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Blogtexte2021_1_12

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wo das Brustbein den harten Bereich der

Rippen beendet. Darunter wölbte sich das

Bäuchlein vor, meine Haltung war schlecht

schon mit zehn. Ich stand verbogen wie ein

Fragezeichen. Und dann bekam ich Schmerzen,

wohl vierzehn

Jahre alt? Es tat auf

der rechten Seite

weh, am Rücken und

vorn gleichzeitig;

Verspannungen,

meinten die Eltern.

Beim Termin

erinnere ich meinen

Orthopäden

fröhlich: „Wie eine

Schublade, die

klemmt“, erklärte

der Doktor. Heute

würde ich sagen,

das Zwerchfell kam

an den Rippen nicht

vorbei. Aber was

das ist, und dass es

beim Atmen von Bedeutung

ist, wusste

ich als Jugendlicher nicht. Verspannungen

oder einen Hexenschuss betrachtete man

mechanisch. Später war von Stress die Rede.

Was ist Stress? Davon, dass es ein Wort gibt,

versteht man nichts. Damals war die Chiropraktik

das Neueste, D. konnte es. Er hatte

eine Ausbildung gemacht und bewarb seine

Griffe, sprach von Sportmedizin und musste

täglich dicke Seniorinnen betreuen. Sie füllten

reichlich das Wartezimmer. Chiropraktik,

jede Anwendung wurde einzeln notiert, 1

x Doppelnelson für dreiundzwanzigfuffzig,

2 x effektives Handschütteln im Gelenk für

je fünfzehn Mark (rabattiert) zusammen

achtundzwanzig? Die Helferin notierte auf

Zuruf jeden Griff in die Kladde, wenn der

Doktor ansetzte.

D. war nicht groß, ein wenig korpulent und

kräftig. Ich musste mich vor ihm hinstellen,

schaute aus dem Fenster. Der Arzt trat

von hinten an mich heran und rief den

Fachbegriff, was er nun renken würde, der

Sprechstundenhilfe zu. Er griff unter meinen

Achseln durch, und tatsächlich, wie beim

Ringen umschlossen seine kraftvollen

Arme meinen Oberkörper vorn. Fest in der

Zange vor dem dicken Bauch des Doktors

stand ich wie ein schwacher Hering. Dann

„Zack!“, wippte der schneeweiß gekleidete

aus der Hüfte, sich ins Hohlkreuz werfend,

und ich Knabenwurm flog kurz hoch, dass

meine Füße in die Luft kamen und es in mir

knackte. Ich wurde wieder abgestellt wie ein

Pappsoldat, wog kaum mehr als nichts, glaube

ich. Ein leichter „Wippnelson“ oder wie

auch immer die kleine Übung heißen mag,

für den Onkel Doktor. Wir scherzten immer,

ein freundlicher Mann.

Geheilt entlassen?

Es wurde wirklich besser für den Moment.

Langfristig hat sich eine hartnäckige

Biegung meiner Wirbelsäule etabliert, die

niemand als behandlungswürdig erkannte.

Geschweige denn einen Zusammenhang mit

Arztbesuchen beim Neurologen zu sehen.

Ich war früher (nach dem Studium) jahrelang

in Therapie. Heute gehe ich nie zum

Arzt! Angewidert: Mein Vertrauen ist durch

einiges, das hier nicht nötig ist aufzuschreiben,

grundsätzlich zerstört, nicht nur in die

Medizin. Ich gehe Menschen aus dem Weg.

Nicht, dass ich nicht Spaß am Schnacken

habe. Ich gehe keine inneren Bande ein.

Ich empfinde kaum Empathie, das hat sich

entwickelt, schafft Abgrenzung. „Lass die

Leute reden“, wie es im Lied

heißt, ist meine Devise,

„und hör’ ihnen nicht zu.“

Für die Liebe bin ich nicht

bereit. Wer diese nicht

spürt, kann keine geben;

schade. Ich fand mit den

Jahren heraus, dass orthopädische

Beschwerden mitnichten

nur mechanische

sind. Stress ist für mich

kein Wort. Ich benötige

keine Pillen, um gut zu

schlafen. Eine Notfalldose

Tavorreste und Packungen

mit abgelaufenen Risperdal

verstauben im Atelier

zwischen Pinseln und dem

Foto von Alex neben mir.

Ich reagiere mich ab, wenn

ich übervorteilt werde,

erhole mich anschließend. Ich kenne meine

Deformation. Ein individuelles Muster, das

ich, bestens erforscht, weiter prüfe. Da muss

kein Nelson mich richten, ich entspanne

mich tatsächlich. Mit dem, was ich lernte,

kann ich Widerstand merken, wo ich früher

nicht einmal ahnte, Muskeln zu haben.

# Eine Liste

Ich ziehe links meinen Mundwinkel zum

Auge hoch. Ich hebe die Schulter dort, jeden

Tag, immer. Ich schiebe sie vor. Dadurch,

dass ich links höher bin, ist – zwingend

– rechts alles tiefer im Oberkörper. Sei es

dahingestellt, ob es mir wichtig ist, links

oben zu grinsen oder rechts unten die Brust

einzuschnüren. Insgesamt ist der Bereich

verdreht, verklemmt und lateral krumm. Das

Bewegen des Zwerchfells, ein Kolben im

verbeulten Zylinder bei mir, geschieht auf

behinderte Weise trotzdem. Mutmaßlich

hat dieses Muster einmal (anfangs meines

Daseins) Hilfestellung leisten können, Angst

nicht wahrzunehmen?

Ich denke, ja.

Es wird empfohlen, die Zähne zusammenzubeißen,

bei Problemen und zu lächeln,

wenn’s auch schwerfällt. „Halt die Luft an!“,

sagt man und: „Reiß’ dich zusammen!“, –

sich anzustrengen, bringt Lob ein. Dumme

Erwachsene kommen klar im Leben, zwingen

Schwächeren ihren Rat auf. Blöde bemerken

nicht, dass ihr eigenes Leben armselig und

emotional verkümmert verläuft. Besonders,

wenn sie Stärke anstelle von Bewusstheit

setzen, bewundern manche ihre Willenskraft.

Geschickte Menschen amüsieren sich über

unnötigen Kraftaufwand anderer, bei jeder

Sache, die ihnen selbst leicht gelingt.

Fakt ist, dass mein Brustkorb immer rechts

ein wenig eingeklemmt ist, und das bedingt

eine widerständige Atmung, Magenbeschwerden,

weil das Sternum halbseitig

draufdrückt. Das erschwert, die Trompete zu

blasen (Malen kann jeder). Ich spiele täglich

Etüden und Tonleitern, Stücke, die mich

reizen, sie zu können, nicht mit der Absicht,

Musik mit anderen zu machen. Der Grund

ist, Verspannungen zu bemerken, für den

Moment Besserung zu erreichen.

Wenn ich irgendwo stehe, habe ich die

Angewohnheit, das rechte Bein durchzudrücken,

es zu belasten und die linke Seite als

„Spielbein“ locker im Kniegelenk zu knicken.

Die Verschiedenartigkeit meiner Hüften,

was deren Beweglichkeit betrifft und hier

nur äußerst schwierig beschreibbar wäre,

ermuntert meine Beine dazu, es immer so

herum zu tun. Natürlich kann ich mir das bewusst

machen und während ich auf den Bus

warte oder die freie Ampelschaltung, tue ich

es. Dann lockere ich mich soweit, dass die

andere Seite (links) mich trägt, stelle rechts

entspannt ab. Wieder macht es nicht so viel

Sinn, den Beinen die Schuld dafür zu geben,

dass sie meine Hüften einseitig zwingen

oder dem Becken, das verhindere, wie die

Beine eingehängt sind. Es ist eine systemische

Frage genereller Einstellung und mit

der Kausalität nach dem Ansatz „wer hat

schuld“ weniger gut lösbar, als Beziehungen

auszuprobieren. Abhängigkeiten zu akzeptieren,

in denen beide Seiten, etwa Bein wie

Hüfte und entsprechend Oberkörper, Hals,

Schultern, Arme und Kopf zusammenhängen,

ermöglicht integrative Antworten darauf

zu finden, wie der gesamte Mensch besser

harmoniert. Das ist (hier nur skizziert) die

Methode vom Physiker, Publizisten und Verhaltenstrainer

Moshe Feldenkrais („Body and

Mature Behavior“), die ich anwende, etwas

zu bemerken, das eigentlich allen Lebewesen

selbstverständlich bewusst sein könnte;

aber offensichtlich ist das nicht der Fall.

Sollte ich der Vollständigkeit halber sagen,

dass ich auf der rechten Seite meine Lippen

zusammenpresse und die Zunge drückt,

wenn ich gerade meine, nichts zu tun, von

unten gegen den Gaumen? Früher, als

das schlimmer war, mahlten links meine

Backenzähne ineinander, bis es schmerzte;

Migräne. Der Zahnarzt wiederum sah nur

den Zahn: „Da sei ein Schmerznerv gereizt“,

das käme vor. Klar, dass meine Hüften recht

unbeweglich sind und Plattfüße zwingend.

Das ist nun alles viel besser geworden, und

diese Dinge zu bemerken und täglich damit

arbeiten zu können, lernte ich größtenteils

aus Büchern allein.

# Wenn überhaupt Zukunft Sinn macht, dann

damit, das zu tun

Meiner Auffassung nach klemmt niemand

seine Rippen ein, weil er falsch hebt. Ich

glaube, dass ein individuelles Haltungsmuster

– wie oben beschrieben – eine Art

imaginäre Rüstung formt, eine Ganzkörpermaske,

um Emotionen unter Kontrolle zu

behalten. Übermäßige Kontrolle führt in der

Diktatur zur Revolution. Das Land kann nicht

mehr, sinngemäß der psychisch Kranke. Wir

wären fortschrittlich, Patienten zu helfen

und nicht nur für Ordnung zu sorgen, wenn

einer spinnt.

Ein langer Weg, den ich benötigte, zufrieden

zu sein. Zu lang, um noch etwas aus dem

Leben zu machen mit fast sechzig Jahren.

Ohne Vertrauen in andere, nicht mehr zur

Wahl gehend, keine Solidarität mit der

(durch Corona angegriffenen) Bevölkerung

empfindend, bin ich degeneriert. Ich verachte

den Staat, Polizei, Psychiatrie, Politik und

die Pürgermeisterin.

# P = Panik?

Dez 2, 2021 - Musterklage 142 [Seite 140 bis 143 ]

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