Blogtexte2021_1_12
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Ellenbogen erinnere ich glänzend, blank
gescheuert. Irgendwie schief hing dem
Mann eine Schulter. Der lief vom Gangbild
tatsächlich wie ein schlampiger Soldat,
aber mit einer Hand in der Hosentasche.
Solche gab es in den Achtzigern noch einige.
Das ist quasi lässige Zackigkeit; das kann
man einem jungen Menschen von heute
kaum begreiflich machen. K. wurde von uns
gesiezt. Versuche, ihn duzen zu dürfen, wie
das die „große“ Dagmar probierte (wir hatten
zwei), weil es bei Angelika (der Klassenlehrerin)
schließlich klappte, scheiterten.
Ingeborg (Mathe) schlug das „Du“ von sich
aus vor, ein Dammbruch. Beim Bockelmann,
der Bo-okelmann genannt werden wollte,
musste ein „Sie“ unbedingt sein. Da kam
man ja gar nicht auf die Idee, ihn deswegen
anzusprechen.
Die (echte) Freundin von K. war auch groß
gewachsen, überragte ihn deutlich. Die beiden
liefen Händchen haltend durch Wedel,
und es sah ein wenig drollig aus.
Ein überzeugter SPD-Wähler.
„Die anderen
kann man ja nicht
wählen.“
Im Studium ging
das weiter. Einmal
saßen meine Professoren
in einer
Bar mit uns Kommilitonen
rum, und
Tom Knoth fing an,
über das „Hamburger
Abendblatt“
zu spotten. „Die
haben ein „Wochenend-Journal!“,
meinte er und
half nach: „Wisst
ihr, was ,Journal‘
heißt?“ Aber er
fragte nicht in Richtung der Studenten. Und
sein Freund, mein Professor Otto Ruths,
nickte nur. „Erscheint täglich, wird täglich
geführt. Ein Journal ist dem Wort nach eine
tägliche Aufzeichnung“, meinte der Alte. „Ja“,
sagte Otto, und sie witzelten weiter über die
Springer-Presse und Kohl.
Was der alles falsch mache.
Otto ist inzwischen auch tot, wie so viele.
Und manchmal fehlt er ein wenig. Ich habe
mich so gefreut, als Gerd Schröder Kanzler
wurde! Da war Alsterpokal, und wir saßen
nach der Preisverteilung beim
HSC rum. Es gab Großbildviewing
in Ledersesseln. Auch das
Ende, die später sogenannte
„Elefantenrunde“ im Fernsehen
sah ich live. Das war nach dem
hauchdünn verlorenen Votum
und Abwahl mit dem Desolaten,
der meinte, weiter Kanzler
bleiben zu können und Angela
Merkel müsste unter ihm mitregieren.
Ich war fasziniert. Julien
(vom Dorfcafé) fand, Schröder
wäre betrunken gewesen und
nahm den Gestrauchelten in
Schutz. Schröder hatte Angela
Merkel nicht ernst genommen?
Zu dieser Zeit wohnte ich schon
nicht mehr in Bahrenfeld,
kann mich aber gut an junge
„Scholzplakate“ erinnern. Der sah so
sympathisch aus. Nach dem Auge
entschied ich auch, Christiane zu
wählen, unsere Bürgermeisterin. Die
Konkurrentin von der CDU war vergleichsweise
wenig attraktiv. Und
so etwas zuzugeben, als Schenefelder,
mag dumm sein. Ich habe
schon öfter zu viel geredet? Gerd
Manthei, unser rotes Urgestein hier,
erinnert mich gelegentlich daran:
„Man müsse nicht alles sagen!“ Eine
rückwärtsgemeinte Mahnung? Das
fand Kalle auch einmal (das ist der
Obelix hier, das Wildschwein vom
Dorf, aber der konspiriert mit den Römern),
und den mochte ich früher. Ein Fehler! Das
war bestimmt die viel größere Dummheit,
Menschen zu vertrauen, die dem Staat
(und Nachrichtendienst) nahe sind, familiär
und beruflich verbunden, als zu sagen, was
gesagt werden muss. Mir wird wohlmeinend
angedeutet, ich sprach aus, was „man“ nicht
sagt? Einige machten mich schon darauf
aufmerksam. Sie sagen aber nicht,
was genau es war, das ich so naiv
ausplapperte.
Auf Nachfrage biegen sie diese
Gespräche immer weg.
Ich verbrachte viel Zeit mit Christiane,
Umarmung und Kaffeetrinken,
lange E-mails schrieben wir
uns. Politik war immer wichtig.
Meine Fehler kenne ich nur zu
gut und lerne kreative Sachen
auf neue Weise zu tun, aber in der
Politik muss man Versagen
anders behandeln, als es für
uns Künstler notwendig ist.
Das ist das Gegensätzliche zur
Kunst. Es ist genau andersherum.
Ein Künstler entwickelt
sich menschlich weiter, lernt.
Ein Politiker definiert seine Vergangenheit
neu. Während wir Kreativen an uns
selbst arbeiten, ist die Tätigkeit des Parteimitgliedes
sinngemäße Neudeutung
zum Wohle der Genossen. Maler stellen
die Umgebung wie Theater dar. Politiker
sind Berufsschauspieler und rücken ihre
Maske besser zurecht. Wir lernen, Fassaden
wegzunehmen, Führungskräfte mauern sich
ein, reden volksnah vom Podest.
Der große Kollege in Hamburg macht es
vor. Ziele stecken und sie zu erreichen,
funktioniert je nach Berufung verschieden.
Ich male meine Ideen anders. Der
feige Abgang nach Berlin, die Unfähigkeit
Schwachpunkte menschlich zu kommentieren,
die Erkenntnis, dass der tatkräftige (und
heute selbstbewusste) Genosse Tschentscher
schon in Hamburg aktiv war, bevor er selbst
Bürgermeister wurde; Olaf Scholz wähle ich
nie wieder. Nach dem verkackten Gipfel war
und ist es aus mit meiner Sympathie.
# Dauerhaft.
Übermorgen ist Wahltag. Das wird das erste
Mal in meinem Leben sein, dass ich Nichtwähler
des Deutschen Bundestages bin.
Eine Entfremdung von der SPD hat schon
längst stattgefunden. Ich erkannte in Merkel
eine fähige Kanzlerin und wählte sie nach
der Flüchtlingskrise aus Überzeugung. Mir
gefiel gerade, dass diese Frau in der Lage
gewesen ist, ihre Richtung der Politik zu
ändern. Das Ende
mit Kabul und
ihr ständiges
Fortbleiben ist
erbärmlich. (Ich
habe in Schleswig-Holstein
Daniel Günther
gewählt, weil ich
es unmöglich
fand, den meiner
Auffassung nach
abgehobenen
und eingebildeten
Albig zu
unterstützen. Diese Wahl bereue ich nicht).
Sechzehn Jahre Merkel, ich war dabei. Ich
fand, Steinmeier und -brück, Martin Schulz
könne man nicht unterstützen. Keine Führungskräfte.
Politik?
Das Ende in Afghanistan ist beschämend.
Die in der Organisation des Rückzuges
eingebundenen Minister Kramp-Karrenbauer
und Heiko Maas bleiben?
Es macht nur fassungslos.
Was die Leute über Olaf Teflon sagen,
erfahre ich durch Christiane am eigenen
Leib: Kunst und Politik sind gegensätzlicher,
wie sie nicht sein können. Ich wähle nie
wieder eine Politik, egal welche Partei und
schon gar nicht die SPD. Die ganz bestimmt
nicht. Als Maler lernte ich zu malen. Eine
Bürgermeisterin versteht zu verwalten und
ihre Politik
als Handwerk,
alles
im für sie
nutzbringenden
Sinn
darzustellen.
Einfluss
nehmen, wo
der Glanz
des Amtes
suggestiv
wirkt, das
kann sie. Ein
empathisches Lächeln auf Knopfdruck reproduziert,
das manche Merker parieren lässt?
Sie hat es drauf: „Herzlichen Glückwunsch!
und noch einen schönen Tag“ (ein tolles
Leben).
Sep 24, 2021 - Gegensätze 108 [Seite 107 bis 109 ]