03.01.2022 Aufrufe

Blogtexte2021_1_12

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

damals ein Studium

im Bereich

Vermessung begonnen,

das sie

nie beendet hat.

Es erinnert mich

gern daran, dass

meine Mutter

wollte, ich solle

Zahntechniker

werden, warum

bloß?

An dieser Stelle

wird es Zeit, den

Bogen noch ein

wenig größer zu

spannen. In einer

Art Umlaufbahn,

das Thema

einkreisend wie

bei den Planeten, muss diese Geschichte

erzählt werden, damit alle wesentlichen Elemente

enthalten sind. Wie ein Busfahrer, der

auf seiner Route keine Haltestelle auslassen

darf, möchte ich Vergangenheit mit der

Gegenwart verweben. Jetzt ist es also nötig,

nachdem der Planet und meine maritime

Vorgeschichte mit dem Großvater skizziert

sind, den Philosophen Karl Popper zu Wort

kommen zu lassen. Es gefällt mir, ihn noch

einmal zu zitieren, wie bereits in einem

anderen Beitrag. Popper stellt die Theorie

richtig, räumt mit der Überzeugung auf, wir

sähen etwas und reagierten. Der kluge Autor

macht deutlich, dass der Spaziergänger den

Wald vor Bäumen nicht bemerkt. „Oh wie

schön die Tanne“, sagt er, aber ein Förster

sieht anderes.

# Dass die

Wissenschaften,

wie schon die

griechischen Philosophen

sahen,

vom Problem,

von der Verwunderung

über

etwas ausgehen,

das an sich

etwas Alltägliches

sein kann,

aber für den

wissenschaftlichen

Denker eben zur Verwunderung,

zum Problem wird, das habe ich schon am

Anfang angedeutet. Meine These ist, dass

jede wissenschaftliche Entwicklung nur so

zu verstehen ist, dass ihr Ausgangspunkt

ein Problem ist oder eine Problemsituation,

das heißt, das Auftauchen eines Problems

in einer bestimmten Situation unseres

Gesamtwissens.

Dieser Punkt ist von größter Bedeutung. Die

ältere Wissenschaftstheorie lehrte – und sie

lehrt es noch immer –, dass der Ausgangspunkt

der Wissenschaft unsere Sinneswahrnehmung

oder die sinnliche Beobachtung

ist. Das klingt zunächst durchaus vernünftig

und überzeugend, ist aber grundfalsch. Man

kann das leicht durch die folgende These

zeigen: ohne Problem keine Beobachtung.

Wenn ich Sie auffordere: „Bitte, beobachten

Sie!“, so sollten Sie mich, dem Sprachgebrauch

gemäß, fragen: „Ja, aber was? Was

soll ich beobachten?“ Mit anderen Worten,

Sie bitten mich, Ihnen ein Problem anzugeben,

das durch Ihre Beobachtung gelöst

werden kann; und wenn ich Ihnen kein

Problem angebe, sondern nur ein Objekt, so

ist das zwar schon etwas besser,

aber keinesfalls befriedigend.

Wenn ich Ihnen zum Beispiel

sage: „Bitte, beobachten Sie Ihre

Uhr“, so werden Sie noch immer

nicht wissen, was ich eigentlich

beobachtet haben will. Wenn

ich Ihnen aber ein ganz triviales

Problem stelle, dann wird die

Sache anders. Sie werden sich

vielleicht für das Problem nicht

interessieren, aber Sie werden

wenigstens wissen, was Sie

durch Ihre Wahrnehmung oder

Beobachtung feststellen sollen.

Als Beispiel könnten Sie das

Problem nehmen, ob der Mond

im Zunehmen oder Abnehmen ist; oder in

welcher Stadt das Buch, das sie gegenwärtig

lesen, gedruckt wurde. (Karl R. Popper, Alles

Leben ist Problemlösen, Piper 1996).

Nun habe ich, was Popper ausführt, gerade

selbst erlebt! Der besondere, wissenschaftliche

Denker, von dem der kluge Analyst

berichtet, bin ich gerade selbst gewesen. In

dieser zufälligen Situation, geadelt durch

die persönliche Erinnerung, konnte ich

genießen, was jemand anderes nicht wahrgenommen

hätte. Geprägt durch das Wissen

meiner Jugend, aber unvorbereitet, damit

konfrontiert zu werden, trottete ich in den

Tag. Das war am Montagmorgen. Ich stehe

gern früh auf. Es ist also kurz nach halb

sieben, als ich mit einem frisch gekochten

Becher Kaffee noch im Bademantel die Treppe

rauf ins Atelier komme. Ich betrete unser

Dachgeschoss, wie es auf etlichen Bildern

der Webseite online

abgebildet ist (und

deswegen unnötig,

meine unordentliche

Arbeitshöhle weiter

zu beschreiben). Ein

schöner Morgen

deutet sich an. Es

ist noch dunkel, und

als Erstes öffne ich

das Westfenster,

um zu lüften und

einen Blick auf die

Sterne zu genießen.

Der Mond hängt im

Westen rum und

versaut die Nacht mit seinem Licht. Der Winter

ist am Himmel um diese Uhrzeit bereits

am Davonlaufen. Orion hat den Meridian

schon überquert, noch bevor Weihnachten

überhaupt ein Thema ist. Es kommt eben

immer auf den Zeitpunkt der Betrachtung

an. Ein Wintersternbild am Abend ist keines

im Herbst am Morgen. Jetzt klettert vor der

Sonne bereits der Frühling hoch, und der

Löwe beherrscht den Südosten.

Da gehe ich nun hinüber,

mache auch das Velux der

Gegenseite auf. Zwischen dem

Giebel oberhalb vom „Lindos“

mit seinen beiden Fenstern,

der Satellitenschüssel darauf

und dem Hochhaus links, ist

eine breite Lücke zwischen

verschiedenen Gebäuden

drumherum geblieben. Das

freie Ende gestattet einen

weiten Blick zum östlichen

Horizont. Hier beginnt, hinter

niedrigen Bäumen versteckt, nach wenigen,

davon verdeckten Häusern, dem alten Dorfkern

von Schenefeld, gleich die Weltstadt

Hamburg. Es fängt an, hell zu werden. Die

Morgendämmerung kündigt sich an, und

genau in der Mitte dieser kleinen, frei bis

ganz nach unten gebliebenen Himmelsstrecke

im Osten, steht ein magisch funkelnder

Lichtpunkt. Nicht besonders hoch über den

Bäumen und einem Wohnhaus an der Bushaltestelle

Dorfplatz, hinter dem Flachdach

der Bäckerei.

Ein startendes Flugzeug von Fuhlsbüttel,

denke ich. Ich kann mich noch gut daran

erinnern, meinen Eltern einmal (stolz auf

meine Kenntnisse), die Venus am Himmel

präsentiert zu haben. Etwa dreißig Sekunden

hielt diese Vision stand, und mein Vater

staunte: „Die ist aber hell!“ Dann bog „sie“

links ab, nahm noch Geschwindigkeit auf

und bald kamen rot und grün die Seitenlichter

raus.

Das war Montag anders. Das musste ein

bekannter Stern sein oder ein Planet? Dazu

gibt es doch das Internet, Fragen dieser

Art zu klären, denke ich und finde heraus,

dass da eine gute Morgensichtbarkeit vom

Merkur just dieser Tage erwartet wird. Aus

verschiedenen Beiträgen wird klar, dass der

unscheinbare Planet ausnahmsweise so

hell scheinen wird wie ein gut erkennbarer

Stern!

Das ist der Moment an Popper zu erinnern,

der uns darauf hinweist, wir gingen nicht

primär von einer Beobachtung aus, um eine

Forschung zu beginnen. Es liegt ja eigentlich

nahe. Zunächst sehe ich das Objekt am

Himmel, dann beginne ich nachzurechnen,

mache kleine Skizzen, ein Foto vom Himmel,

drehe an meiner Kosmossternkarte, suche

die Ephemeriden raus und prüfe, ob das

wirklich unser kleiner, sonnennächster

Planet Merkur ist, der dort so schön im

Morgenlicht funkelt? Nein, es ist tatsächlich

anders. Nur ich, als besonderes Individuum

mit persönlicher Erfahrung und speziellen

Interessen, habe dieses „Problem“ mit dem

Lichtpunkt. Ich wecke meinen Sohn: „Schau,

komm schnell mit ins

Arbeitszimmer!“, fordere

ich aufgekratzt. Der

ist nur genervt, hätte

noch eine halbe Stunde

schlafen können,

bis er los muss: „Der

Merkur, das ist aber toll

Papa.“

Ich denke an meinen

Opa Heinz. Ich weiß

noch genau, dass wir

darüber sprachen. So lange ist es her. Er

wäre auf „Milwaukee“ oder einem anderen

Schiff der Hapag gefahren als dritter Offizier

Okt 29, 2021 - Merkur 125 [Seite 124 bis 126 ]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!