Blogtexte2021_1_12
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Warum kann die Psychiatrie nicht begreifen,
dass ihre Krankheiten Erklärungsprinzipien
sind? Eine Diagnose mag angehen, wenn ich
Internist bin. „Sie haben Gürtelrose“, sagt der
Hausarzt etwa. Das will der Psychiater auch
können. Er möchte Anerkennung und so tun,
als wäre er ein richtiger Arzt. Er entdeckt:
„Der Patient hat eine X-Z1-Paranoia nach
Kategorie 4“, verschleiert das noch gemäß
dem Rat, niemand zu überlasten und drückt
sich entsprechend aus. Das Prinzip, die
Krankheit sei wie ein Ding an sich und
erforscht, behält er bei. Das ist vollkommen
falsch, aber es stört diese Fachrichtung
nicht, weil man es
eben so macht. Die
Behandlung kommt
um das Mittel der
Manipulation nicht
herum? Das wird
dem latent paranoiden
Patienten
nicht helfen und
kann durch perfide
Alltagsverarsche
noch getoppt werden.
Seitdem der
Aufmerksamkeit
heischende Begriff
des „Profilers“ Allgemeingut geworden ist,
können wir uns vorstellen, wie ein Netz um
den Auffälligen gespannt werden könnte
(und der kann es sich selbst auch ausmalen).
Psychiatrische Gutachten und das Entwickeln
eines Profils, wie ein Sonderling sich
entwickeln wird, entsprechen den Problemen
der Wettervorhersage. Eine Krankheit,
kaum mehr als einen Begriff dafür, der aufgrund
von Beobachtungen, Symptomen und
Diagnose dem Kranken zugeschrieben wird,
sollte dieser nicht „haben“. Ich kann, um das
Beispiel von oben aufzugreifen, eine Jacke
besitzen, ein Auto haben, aber eine Ehefrau
werde ich wohl kaum „haben“ (obwohl es
umgangssprachlich schon mal gesagt wird),
weil diese sich nicht in meinem Besitz
befindet, ein Eigenleben darstellt. Ein Grippe
zu haben, weil sie im Menschen bekannte
Veränderungen wie Fieber, Kopfschmerzen
und Schnupfen auslöst, macht Sinn. Einen
Minderwertigkeitskomplex kann ich nicht
haben, weil das dem einen dies bedeutet
und anderen jenes. Wenn der eine Schizophrene
gewalttätig wird, andere katatone
Verkrampfungen ausleben, ist die Ausgangslage
warum es geschieht kompliziert
genug. Mit dem jeweiligen Menschen selbst
zu beginnen, anstelle Krankheiten aus dem
Lehrbuch zu diagnostizieren, wäre besser.
Wenn ein Grippevirus den Menschen außer
Gefecht setzt, laufen ähnliche Prozesse bei
jedem Betroffenen ab und der Arzt kann
zielgenau therapieren. Das Verhalten der
Kranken wird als rational und mehr oder
weniger klug nur ausnahmsweise einbezogen.
Wer mit hohem Fieber noch arbeitet, ist
dumm aber nicht krank im Geiste. „Bleiben
Sie zu Hause im Bett!“, ist eine Anweisung,
der man folgen kann. „Bleiben Sie zu Hause,
bis die Psychose aufhört“, wäre ein kaum
umzusetzender Rat (wenn der Kranke von einem
zum nächsten Moment nicht weiß, was
er tut). Könnte sichergestellt werden, dass
die nötige Dosis passender Psychopharmaka
eingenommen wird, ist die Möglichkeit, eine
Krise in der Wohnung allein abzuwettern,
theoretisch gegeben. Die Medikation ist
nur bedingt zuverlässig, wenn der Patient
unzuverlässig reagiert. Das kann auf seine
Konstitution und sein Krankheitsbild bezogen
eine Unsicherheit bedeuten, die unsere
Gesellschaft allgemein und seine Angehörigen
im Besonderen an die Belastungsgrenze
bringen. Deswegen wird das Umfeld dazu
neigen, Druck auszuüben. Verantwortliche
stellen Sicherheit über das Bestreben, den
Kranken risikoreiche Wege gehen zu lassen,
mit dem Ziel, auf zukünftige Behandlungen
zu verzichten. Zu oft enttäuscht, bestätigen
weitere, unkontrollierbare Vorfälle die Begleitpersonen,
den Rahmen enger zu ziehen
und das entwürdigende Schicksal, jemanden
dauerhaft zu betreuen, als das Beste zu
wollen.
Psychisch krank zu sein wurde anerkanntes
Problem, schuf eine medizinische
Fachrichtung. Diese will sein,
wie die Kollegen in der richtigen
Medizin. Wir messen oder probieren
zu analysieren, was im Gehirn eines
Kranken passiert. Die Ergebnisse
werden mit denen anderer Kranken
verglichen. Eine Liste der Erkenntnisse
kann in Relation zum Verhalten
strukturiert werden. Nun möchte
eine grundsätzliche Einordnung
oberhalb und die jeweils differenzierte
Untergruppe zur Diagnostik formuliert
werden; beispielsweise der schizophrene
Formenkreis. Dann entwickelt man eine
Medikation und redet, entwickelt Aufgaben
und Verhaltensmaßnahmen. So werden Äpfel
mit Birnen verglichen: Nehmen wir an, wir
wüssten genau, was im Gehirn bei einer
Psychose falsch läuft beim Dopamin. Dann
entspricht diese Beobachtung der vom Wirken
des Fiebers bei einer Infektion. Während
wir dort unterscheiden können, ob Bakterien
ursächlich sind oder ein Virus, weiß kein
Psychiater die genaue Ursache einer Psychose
einzugrenzen, das auslösende aktuelle
Geschehen in Relation zum Erlebten, eine
nicht auszuschließende erblich bedingte
Komponente. Da sind individuelle Motive,
und diese können nicht ein greifbares Ding
sein, wie ein Gedächtnis zwar lokalisiert
wird, aber seine Inhalte nur ungefähr beschreibbar
sind. Eine individuelle Benutzungsweise
des Gehirns, unter Verwendung
unbekannter Inhalte am gemessenen Ort
sind eine dürftige Bestandsaufnahme. Ein
krankes Gehirn mag Fehlfunktionen aufweisen.
Deswegen kennen wir die Dinge, die
dort abgespeichert wurden, noch lange nicht
und können nicht voraussagen, zu welchen
Kombinationen der Patient neigen wird, wie
er reagiert, wenn weitere Ereignisse relativ
zu seinem Handeln geschehen.
Der gut behandelbare Traumakomplex
sollte nachdenklich machen. Eine Vergewaltigung
oder das Dabeisein am Flugzeugabsturz
zeigen, dass Befürchtungen die
Fantasie beflügeln. Diese visionäre Kraft
kann anschließend unbeherrschbare Wege
einschlagen. Menschen werden handlungsund
arbeitsunfähig,
wenn entsprechende
Erlebnisse verstören.
Die Gründe,
Angst nicht zu
erkennen, weil keine
Vergewaltigung
beschreibbar ist und
die Auswirkungen
auf das eigene System
nicht spüren zu
können, weil Furcht
sich maskiert, könnten
am Besten gelöst werden, wenn wir Mittel
nutzten, individuelle Muster zu erkennen
und selbst auflösen. Natürlich kann es eine
Hilfe sein zu reden. Nachts im Bett ist man
aber allein mit sich und der Furcht.
Menschen neigen dazu, sich auf das zu konzentrieren,
was sie tun. Das ist nicht selten
ein fixierter Tunnelblick, nur wie durch ein
kleines Guckloch informiert, eilig voran zu
machen. Obwohl unsere Informationen vom
Drumherum immer eine Selektion sind, die
so vieles gar nicht miteinbeziehen kann, weil
wir schlicht nicht wissen, was unsretwegen
passiert und was nicht, wählen wir je nach
der momentanen Einschätzung eine Version
der Realität, die augenblicklichen Erwartungen
entspricht. Das Wirklichkeitsbild kann
nur so gut sein wie unsere Kommunikation
und Reflexion der Umgebung, in Relation
zur Erwartungshaltung, was alles bedeutet.
Statt nun der Einbildung zu folgen, etwas
begriffen zu haben, wäre es möglich wahrzunehmen,
wer und wo wir sind und wie sich’s
anfühlt, innezuhalten, neu abzuwägen. Das
kann jeder Gesunde.
Anstelle sich mit dem Arzt, seiner Medizin
und der zugeschriebenen Diagnose zu beschäftigen,
würden Kenntnisse des eigenen
Empfindens nützen. Diese spürbar zu machen,
wäre die Aufgabe eines Trainers. Eine
Krankheit als solche anzunehmen macht die
Lage kaum gut. Ein Stigma ist nicht hilfreich.
Die eigene Intelligenz wieder nutzen zu
können, könnte wirkliche Besserung bringen,
individuelle Wertschätzung möglich machen.
Diesen Weg muss ein Betroffener selbst
finden, und das ist nach rund hundert Jahren
seit Freud traurig.
Niemand kann Gott verprügeln oder der
Welt selbst einen Tritt verpassen nach einer
unfassbaren Katastrophe. Das mag der Kern
eines Traumas sein, hilflos und überfordert
waren wir. Einem Vergewaltiger gegenüber
hätten wir uns wehren können; die Frage
nistet sich ein, warum taten wir’s nicht? Als
Kind waren wir dem Einfluss des Elternhauses
ausgesetzt und dieses war schlecht, hat
uns überfordert und verwirrt, das kommt vor.
Niemand kann in die Vergangenheit reisen
und sie korrigieren. Das mag ein Problem
sein? Menschen werden durchgängig nach
einer OP, das ist wie eine Psychose. „Delir“
ist ein modernes Wort dafür, „rallig“ sagt die
erfahrene Schwester der Anästhesie. Eine
Schwangerschaftsdepression nimmt schon
mal dieselben Züge an. Eine einmalige
Episode meistens, während der geübte Schizophrene
sein Leben lang Wiederholungstäter
werden kann, Täter gegen sich selbst und
gegen andere.
Gewalt ist zunächst einmal ein Teil dieser
Welt. Insofern ist sich zu wehren legitim. Die
Zivilisation verlangt uns einiges an Stil ab,
das zu tun. Verfügbare Mittel gegen Gewalt
und Überforderung sind, den eigenen
Angriff zu wagen oder voller Körperspannung
zu warten, bis es vorbei ist.
Schließlich kann uns gegeben sein
wegzulaufen, statt sich zu wehren.
Dreimal selbst Gewalt resp. Kraft
stehen dem Gesunden zur Verfügung,
wenn Angst das beherrschende Gefühl
ist: Spannung im Leib erzeugen,
Muskeln zur Flucht in Höchstleistung
versetzen oder selbst schlagen,
treten, kratzen, beißen.
Nov 13, 2021 - Nur ein Traum 133 [Seite 132 bis 134 ]