Blogtexte2021_1_12
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Musterklage
Dez 2, 2021
Vielleicht haben wir
Glück und wachsen
behütet auf? Bald
müssen wir uns der
Realität stellen: Die
Welt ist chaotisch
und feindselig. Je
nachdem, wo wir
groß werden, zu wem
wir uns entwickeln
und geworden sind,
entstehen Probleme,
die wir durch Ordnung
lösen möchten. Sich
angemessen zu organisieren,
ist wichtig. Ein Tischler findet seine
Existenz auf andere Weise als die Polizistin.
Der Handwerker muss gerade sein Fach verstehen
und benötigt entsprechende Kunden.
Im Management einer Firma gelten andere
Regeln als in der Kunst; selbst bei grundsätzlicher
Übereinstimmung aller Strukturen,
bedeutet Ordnung etwas Individuelles. Die
Übersicht behalten, Dinge zu kontrollieren,
von denen wir mehr oder weniger verstehen,
ist überlebenswichtig. Man muss nicht alles
begreifen, um komfortabel leben zu können.
Gut zu wissen, wo genau der Lichtschalter
ist, wenn Helligkeit helfen würde: Wie Strom
physikalisch zustande kommt, ist dabei
nicht von Bedeutung. Jedes Bedürfnis zu
befriedigen oder eine Pflicht tun müssen,
heißt kleine oder größere Schwierigkeiten
zu überwinden. Das erleben wir, wenn eine
Krankheit oder anderes die gewohnten
Tätigkeiten beeinträchtigt. Ohne Widerstand,
wenn ein Lebewesen sich für eine Aktivität
motiviert, ist nichts vorstellbar. Uns selbst
lernen erst wir nach und nach besser kennen.
Was ist der Mensch, wer sind wir selbst?
Ein Senior beschreibt anderen, wie es
ihm nach einer Operation geht. Der Mann
berichtet, dass er schon wieder Treppen
steigen kann. Da sind Verwandte und einige
Kinder mit ihm spazieren. Ich höre nebenbei:
„Kannst du krabbeln, Opa?“ Das
fragt ein Kind mehrmals, bis
der Alte schließlich antwortet,
eigentlich mit den Erwachsenen
redet, die Lage erörtert. Ist es
ihm peinlich oder unsinnig? Was
der Mann leise zum hartnäckigen
Jungen sagt, bekomme ich nicht
mit. Da bin ich bereits vorbei in
meinem Tempo. In Richtung Einkaufszentrum
unterwegs, habe
ich zu Fuß eine Familie überholt,
die an der Seite rechts (beim
Geländer) dazugestoßen ist.
Kriechen geht immer, denke ich;
mein Knie mit dem degenerierten
Meniskus schmerzt. „Wir
können punktieren“, hatte K.
angeboten – als er begriff, ich
würde mich nicht operieren lassen – „wenn
es dick wird.“ Es gibt gute und schlechte
Tage. Oft bemerke ich’s nicht. „Ein rothaariges
Mädchen, Bassiner. Sie reißen unbedacht
den Kopf rum, was weiß ich, um ihr nachzusehen.
Dann haben Sie’s wieder.“ Zeit ist vergangen.
Keine noch bedeutsame Rothaarige
kam vorbei, die mit – (der, von der irgendwie
alle wissen) konkurrieren könnte. Es tut weh,
geht wieder weg: Ein Auf und Ab. Mal habe
ich beim Doktor angerufen; Weiterleitung
in fremde Praxis, ein diffuses Tonband.
Ich probierte es gegenüber, wo das MRT
gemacht wurde. Die
Sprechstundenhilfe
musste überlegen: „K.
gibt’s nicht mehr.“ Tot?
Ich bekam es nicht
heraus. Das klang so
endgültig. Wahrscheinlich
Rentner, nun
doch. Mein Orthopäde
hat mit Montgomery
studiert, und der ist ja
auch alt.
In Wedel früher waren
wir (alle von unserer
Familie, wenn nötig)
bei D. gewesen, der
M. nachfolgte. Diese Praxis in der Nachbarschaft
hatte einen guten Ruf. Sie ist erst
vor kurzem geschlossen worden, weil der
aktuelle Orthopäde (nach dem ebenfalls
verrenteten D.) ins Ärztehaus am Bahnhof
abgewandert ist. Ich kann mich an die
Anfänge erinnern, bekam Einlagen und
musste zur Gymnastik. Das sollte meine
kindlichen Plattfüße korrigieren. Der alte M.
hörte bereits auf, als ich noch Jugendlicher
war. Ein Respekt heischender Doktor und
doch freundlich: „Da bist du wohl gerast? Du
bist sicher zu schnell gerast? Da kann das
Knie schon mal weh tun!“ Der hagere, große
Mann beugt sich zu mir runter, und ich sehe
es noch vor mir, höre diese schnarrende
Stimme – obwohl es beinahe fünfzig Jahre
her ist.
M. gab meinen Eltern Spritzen ins Knie oder
Schulter, wenn sie vor Schmerzen nicht
arbeiten konnten. Damit wurde es sofort
besser. Das war ein Problem zu Weihnachten,
Sylvester, wenn unentwegt geschlachtet
wurde. Lachs in feine Scheiben säbeln,
Karpfen schlachten, Forellen oder Schleie
aus dem Bassin fischen und totschlagen,
aufschlitzen und fachgerecht zerteilen; meine
Eltern mussten immer im Kalten stehen
und mit der Hand eine Schere führen, Fische
fertig zu machen im Verkauf. Sie standen
den ganzen
Tag, eilten
durch das
Geschäft ohne
Pause. Das
tat weh im
Arm, Knie, den
Füßen, und in
einer Schulter
knirschte es
vielleicht, als
wäre Sand
darin und
brannte bei jeder
Bewegung.
Diese Spritze
beim Orthopäden
tat
Wunder. Der
gute Doktor
war nur hundert Meter entfernt, immer bereit
zu helfen. Aber nach einiger Zeit gab es
auch damit Probleme. Später durfte M. diese
Supermedizin nicht mehr verwenden: Die
Spritzen, die so gut gewesen waren, hätten
nicht erlaubte Inhaltsstoffe, hieß es.
Abhängig vom Zentrum einer Art Rampe,
umgeben von individuellen Faktoren, dem
Platz, wo wir ins Leben starten, werden
wir mit Liebe versorgt, mit Anforderungen
konfrontiert. Das fängt schon damit an, wie
schnell Mama kommt, wenn’s kratzt oder
der Hunger nagt, und ob da Geschwister
sind, kann eine Rolle spielen. Der Kindheit
wird eine gewisse Spanne eingeräumt, dann
erwarten alle, dass wir uns selbst kümmern.
Wir sollten mit unserem Apparat Mensch
soweit klar kommen, diesen nun allein durch
die Umgebung navigieren. Und wenn wir
Schaden erleiden gibt es den Arzt. Gegen
das Böse hilft die Polizei. Damit alles toll
bleibt, wählen wir eine gute Politik usw. –
fleißig sollen wir sein, und manche gehen
noch Sonntags in die Kirche. So weit die
Theorie. Die Zivilisation hat andere Tücken,
als das Leben im Mittelalter oder Überleben
in der Wildnis. Ich bin nicht im Armenviertel
groß geworden; eigentlich konnte nichts
schiefgehen, 1964 in Wedel anzufangen.
Es kam anders – zunächst irritiert besonders
ein Erlebnis, wenn ich daran zurück denke.
Die Welt ist gut eingerahmt und stabil?
Kleinere Beschwerden hat jeder mal. Die
Blinddarm-OP wurde nötig, und das betreute
meine Hausärztin. Zu der ging meine Mutter
mit mir, seitdem ich ein kleines Kind war.
Bei HNO-Beschwerden wählten wir den
Facharzt an der Ecke, wo einmal Johs.
Schmidt sein Geschäft hatte. Die Zahnärztin
unserer Familie ist im Riesenkamp gewesen.
Wedel ist überschaubar. Mir wurde ganz gut
geholfen von diesem Orthopäden D. um die
Ecke – trotzdem, ein Beginn späterer Probleme
findet sich hier. Damals wurde das gar
nicht gesehen. Heute denke ich: Eine falsche
Weichenstellung lenkte meine Zukunft von
der Hauptstrecke ab.
Die moderne Welt ist spezialisiert und
fährt die größten Erfolge der Zivilisation
ein. Jedes Fach entwickelt seine Ökonomie.
Handwerkszeug macht Sinn in Form eines
Hammers, wenn ich nageln möchte. Der
Dez 2, 2021 - Musterklage 140 [Seite 140 bis 143 ]