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Blogtexte2021_1_12

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verankerten uns in Landnähe zur dunkel

bewaldeten Insel, unweit eines anderen

Bötchens mit Jugendlichen. Mein Vater

bereute bald, derartig nahe zu den Jungs, die

ebenfalls angelten, seinen Fischereiplatz gewählt

zu haben. Aber man fing hier gut, wie

sich schnell zeigte. Wir pilkten glaube ich,

kann mich aber irren. Es waren andere Köder

vorrätig. Einige Male gingen wir nachts auf

die Suche nach Taumetten.

Es hätte schönes Angeln sein können an

diesem warmen Sommertag im Belt. Die

neben uns quatschten die ganze Zeit, dass

es nervte: „Angeln Sie gerne?“, wurden wir

wiederholt angepreit. Dabei zog der naseweise

Typ das Wort ge-äeerne in die Länge,

als käme er aus Barmbek oder Wilhelmsburg,

jedenfalls wo die Leute das Hamburgische

breit und einfach

sprechen.

Wir blieben mehr als

eine Nacht und Tag hier

vor Anker. Nachdem wir

die Angelei beendeten,

kam es noch dazu,

dass wir uns mit dem

Nebenlieger (von dem

diese Kinder gekommen

waren) zu Landgängen

verabredeten. In Middelfart

ist ein Supermarkt.

Einige wussten

den Weg durch den Wald

über die Landzunge.

Jugendliche in meinem

Alter zu treffen, kam

selten vor, oft trafen wir

ja auf dänische Besatzungen. Dieser penetrante

Frager aus dem anderen Schlauchboot

erwies sich bald als einfallsreicher

Spielkamerad. Wir verbrachten einige Tage

zusammen. Die Eltern vertrugen sich mit

meinen. Es kam dazu, sich über manches

auszutauschen, bis jedes Schiff eigene Wege

segelte. Diese Leute habe ich nie wieder

gesehen und keine detaillierte Erinnerung

daran. Aber einen Satz, eine Frage, der ich

mich zu stellen hatte, erinnere ich genau.

Das war dieser Junge, der mir ein wenig

frech und mutiger in Erinnerung ist. Ich

musste an „Joschi bummelt durch die Stadt“

denken, das wir im Deutschunterricht lasen;

und ich war nicht „Joschi“ bei dieser hier

nur gedachten Rollenbesetzung, sondern

das angepasste Kind, das den anderen nicht

begreift und ein wenig fürchtet.

„Warum ziehst du deinen Mund immer so

schief, wenn du mich ansiehst, du lachst so

komisch mit nur einer Seite?“, das hat der

mich gefragt.

Mir war es peinlich, unverständlich; ich

konnte es ihm nicht erklären, ja ich glaube,

ich begriff zum ersten Mal, dass ich hier von

der Normalität offensichtlich abwich und

zur schnellen Änderung jedenfalls unfähig

war. Der war dann trotzdem nett und

klug sowieso. Wir erdachten feine Sachen,

fanden einiges zu erkunden, dem Alter

damals gemäß, wenn man mit den Eltern

segelte und so zwischen zwölf und sechzehn

Jahren alt gewesen ist. Es gab kein Internet;

dass unsere Kindheit sich vergleichsweise

behütet in die Länge gezogen hat, war so

ungewöhnlich nicht.

# Linksgesichtig?

Ich zeichnete fleißig und ließ mich gern

dafür loben. Dass sich parallel eine Entwicklungsstörung

anbahnte,

wurde allgemein übersehen.

Als ich noch Jugendlicher war,

las ich in einer Zeitschrift über

„linksgesichtige“ Künstler.

Jemand hatte eine Arbeit

verfasst, die untersuchte, dass

einige Menschen bevorzugt

mit einer Gesichtshälfte aktiver

sind, diese Seite „interessanter“

strukturiert sei und wollte

belegen, bei gerade musischen,

künstlerischen Menschen wäre

es deren linke.

Als ich vor kurzem Ai Weiwei im Interview

sah, musste ich

wieder daran denken.

Der Chinese

zieht seine Augen

zu schmalsten

Schlitzen zusammen.

Trotzdem

schien es mir, als

kniffe er sein linkes

Auge noch mehr

zu als die andere

Seite, besonders,

weil das Licht

denken ließ, er

krampfe auch seine

linke Wange dem

Auge nach oben

entgegen, kürze

also gewohnheitsmäßig

die linke Gesichtshälfte.

Das ist genau wie ich’s mache

und schmerzhaft bewusst. Der hat das auch,

überlegte ich.

Nicht schwer, den berühmten Kollegen zu

googeln. Sein Gesicht erscheint ganz glatt

und doch sehr gleichmäßig. Man muss einige

Aufnahmen ansehen, um zu verstehen,

dass ich mich nicht täuschte. Ich machte

eine kleine Zeichnung mit Kugelschreiber

und finde die gut gelungen. Dabei habe ich

auf seine Mundwinkel geachtet und überlegt,

was mir an dem Mann unsympathisch

ist. Ich empfinde so eine unbeschreibliche

Mischung aus Überheblichkeit, fast weibischer

Schnippigkeit und gekränkter Eitelkeit

in den dünnen Spitzen der Linie, ganz außen

zwischen den Lippen. Das mag davon herrühren,

wie viel Unbill dieser Mann erfahren

hat.

Nun ging ich dran, interessehalber die alte

Studie meiner Jugendzeit in irgendeiner

Form zu finden, gab den Begriff „linksgesichtig“

ein; es

erschien beinahe

gar nichts. Ich

fand ein Dokument

für den

Unterricht an

einer Uni herausgegeben.

Dort

geht es um die

Übersetzung einer

geschichtlichen

Sprache.

Ich zitiere daraus.

#

Das K’iche’ kennt

zusammengesetzte

Verben, die

allerdings nur mit

wenigen Verbstämmen

belegt und

oft nicht eindeutig

analysierbar sind.

Hierzu gehören

insbesondere Ableitungen

von dem

bedeutungsmäßig

schwer fassbaren,

von wach »Gesicht« abgeleiteten Verbstamm

wachi-j »etwas oder jemanden ein Gesicht

geben«, das u. a. »Frucht oder Blüten tragen

(von Pflanzen)« bedeuten kann. Ein vorangestelltes

Nomen oder Adjektiv bestimmt

das Verb adverbial, d. h. es gibt die Art und

Weise der Handlung an: moywachi-j »blind

machen, d. h. betrügen« oder winaqwachi-j

»etwas menschengestaltig machen«. Einige

Zusammensetzungen sind idiomatisch:

q’aq’wachi-j »eifersüchtig (wörtl. feuergesichtig)

machen« oder moxwachi-j »neidisch

(wörtl. linksgesichtig) machen«

Der Publizist ist Michael Dürr, mir unbekannt

wie sein Aufsatz.

Das Interessante ist, dass jemanden „neidisch

zu machen“ hier gleichgesetzt ist mit

dem ungewöhnlichen Begriff. Etwas Rechtes

zu tun, ist eine bekannte Formulierung und

was eine linke Type ist, bedeutet gemeinhin

nichts Gutes, warum? Ein bisschen zu spinnen,

kann nützlich sein. Einmal angenommen,

es kommt nicht von ungefähr, dass so

viele Rechtshänder sind oder wir das Herz

mehrheitlich links haben? Einiges ist unabänderlich

wie die Kindsgeburt durch die

Frau. So dürften sich in mancher Formulierung

Wahrheiten verbergen, die gern einmal

neu betrachtet werden sollten.

Hier ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen

in der Welt. Neidisch zu sein, kann

Antrieb werden, Ziele anzustreben und adelt

schließlich das Negative an diesem Gefühl.

Manche hätten mit dem Tennisschläger der

Eltern Banjo oder Gitarre nachgeahmt als

Kind, meinte Addi Münster – ein in unserer

Stadt sich dem traditionellen Jazz verdient

gemachter Posaunist – einmal, bevor sie ein

echtes Instrument bekamen.

Sich etwas abzuschauen, das machen

welche, die später Künstler sind. Nun reden

wir da nicht von Neid. Vielleicht sollten wir

es so sehen? Das ist

ja nur ein Wort. Eine

nagende Sehnsucht, das

wäre so eine leidende

Sache, ein Schmachten

mit neidvollen Zügen?

Wenn wir das Gefühl

anschaulicher machten,

dürften sich einige in

ihrer Migräne wiederfinden

(die sie nach

einer übertriebenen

Bestleistung plagt). Das

heißt wohl nicht, dass

jemand, der sich links

(oder möglicherweise

rechts) zusammenzieht,

nun zwingend psychisch

Dez 22, 2021 - Kein Fisch an Heiligabend 155 [Seite 149 bis 156 ]

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