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Blogtexte2021_1_12

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krank wird? Wir könnten Psyche und Physis

mit gutem Ergebnis in unseren Theorien

verbinden und lernen, über den Tellerrand zu

schauen. Ich habe mich auf die Suche nach

anderen gemacht und Christo gefunden, der

ebenfalls seinen linken Mundwinkel hochzieht.

Bei dem ist kurioserweise das Auge

auf dieser Seite offener. Es wird schwierig,

eine entsprechende These zu belegen, wenn

man naiv drauflos Gesichter googelt.

# Liebe im Spiegel

Unbedingt musste noch eine Zeichnung von

Christo mit Jeanne-Claude zusammen in diese

Geschichte hinein. Sie ist, was den Mund

betrifft, sein spiegelbildliches Gegenstück

gewesen. Schauten die beiden einander an,

werden sie jeweils ihre eigene Asymmetrie

erkannt haben – wie im Spiegel. Dieses Paar

nahm vermutlich vom jeweils anderen an,

das Gegenüber machte es wie sie selbst?

Wir anderen hingegen, die beide nebeneinander

betrachten, können schnell bemerken,

dass Christo seinen linken Mundwinkel

hochgezogen hielt und Jeanne-Claude ihren

rechten.

Claus Kleber, den bekannten Nachrichtensprecher,

werden einige asymmetrisch

erinnern, aber mit viel Charisma. Und Christo

als Neidhammel zu betrachten, würde

niemandem einfallen. Dass aber die Mimik,

und bei Kleber gut zu sehen, der ganze

Körper gewohnheitsmäßig verzogen durchs

Leben getragen werden, ist nicht selten. Als

ein Beispiel für den effektiven, symmetrisch

geformten Sportler mit bester Selbstausnutzung

der Muskulatur kommt mir Manuel

Neuer in den Sinn.

Es gibt da einen alten Witz.

Diese Zote aus dem vorigen Jahrhundert

wollte sicher mehr als unterhalten. Das

ist ganz nebenbei eine Geschichte, die so

wunderbar illustriert, wie sich jemand buchstäblich

anpasst, ja verbiegt bis zum geht

nicht mehr. Gut möglich, dass der antiquierte

Kalauer heute anstößig wirkt und sich welche

dran stören?

Man dürfte, passte man

sich Idioten an, nichts

mehr sagen, schreiben.

Ein Mann lässt sich einen

Anzug schneidern, kauft

also nicht von der Stange,

geht zum Spezialisten.

Der ist tatsächlich einer;

aber kein Könner mit der

Nadel: Dieser Schneider

verkauft sich gut. Der

neue Anzug, das zeigt

sich bei der Anprobe,

sitzt schlecht. Der

Kunde – sein Naturell

ist das des Zaghaften,

der sich überzeugen

lässt, obschon ihm dabei

unwohl ist – der Mann

beginnt, einiges am neuen

Kleidungsstück, vorsichtig wohlgemerkt,

zu monieren. Der Ärmel, hier links, sei doch

wohl kürzer? Da stimme offenbar etwas

(noch) nicht, meint der Enttäuschte.

„Sie müssten sich ein wenig beugen, ja

genau so, hier“, der Schneider fasst vorsichtig

den Ellenbogen des Irritierten, „den Arm

leicht winkeln und die Schulter hängen

lassen, dann sieht es gleich viel besser

aus“, beginnt er gekonnt, seine Fehler dem

Kunden anzunähen.

„Die Hose sackt mir von den Hüften“, klagt

der Betrogene nun. „Das kommt Ihnen nur

so vor“, schmeichelt der Nähfritze, um gleich

einen Rat zu geben, wie das Problem zu

beheben sei. Der

Mann müsse voll

einatmen, die Luft

anhalten! Da sei der

Bauch gewölbt und

die Hose halte Platz.

Gute und reichliche

Mahlzeiten täten

ihr übriges, und der

Meister empfiehlt

jetzt ein Restaurant.

Nicht unwahrscheinlich,

dass er

den Wirt kennt?

Der einfallsreiche

Schneidersmann,

weiter frech:

„Darf ich?“, öffnet

ungeniert die Gürtelschnalle, reißt das Ende

beherzt um gleich zwei Löcher fester. „So!“,

meint der Schlaue, jetzt halte die Hose doch.

Das gute Wirtshaus mit dem fetten Essen

wäre eben um die Ecke, lockt er (charmant

feixend) – und beschreibt den Weg.

Ein Hosenbein schiene ihm kürzer, dasselbe

Problem wie beim Arm, findet der Kunde,

hin- und hergerissen, die Weisungen anzunehmen

oder Korrekturen zu verlangen. „Und

dieselbe Lösung“, belehrt ihn der Schneider.

Er folgt seiner Logik, das verschnittene Ding

in jedem Fall „an den Mann zu bringen“, gibt

Tipps, der Käufer solle sich hier ein wenig

sacken lassen, dort das Becken drehen und

so fort. „Winkeln Sie ihr Bein am Knie, stupsen

Sie beim Gehen nur kurz die Fußspitze

auf den Boden, während Sie auf der anderen

Seite mehr mit der

Hacke auftreten. Das

kann man auch üben“,

gibt der Fadenfuchser

listig zum Besten

– und schiebt den

Kunden in Richtung

Ladenkasse …

„Heben Sie den linken

Fuß einfach immer

ein wenig an!“

Er hat Erfolg damit,

tatsächlich, der Mann

bezahlt und verlässt

das Geschäft!

An dieser Stelle wechselt der Witz die Erzählperspektive.

Zwei neue Personen werden

in die Geschichte eingeführt. Man wartet

zufällig gemeinsam an einer Fußgängerampel.

Raunt der eine dem anderen zu:

„Sieh mal, dieser Mann dort.“

„Der scheint behindert zu sein, der Arme.“

„Wie schief dieser Krüppel dasteht, oh weh.“

„Aber einen tollen

Schneider hat er!“

„Sein Anzug, unglaublich

(!)

– sitzt wie angegossen

…“

# Kein Frieden

Manche verbiegen sich,

andere bleiben sich

treu? Das Recht wird

von denen, die meinen,

es in ihren Händen zu

halten, verbogen, das

habe ich erlebt. Druck

auszuüben, kommt

nicht selten als böser Schlag zurück. Eine

federnde Metallstange, oder ein krummer

Prügel, gar ein Bumerang, der wiederkehrend

den Werfer am Hinterkopf trifft. Geschäfte

mit der Macht, Neid hat viele Gesichter,

Eifersucht ist eines davon. Der schwarze

Peter geht von einem zum nächsten. Es fühlt

sich besser an, selbst zu bestimmen, als

abgestempelt in die Ecke zu müssen.

Wir Menschen möchten uns frei bewegen.

Ich bin überzeugt, dass es nur schwer

möglich wäre, auszuloten, was genau das

individuelle Muster anderer ist. Aber jeder

kann lernen, Spannungen wahrzunehmen,

wenn ihm gelehrt würde (am Besten bereits

in der Schule), wie das geht. Wer den Mundwinkel

hochzieht, gewinnt erst Sympathien,

wenn so viel menschliche Reife erreicht

wurde, dass daraus eine individuelle Nuance

geworden ist. Als Jugendlicher die anderen

zu beneiden, kann später eine unbemerkte

Altlast im eigenen Verhalten sein. Bei sich

selbst anzufangen, kann heißen, andere

entschieden zurück weisen zu müssen – und

Träume aufzugeben. Aus Erfahrung weiß ich,

wie viel man sich verbaut, bis es schließlich

gelingt, einen gordischen Knoten zu

zerschlagen.

:)

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg

156 [Seite 149 bis 156 ]

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