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Mauern im Kopf?

Sep 30, 2021

Da habe sich viel aufgestaut,

heißt es oft, und

dann sei die Aggression

losgebrochen! Wir dürfen

skeptisch sein, wenn

diese Argumentation ins

Feld geführt wird. Wir

bemühen ein Bild, suchen

nach einem Erklärungsprinzip.

Ist unser Kopf ein

Haus mit Kammern und

Staudämmen? Wenn das

Gehirn eine Kommode mit

Schubladen wäre, müsste

man dieses mit zu vielen

Inhalten schnell an den

Rand der Belastbarkeit

bringen. Dann wäre der

Kopf, nach sagen wir der

dritten Fremdsprache, die wir lernten, voll,

wenn es ein kleines Gehirn ist, und zu musizieren

könnten wir nicht auch noch lernen.

Es sei denn, wir löschten unser Spanisch und

fänden so Raum, das Klavierspielen auszuprobieren,

schmissen anschließend, von der

Musik begeistert, weitere Fähigkeiten in den

geistigen Mülleimer: Nun hätten wir Platz

und könnten noch Trompete lernen?

Die Muttersprache auszulöschen und für

immer die Klappe halten, das wünscht sich

mancher, dem was sauer aufstößt. Den

Mund halten, ist möglich. Die Augen haben

Deckel. Was wir nicht sehen wollen, schauen

wir nicht an. Menschen haben die Wahl. Sie

müssen nichts riechen, das stinkt, kneifen

die Nase mit den Fingern zu. Der liebe Gott

erlaubt es: Man kann und darf schweigen,

schlafen, hält sich die Ohren zu, wenn es

laut wird. Das muss man nicht üben. Ein

Lebewesen wie unsereiner kann darüber

verfügen und wird sich gegebenenfalls

schützen, bestimmte Funktionen eine Zeit

lang auszusetzen. Warum müssen wir Luft

holen, wieder ausatmen? Essen und auf das

Klo gehen; der Zwang zu leben: Wir können

unsere Atmung nicht willkürlich pausieren

lassen, für viele Stunden, und anschließend

nach Gutdünken wieder aufnehmen. Nicht

mehr weiter atmen nach Belieben: Warum

geht das nicht? Selbstmord wäre einfach.

Das Leben sei ein Geschenk, heißt es. Eines,

das man nicht ablehnen darf. Vieles wird

gesagt, das bei näherer Prüfung ins Wanken

gerät und eine Kehrseite der Medaille zeigt.

Wie bei einer Mauer. Schöne Fassade,

hinten bröckelt der Putz. Einige möchten

wissen, wie es „drüben“ sein mag, andere

leben nur so dahin.

Das Leben sei „keine Errungenschaft“,

meint der Vater eines Freundes. Mit

siebenundneunzig beurteilt er vieles

anders. Atmen geschieht, ohne dass wir’s

uns vornehmen müssen. Die Freiheit,

ein Mensch zu sein, hat ihren Rahmen

und der begrenzt einiges: Wir können

Unangenehmes nicht vergessen, wie wir

den Müll im Haus raustragen und für

immer wegwerfen. Hätten wir als Gedächtnis

eine Kiste voller Sachen, könnte

man diese samt Erinnerungen anderen

verpflanzen wie die fremde Niere. So

einfach ist es nicht.

Der Wunsch, das Gehirn zu ändern, zumindest

seine Funktionsweise, ist möglicherweise

nachvollziehbar, und zwar immer

dann, wenn ein Mensch unvernünftigerweise

Dinge tut, die ihm schaden. Warum sollte

man gegen sich selbst handeln?

Trotzdem ist es nicht

ungewöhnlich, dass Menschen

sich, oft unbewusst,

Schaden zufügen. Psychisch

Kranke tun das. Nicht nur

die Jugendlichen, die sich

ritzen. Jeder psychisch

kranke Mensch macht genau

genommen dumme Sachen.

Statt dort, wo es nötig wäre,

auf den Putz zu hauen,

handelt ein Verstörter gegen

den eigenen Apparat. Davon

mal abgesehen, dass es

unendliche Spielarten dieser

Falschverwendung gibt und

entsprechend viele Diagnosen

und Behandlungsansätze,

hat diese Krankheit

mit ihren zahlreichen Macken einen

gemeinsamen Nenner. Könnte ein Arzt oder

sonst wer das Gehirn des Betroffenen zügig

direkt korrigieren, in die normale Funktion

eines gesunden Denkapparates nach dem

Motto „zurücksetzen“, wäre es bestimmt

eine medizinische Sensation, die durch alle

Medien ginge.

Der Denkfehler beginnt dort, wo gesunde

Normalität gegen kranke Disfunktion zur

Basis unserer Logik wurde. Es scheint einfach,

psychische Krankheiten zu bemerken

und ihnen

zahlreiche

Namen zu

geben. Auf

der anderen

Seite steht

dann immer

die eine

Normalität.

Oder eben

das Richtige,

das Gesunde.

Was

normal oder

gesund ist,

sollte zuerst

gefragt

werden. Die

Antwort

dürfte so

vielfältig

und individuell sein wie es Menschen gibt.

Ein Gesunder grenzt sich leichthin ab.

Dieser weiß nicht, dass er oft nur reflexartig

Situationen managt, indem er Störendes

beseitigt oder andere zurückweist. Jeder

von uns ist täglich unendlichen Ablenkungen

ausgesetzt. Nachdem zunächst die

Schwierigkeit, sich für eine Handlung zu

motivieren, aufgelöst wird, beginnen wir

mit einer Sache. Sofort ist eine gewisse

Konzentration unumgänglich und die ersten

Fehler passieren. Jede Tätigkeit gelingt nur

zum Teil. Wollte man in allem die vollständige

Perfektion erreichen, also auch bei ganz

alltäglichen Dingen, ist wohl anzunehmen,

schon deswegen verrückt zu werden.

Da gibt es welche, die nehmen vieles nicht

so genau. Andere finden es reizvoll, an

gewissen Beschäftigungen detailverliebt

herumzupusseln, dass man nur staunen

kann. Beides ist nicht mehr oder weniger

gesund. Man kann sich an bestimmten

Belästigungen stören und doch dieselben

bei anderen auslösen! Ohne mit der Wimper

zu zucken. Die Gesundheit besteht darin

und das Normale ist, dazwischen bildlich

gesprochen eine Mauer im Kopf zu ziehen.

Natürlich wissen wir heute viel über das

Gehirn an sich. Abgrenzungen zwischen

individuellen Sachverhalten und Emotionen,

Türen, die Gedanken wie Querverbindungen

erlauben; ein Problem ist, nicht erklären zu

können, woraus Zement und Ziegel sind, die

unser Denkapparat verwendet. Das löst das

Individuum individuell. Nicht wenige treten

anderen auf die Füße und schnauzen im

nächsten Moment einen Fremden

an, nicht zu schubsen. Das ließe

sich leicht mit einigen Beispielen

illustrieren.

# 1. Beispiel, Doofe beschuldigt

Doofere

Im Café sitzend, bin ich Zeuge

einer Unterhaltung am Nachbartisch.

Das ist unumgänglich, man

hört leicht mit, wenn man allein

ist und die Tische dicht stehen.

Eine kleine Familie, Tochter ungefähr

zwölf oder vierzehn Jahre alt

mit ihren Eltern, sitzt in meiner

Nachbarschaft. Die Mutter regt

sich auf. Sie war mit einer Sachbearbeiterin

irgendwo im Widerpart

gewesen, möglicherweise am

Morgen oder vor kurzem, jeden-

Sep 30, 2021 - Mauern im Kopf 111 [Seite 111 bis 114 ]

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