und fand die Drohne auch aus
kompositorischer Sicht prima. Eine böse
Spinne und schwarz. Das ganze Konstrukt
der formalen Beziehungen konnte an diesem
Punkt getrimmt werden, wie ein Segel durch
die dem Wetter entsprechende Spannung auf
dem Fall und den Streckern: Cunningham,
Unterliek, flexibel nachjustiert mit Traveller
und Großschot. Die formale und inhaltliche
Spannung einer Komposition entscheidet darüber,
wie interessant ein Thema präsentiert
wird. Wo die Dinge auf einem Bild ihren Platz
haben, wie intensiv ihre Farbe ist und welche
Richtung sie dem Auge geben, nicht zuletzt
die inhaltliche Bedeutung und damit ihre
Gewichtung, ob sie einen Schwerpunkt der
erzählten Geschichte darstellen oder eine
spielerische Ergänzung, bestimmt über seine
Qualität. Schief konnte mein Schiffchen
runterstürzen und doch würde der Betrachter
immer zurück in die Komposition finden.
Alles hängt an diesem schwarzen Stern im
Himmel. Dass mit dem Wal konnte die unappetitliche
Seite des Themas „Sex mit Tieren“
noch toppen, hatte zu diesem Spritzer geführt
und würde verklemmte
Trutschen zornig machen, gut
so. Die Möwe hat ihren Platz
bekommen, weil die obere
Socke beim Probieren so ähnlich
ausgesehen hat wie ein
Seevogel. Da habe ich lange in
Photoshop gebastelt, bis diese
rein formale Idee „der ähnlichen
Kontur“ erzählt werden
konnte.
Ich möchte eine schöne „Europa“
malen, hoffe es gelingt.
Manche dürften sie für naiv
halten. Ich sehe das anders.
In diesem Rind steckt nicht
allein der alte Zeus, sondern
auch ich, John der Maler. Unterwegs in dieser
Lage, ist er der Erschrockene auf dem Floß
und derjenige, der bei aller Lust gerade einmal
mehr begreift was hier geschieht. Ihm
wird die Schuld zugewiesen, verantwortlich
mit ihr in diesem Kuhsturm zu schippern.
Und das weiß der alte Esel, pardon Stier (und
Lustmolch) natürlich am Besten von allen
selbst. Er hat keinen Motor installiert, keinen
Mast mit einem Segel aufgestellt. Um die
Vorräte kümmerte er sich wenig, wer von den
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