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Europa, eine wahre Geschichte

Feb 18, 2021

„Europa ist von den Socken“, nun bin ich mit

dem Bild soweit, dass alles im Wesentlichen

festgelegt ist. Nach Monaten ist der Punkt

gekommen, zu verbessern, was bereits gut

dasteht. Ich bereite mich vor, probiere möglichst

geplant zu beginnen, mit dem Malen

erst anzufangen, wenn die kompositorischen

und inhaltlichen Fragen geklärt sind. Dann

passiert trotzdem jedes Mal das: Probleme

tauchen auf. Die lange, wahre Geschichte des

Bildes, hier kommt sie.

# Eine Chronologie, was alles misslang

Zunächst startete ich mit dem Mädchen auf

einer Kuh reitend. Das Erste war, daraus einen

Stier zu machen. Das ergab sich allein aus

dem Gedanken, die pornografischen Inhalte

noch aufzupeppen. Und erst als ich bereits

mit dem Malen angefangen hatte, begriff ich

das darin verborgene Thema.

Ich war unterwegs im Einkaufszentrum.

Es ergibt sich, ich komme mit einer attraktiven

Studentin ins Gespräch, kann es nicht

lassen von meiner Webseite zu erzählen,

und die junge Frau zieht schwupps ein Tablet

hervor, gibt meinen Namen ein. Das Bild

wird bereits im Blog erwähnt, so etwa im Mai

vergangenen Jahres. Wir reden und reden im

Geschäft (ohne Maske, glaube ich mich zu

erinnern, es ist gerade besser geworden mit

Covid), wo sie einen Nebenjob hat. Sie überfliegt

die Texte im Blog, und ich erzähle von

„Gurken und Rosen“, und warum ich das nicht

auf der Seite zeigen kann, jedenfalls nicht in

großer Auflösung. Ich sage, dass ich Bo Bartlett

bewundere und nun Themen aus meiner

selbst erlebten Erfahrung umsetzen möchte,

aber ohne den Stress, der einem widerfährt,

wenn die Menschen identifizierbar sind. Sie

erzählt, dass sie in Kiel einen Hund haben

kann, bei ihren Eltern in Hamburg wohnend

nicht, und dass sie möglicherweise dabei ist,

den Studiengang zu wechseln. Was könnte

besser zu ihr passen? Sie überlegt, und ich

denke, da ist es wieder mein Bild: Die junge

Erwachsene auf dem Weg ins Glück.

# Wo ist die Weide mit dem grüneren Gras?

Ich möchte realistisch malen, aber nicht reale

Situationen, und es soll mit dem Erwachsenwerden

zu tun haben und mit jungen Menschen.

Mein Leben, ich kann zurückschauen,

wenn ich der Gegenwart zuhöre. Ich denke an

den alten Hans-Jürgen, einen Freund. „Wenn

du früher die Jugendlichen

gefragt hast, sie wollten Lokomotivführer

werden, Kapitän

und Krankenschwester. Heute

sagt die Enkeltochter ,ich will

studieren’ und schaut dich

groß an“, meint er.

Er lässt das so im Raum stehen.

# Im Laden

Es ist viel Zeit vergangen, seitdem

wir im Geschäft geredet

haben, die Verkäuferin, Studentin

und ich – der Künstler, so

hat sie mich genannt. Ich gab

zu, Porno zu lieben, aber nicht

diesen Markt bedienen zu wollen, sondern

„Bilder“ zu machen. Zu dem Reitermädchen

meinte sie, das wäre ja wie bei „der Europa“,

und da habe ich so getan, als wüsste ich: „Ja“,

sagte ich nur. Ich hatte keine Ahnung, habe

zuhause gegoogelt. Tizian hat es gemalt, und

andere. Der Göttervater Zeus verwandelt sich

in einen freundlichen und wenig gehörnten,

attraktiven Stier, der auch nicht allzu gewaltig

groß ist. Er raubt die am Strand spielende

Göttin Europa, schwimmt mit ihr nach Kreta

und verwandelt sich zurück. Eigentlich hat

der Alte bereits eine Gattin, die soll es nicht

mitbekommen, deswegen die Entführung

in Tiergestalt. Aus der Liebelei entspringen

noch Kinder, das ist eine alte Sage.

Unser Kontinent hat seinen Namen davon.

Also überlegte ich, entschied mich, die Socken

auf „europäisch“ umzutrimmen. Mein

Bild trug den Arbeitstitel „Das grünere Gras“,

und nun konnte es auch „Europa ist von

den Socken“ heißen. Grünes Gras heißt jetzt

auch grüne Politik; wollte ich das sagen? Ein

chaotisches Parlament, der Brexit; mit einigen

wenigen Pinselstrichen kommen neue

Inhalte dazu, warum nicht? Big Brother, Sex

in Bondage, wer sieht was im Bild, interpretiert

hinein? Da waren sie wieder, die mehr

als tausend Worte im Gemälde. Es überrascht

zunächst den Künstler selbst, was gerade an

der Angel unserer Fantasie zappelt. Nur wer

seine Zukunft plant, habe eine, plakatiert die

Bank und empfiehlt eine Geldanlage. Wer

wisse wie viel er dem Zufall überlassen dürfe

habe das Glück auf seiner Seite, findet Lady

Barbara Wellington im Roman „Hornblower“,

und schon Edward Hopper beklagt, dass sich

die malerische Idee während der Arbeit noch

wandelt. Das müsse man hinnehmen, sagt

der Meister.

# Oder als Chance begreifen …

Mir war es darum gegangen, die Fantasie und

Erwartung junger Frauen „nichts zu verpassen,

jedem Ideal des perfekten Lebensentwurfs,

aber auch alles zu erleben und richtig

zu machen“ in ein Bild zu packen. Ein Studium

im Ausland, eine Lehre zuhause reicht schon

mal nicht. Ein toller Mann, aber nicht gleich

der Erste, der kommt usw. – die moderne plakative

Sexualität, über die man aber nicht

spricht, das sollte auch hinein. Zu meiner

Zeit waren Live-Cam-Porno und Internetsex

undenkbar, im Playboy alle Frauen untenrum

haarig und zudem im Intimsten retuschiert.

Noch mehr Haare drauf.

# Eine alte Geschichte, modern interpretiert

Ich wollte die Orvellsche Komponente im

Bild haben und fand die Drohne auch aus

kompositorischer Sicht prima. Eine böse

Spinne und schwarz. Das ganze Konstrukt

der formalen Beziehungen konnte an diesem

Punkt getrimmt werden, wie ein Segel durch

die dem Wetter entsprechende Spannung auf

dem Fall und den Streckern: Cunningham,

Unterliek, flexibel nachjustiert mit Traveller

und Großschot. Die formale und inhaltliche

Spannung einer Komposition entscheidet darüber,

wie interessant ein Thema präsentiert

wird. Wo die Dinge auf einem Bild ihren Platz

haben, wie intensiv ihre Farbe ist und welche

Richtung sie dem Auge geben, nicht zuletzt

die inhaltliche Bedeutung und damit ihre

Gewichtung, ob sie einen Schwerpunkt der

erzählten Geschichte darstellen oder eine

spielerische Ergänzung, bestimmt über seine

Qualität. Schief konnte mein Schiffchen

runterstürzen und doch würde der Betrachter

immer zurück in die Komposition finden.

Alles hängt an diesem schwarzen Stern im

Himmel. Dass mit dem Wal konnte die unappetitliche

Seite des Themas „Sex mit Tieren“

noch toppen, hatte zu diesem Spritzer geführt

und würde verklemmte

Trutschen zornig machen, gut

so. Die Möwe hat ihren Platz

bekommen, weil die obere

Socke beim Probieren so ähnlich

ausgesehen hat wie ein

Seevogel. Da habe ich lange in

Photoshop gebastelt, bis diese

rein formale Idee „der ähnlichen

Kontur“ erzählt werden

konnte.

Ich möchte eine schöne „Europa“

malen, hoffe es gelingt.

Manche dürften sie für naiv

halten. Ich sehe das anders.

In diesem Rind steckt nicht

allein der alte Zeus, sondern

auch ich, John der Maler. Unterwegs in dieser

Lage, ist er der Erschrockene auf dem Floß

und derjenige, der bei aller Lust gerade einmal

mehr begreift was hier geschieht. Ihm

wird die Schuld zugewiesen, verantwortlich

mit ihr in diesem Kuhsturm zu schippern.

Und das weiß der alte Esel, pardon Stier (und

Lustmolch) natürlich am Besten von allen

selbst. Er hat keinen Motor installiert, keinen

Mast mit einem Segel aufgestellt. Um die

Vorräte kümmerte er sich wenig, wer von den

Feb 18, 2021 - Europa, eine wahre Geschichte 16 [Seite 16 bis 19 ]

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